Rich Kids mit Reclam-Heft

von Michael Wolf

Berlin, 14. Oktober 2016. Iphigenie ist ein Miststück. Das steht so nicht bei Goethe. Er war Optimist. Seine Version des Mythos zeigt die Befreiung des Menschen vom Schicksal und seine Hinwendung zu einer weltlichen Ordnung. Mit Iphigenie kommt das Menschengeschlecht zu sich. Goethes Klassiker zu inszenieren heißt: ein Menschenbild entwerfen. Und bei Ivan Panteleev ist der Mensch ein Miststück.

Alpina-weiße Tabula Rasa

Dabei ließe sich die Geschichte auch ganz nett erzählen: Ein Mädchen aus einer von den Göttern verfluchten Familie landet unfreiwillig auf einer Insel in der Fremde. Dort angekommen wird sie nicht wie sonst üblich geköpft, sondern bekommt einen Job als Priesterin der Göttin Diana. Und mehr: Der König will sie unbedingt heiraten. Aber Iphigenie will zurück nach Hause und lässt ihn immer wieder abblitzen. Dann kommt ihr Bruder, um eine Statue zu rauben und dadurch den Fluch auf seiner Familie zu lösen. Iphigenie erklärt dem König der Insel alles und bringt ihn durch ihre Aufrichtigkeit schließlich dazu, sie unbeschadet gehen zu lassen. Außerdem fällt dem Bruder zwischendurch ein, dass er gar nicht die Statue, sondern seine Schwester mit nach Hause nehmen muss, um den Fluch der Götter zu brechen. Happy End!

Iphigenie3 560 Arno Declair hDas weißmalerische "Iphigenie"-Ensemble in Vollbesetzung © Arno Declair

Aber nicht an diesem Abend. Denn die Götter könnten gar nicht unausstehlicher sein, als die Menschen, die sich hier neu entwerfen. Am Anfang machen sie erst mal Tabula Rasa, steigen aus der ersten Reihe auf die Bühne und streichen alles, was vorher schwarz war, trotzig alpina-weiß.

Alles ist übrigens nicht viel. Der Ausstatter wäre nicht Johannes Schütz, hätte er die Bühne nicht auf einen drei Meter tiefen Guckkasten reduziert. Darin: ein paar Stühle, ein Transistorradio und ein grobes Holzgestell als Altar der Göttin. Obwohl: Nein, es ist schon nicht mehr Dianas Altar. Fast den ganzen Abend suhlt sich Iphigenie (gespielt von Kathleen Morgeneyer) dort oben genüsslich in ihrem Unglück. Auch ihr Bruder Orestes scheint sehr zufrieden mit seinem verfluchten Schicksal. Moritz Grove gibt ihn als Streber im Fach Selbstverachtung. Nicht ganz zu Unrecht, immerhin hat er seine Mutter getötet.

Die Menschwerdung ist an diesem Abend die Geschichte einer sehr schwierigen Pubertät, ein Kampf der Generationen. Oliver Stokowski als König Thoas versucht väterlich das störrische Biest Iphigenie zur Vernunft und in sein Bett zu bewegen. Ihm zur Seite steht Barbara Schnitzler, die als Diener des Königs wie eine strenge Mutter mit Daddy's Girl ins Gericht geht: "Geh gefällig ihm den halben Weg entgegen." Vergebens. Iphigenie lässt trotzig die Arme hängen.

Die Verachtung

Es ist ein statischer Abend. Viel Handlung gibt Goethe seinen Figuren nicht mit. Lange Viertelstunden erzählen die Schauspieler bewegungslos den Hintergrund des Mythos. Ziel scheint zu sein, möglichst wenig Kalorien zu verbrennen. Nur ganz kurz kommt Leben in die Bude: Orest und Iphigenie raufen kindisch miteinander, er schmiert ihr Farbe ins Gesicht. Sie sehen ein bisschen aus wie Clowns diese Menschen. Böse Clowns, die das tragische Vermächtnis ihres Geschlechts an den Höchstbietenden verkaufen, wie gerissene Jungfrauen ihre Unschuld. In aller Zerknirschung über den Fluch der Familie, allem Wehklagen liegt eine unterschwellige Verachtung.

Panteleev vertraut ganz auf diesen Verrat der Figuren an ihrem Text. Er hat seinen Schauspielern harte Arbeit an der Sprache verordnet. Das geht nicht immer gut. Eher nervig als erhellend, dass Camill Jammal (als Orests Freund Pylades) einen geheimen Plan in den Saal brüllt statt ins Ohr flüstert. Auch Kathleen Morgeneyer würde man nach fünf Minuten aggressiven Jammerns gern einen Spielanlass zustecken. Beeindruckend dagegen, wie Moritz Grove es schafft, seine Monologe vorzutragen, als hätte nicht er, sondern seine Figur sie auswendig gelernt. Orest rattert das ganze, immer gleiche blutrünstige Tragödienblabla runter, als läse er aus dem Reclam-Lektüreschlüssel vor.

Die Menschen haben die alte Ordnung der Götter satt und nehmen sie nur an, weil sie längst wissen, dass deren Zeit abgelaufen ist. Sie haben von Anfang an gewonnen – und zeigen am Ende ganz unverhohlen ihre hässliche Fratze. Zum Abschied demütigt Iphigenie ihren Gönner Thoas. Neben ihr grinsen Pylades und Orest wie zwei Rich Kids, die sich alles erlauben können. Ein böser Streich.

 

Iphigenie auf Tauris
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Ivan Panteleev, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Sound-Design: Martin Person, Licht: Robert Grauel, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Moritz Grove, Camill Jammal, Kathleen Morgeneyer, Barbara Schnitzler, Oliver Stokowski.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Die Schauspieler übermalern die Düsternis der Bühne mit einem Weiß, "das gar nicht erst so tut, als wäre es in der Lage, irgendwie strahlend und makellos zu wirken", so Christine Wahl im Tagesspiegel (16.10.2016). Diese Handlung bleibe die äußerlich spektakulärste des kompletten Abends. "Panteleevs Zugriff ist szenisch so minimalistisch, dass man fast von einem Hörstück sprechen könnte." Er versucht, der Inkommensurabilität des Textes durch genaue Textarbeit gerecht zu werden, "die Interpretationsschnellschüsse wohltuend vermeidet, Widersprüche aushält und den klassischen hohen Ton gegenwartsdurchlässig macht, ohne ihn zu banalisieren". Das ist natürlich anspruchsvoll und als Versuch entsprechend selten geworden; nicht nur im Theater. An diesem Anspruch scheitern die Schauspieler, aber sie "tun das auf ungleich höherem Niveau als an den vielen (Kommensurabilitäts-)Abenden, die man sonst gern zu sehen bekommt."

"Frisch gestrichen! Das gilt an diesem Abend leider nur fürs Mobiliar", schreibt Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (16.10.2016). Ivan Panteleev lass den ganzen kompletten Kontext erzählen, man könnte auch sagen vortragen, "aber eben nicht spielen". Moritz Grove als Orest und Camill Jammal als Pylades sitzen sehr oft einfach nur auf zwei Stühlen in der Ecke. Und Iphigenie? Die habe  ganz am Schluss noch ihren großen Moment. "Ein toller Schauspielmoment, der aber die zwei zähen Stunden davor nicht aufwiegen kann."

In Ivan Panteleevs Inszenierung kenne "die Treue zum geliebten Text keine Grenzen", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen (17.10.2016). Penibel werde hier "Satz für Satz vorgetragen und in der Betonung bis auf die letzte Klangfarbe Acht gegeben. Aber mit jedem buchstabengetreu aufgesagten Satz" werde "das Verhältnis zwischen gesprochenem Wort und gefühlter Wirkung leidenschaftsloser. Bis am Ende nichts mehr übrig bleibt als reine, echolose Deklamation." Das sei "bei diesem Abend besonders schmerzlich, weil er mit einer unüblich gewordenen Ernsthaftigkeit und Konsequenz vorgeht, sich jedenfalls einmal nicht über den Text stellt und ihn auf zeitgemäße Pointen hin bürstet." Aber leider: "Keine Berührung, kein Satz trifft aufeinander."

Es werde "fast nur gesprochen, und das ist wunderbar", schreibt hingegen Hannah Lühmann auf welt.de (17.10.2016). Es sei herzöffnend, "wie es Panteleev und seinen Schauspielern (...) gelingt, das alles mit einem Goethe-Text, der neben der vielen weißen Farbe das einzige Spannungsmedium ist, über zwei Stunden lang nicht langweilig werden zu lassen. Das ist etwas, das es, verzeihen Sie die Altbackenheit, einfach derzeit doch am Theater viel zu selten gibt: Schichten abkratzende, Saiten zum Schwingen bringende Textarbeit."

"Die Szenen sind mehr austapezierte Thesen als Spielvorlagen, die Figuren mehr Statements als Bühnenmenschen", schreibt Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau (17.10.2016) und meint damit Goethes "Iphigenie" und nicht von Schirachs "Terror". Panteleevs Inszenierung wiederum sei "gegen das Stück gerichtet. Sie glaubt dem Text die Ideale der Menschlichkeit und Versöhnung mit keiner Silbe." Die Figuren stünden "nicht in einer trüben, dunklen Welt, der sie das Helle abringen, die äußere Dunkelheit ist zu ihrem Inneren geworden. Sie sind keine Befreiten, sondern Opfer. Ein Abend wie ein Trojanisches Pferd: außen herum sieht er wie das Zitat klassischer Formen aus, innen schlägt er wild um sich. Weiter kann man sich nicht von Goethe entfernen." Doch das Stück werde "nicht besser, wenn man gegen es aninsizeniert. Die Dialoge liegen wie staubige Felsblöcke im Raum, die Szenen leiden schwer unter ihrer Fußnotenhaftigkeit."

"Panteleev macht etwas, was fast schon störrischen Eigensinn beweist: Er spielt einen klassischen Text, ohne ihn zu kommentieren oder demonstrieren zu wollen, dass der Regisseur eigentlich klüger ist als der Autor", so Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (18.10.2016). Noch erstaunlicher als die Bescheidenheit vor dem Großklassiker sei, "dass diese Nicht-Interpretation dank der Schauspieler über weite Strecken funktioniert". So wirkten selbst die wie in Marmor gemeißelten Formeln nicht wie gestelzte Sentenzen, sondern wie Gedanken, die gerade erst entstehen. "So gekonnt die Spachbehandlung, so konfus und hilflos sind leider die szenischen Zeichen. Als Ausdruck größerer Erregung schmieren sich die Figuren gerne weiße Farbe ins Gesicht." Aber: Kathleen Morgeneyer trage den Abend, "sie befreit Iphigenie von der Leidens- und Menschheitsversöhnungsikone. Wir sehen einen lebendigen Menschen."

 

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