Sag zum Abschied leise Bobok

von Christian Rakow

Berlin, 1. Juni 2017. Nein, das ist nichts für schwache Herzen. Diese Wochen in der Berliner Volksbühne. Der letzte Frühling und lauter Abschiede. Von Pollesch, Fritsch, Marthaler, Castorf. Dernièren über Dernièren. Tränen, stehende Ovationen, wieder Tränen.

Auf welchen Brettern wird man diese Spieler wiederfinden: Frank Büttner, den Riesen mit dem großen Herzen? Margarita Breitkreiz mit ihrem schneidenden russischen Akzent? Mex Schlüpfer, den melancholischen Spaßmacher? Es sind Spieler, die den Unterschied machen, wenn sie oft von der Seite hereinkommen, Zäsuren setzen, Kanten schlagen, Texte wie Findlinge in den Raum wuchten. Die Ästhetik des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz, die sich stets gegen alle landläufige Virtuosität gesperrt hat, sie hing von solchem Können ab. Jetzt, da Frank Castorf als Intendant ungewollt ausscheidet, gilt es Ade zu sagen. Nichts für schwache Herzen.

Sprung ins kalte Wasser

Ein Herz für drei und überhaupt Nerven wie Drahtseile dürfte Daniel Zillmann haben. Zwei Tage vor dieser nun wirklich letzten Castorf-Premiere an der Volksbühne fiel Hendrik Arnst krankheitsbedingt aus. Zillmann sprang ein – und wird zum Glücksfall für diese Inszenierung. Im Gespann mit Souffleuse Elisabeth Zumpe, die jüngst in Herbert Fritschs Apokalypse Wolfram Koch durch endlose Textschluchten manövrierte, stemmt Zillmann große Teile dieses Dostojewskis.

Knappe drei Monate nach dem eigentlich schon als Finale angekündigten und tatsächlich fulminant geratenen Faust-Trip durch Europas Kolonialgeschichte war von "Ein schwaches Herz" nach Fjodor Dostojewski ein entspanntes Satyrspiel zu erwarten. Mit Zillmann wird das Satryrspiel zum Sturzflug ins Ungewisse, ins Leben als Live-Probe. Wundervoll, wie er ein panisches Antlitz unter Hochleistungsschweiß funkeln lässt, wie er Grandezza ins notwendig Defizitäre mischt. Man fühlt sich an den frühen Pollesch erinnert, an seine Überforderungssprechopern, die das Hinterherhecheln hinter dem Souffleurtext zum Sinnbild unserer Burnout-Arbeitswelt erhoben: Wo alle reibungslos performen, werden Versprecher und Ausrutscher zum Nachweis einer Restlebendigkeit.

schwaches herz 560 ThomasAurin uEin Ende mit Schrecken: Kathrin Angerer, Margarita Breitkreiz, Daniel Zillmann © Thomas Aurin

Womit man mitten in diesem Abend wäre. Frank Castorf spannt darin drei Werke zusammen: Den  sowjetischen Spielfilm "Iwan Wassiljewitsch wechselt den Beruf" (1973, Regie: Leonid Gaidai nach einem Stück von Michail Bulgakow), in dem ein spinnerter Ingenieur mit einer Art Zeitmaschine Zar Iwan, den Schrecklichen, in die Gegenwart beamt. Zudem gibt es Dostojewskis Erzählung "Bobok" (1873), in der ein Schriftsteller auf Friedhofsgräbern den Plaudereien toter Aristokraten lauscht. Und Dostojewskis titelgebende Novelle "Ein schwaches Herz" (1848): Dieses Herz gehört dem Schreiber Wássja Schumkoff, der sich frisch verlobt hat, aber das Glück nicht aushält und bald dem Wahnsinn verfällt, weil er glaubt, einen Schreibauftrag in höchster Zeitnot pünktlich abschließen zu müssen.

Der Schreiber ist ein Archetyp der literarischen Moderne: von Flauberts "Bouvard et Pécuchet" bis zu Melvilles "Bartleby". Für Castorf wird er zum Sinnbild des Künstlers, der nicht enden kann, der die Wirklichkeit einfängt, selbst wenn sie ihm nur das Unsinnswort "Bobok" (quasi: Blubbern, Blasenquatschen) offenbart. Die Kärrnerarbeit an der Écriture verlangt, dass man an diesem Abend durch viel flächigen Text hindurch muss und durch viel richtungsloses Parlando, das sich Castorfs Akteure im permanenten Wechsel zwischen den Vorlagen und den Rollen zuspielen.

schwaches herz 560a ThomasAurin uNina von Mechows Bühne im Korridor zwischen dem Publikum, am Tisch: Jeanne Balibar
© Thomas Aurin

Der große Georg Friedrich schnitzt mit seinem nasal angekitzelten Wienerisch den Schreiber Wássja als verschämten, weichen Kümmerling in den Saal, permanent befuchtelt von Wássjas besorgtem und überfordertem Freund Arkádij (Mex Schlüpfer). Jeanne Balibar kriegt große Partien als Häubchen-Verkäuferin von Welt. Sir Henry schneit herein, wiewohl – anders als jüngst mit dem unvergessenen "Osterspaziergang" des "Faust" – eher dekorativ.

Zum Abschluss einen Tee

Und Kathrin Angerer! Sie war dabei als Castorf mit "Dämonen" 2000 die Sturm-und-Drang-Jahre der Volksbühne hinter sich ließ und grandiose Dostojewskis in Serie raushaute ("Erniedrigte und Beleidigte", "Der Idiot"). Sie spielte mit Alexander Scheer und Sophie Rois in Dostojewskis Spieler, der das Ende der zähen Jahre 2004 bis 2011 (das "Lost Weekend" der Volksbühne) markierte. Heute ist sie für den nonchalant hingeworfenen Probenwitz dabei. Schon zum Auftakt: "Oh Mann, das kommt mir vor wie in Senftenberg" (in Anspielung auf Castorfs erste Arbeitsstelle als Dramaturg 1976 bis 1979). Sie sagt's zwischen Tischen, Sofas, Schränken, die Nina von Mechow wie vom Antikhandel geklaubt hat und nun mitten im Saal der Volksbühne aufreiht, während sich das Publikum zu beiden Seiten dieser Möbelkette auf den bekannt unwirtlichen Seesäcken lümmelt. Und Angerer kriegt das letzte Wort, beiläufig und berückend, so schwer im Leichten: "Tja, da mach ich uns mal einen Tee."

Aus Dankbarkeit, heißt es, sei der Schreiber Wássja verrückt geworden. Die Dankbarkeit für diesen Abend, für diese Zeit der Volksbühne, darf nicht die Sinne trüben: Die Inszenierung war fahrig, zerfahren, unfertig, stagnierend, mäandernd, wenngleich in ihrem Anliegen lesbar. Sie war kein Vergnügen, mit vier pausenlosen Stunden, die Blase drückte, die Bandscheibe schrie. Aber konnte es anders enden? Nach "Faust", nach dem Schlussakkord schlechthin? Castorfs Theater besaß stets eine andere Zeitlichkeit und die ultimative Freiheit, die Pointe zu versagen. Seine Leute spielten einfach immer weiter. Jetzt werden sie gehen, sollen sie nicht. Aber sie müssen.

 

Ein schwaches Herz
nach Fjodor M. Dostojewski
Regie: Frank Castorf, Raum: Bert Neumann, Bühne und Kostüme: Nina von Mechow, Licht: Rainer Casper, Videoregie/Kamera: Andreas Deinert, Kamera: Mathias Klütz, Adrien Lamande, Luna Zscharnt, Videoschnitt: Jens Crull, Maryvonne Riedelsheimer, Musik/Ton: Christopher von Nathusius, Tobias Gringel, Tonangel: Dario Brinkmann, Lorenz Fischer, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Kathrin Angerer, Jeanne Balibar, Margarita Breitkreiz, Frank Büttner, Georg Friedrich, Mex Schlüpfer, Sir Henry, Daniel Zillmann und Souffleuse: Elisabeth Zumpe.
Dauer: 4 Stunden, keine Pause

www.volksbühne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Hubert Spiegel von der FAZ (3.6.2017) stellt sich vor, wie Frank Castorf, nachdem er bereits die großen Romane Dostojewskis inszeniert hatte, auf die Erzählung stößt und denkt: "Dostojewskimäßig würde also doch noch einmal ganz hübsch was gehen.“ Aber: „Das war ein Irrtum, dessen Folge nun vier pausenlose Stunden währte." Die Inszenieung sei "ein Mischmasch (...) nachlässig, bemüht und teilweise lustlos verquirlt".

"Die Spielweise: irgendwo zwischen Commedia dell’Arte-Bauerntheater, Horrortrip auf ganz schlechten Drogen, Hysterieschüben und Momenten der wahren Empfindung – also eigentlich wie immer, nur leichter, skizzenhaft und provisorisch", so Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (3.6.2017). Georg Friedrich gebe seinem Wassja inmitten der Assoziationssprünge und lässig verschlampt angerissenen Regieeinfälle der Aufführung eine nüchterne Traurigkeit, eine Art lakonische Verzweiflung.

Peter von Becker vom Tagesspiegel (2.6.2017) verlebte einen "eher anrührend sanfte(n), von heiterster Schwermut erfüllte(n) Abend". Daran habe der herausragende Georg Friedrich starken Anteil. "Friedrich gleicht als Liebender einem Glücksraben mit versengten, abgetrennten Flügeln. Todtraurig, lebenskomisch." Er sei ein "graziöser Paniker, der völlig absticht von dem so oft hysterischen Volksbühnenton".

Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (2.6.2017) scheint es, als sei es bei dieser letzten Castorf-Premiere darum gegangen, sich durch "maßlose Überforderung" in den von Dostojewski mit dem "Wort Nadryw bezeichneten geistigen Reizzustand zu stürzen" und das Publikum mit "hineinzureißen. Wie üblich sei Castorf "alles Gelungene suspekt", weshalb er, wie üblich, das Risiko in Kauf nähme, "eine Inszenierung an die Wand zu fahren − aber diesmal steht er dabei mit dem Fuß auf dem Gaspedal". "Die Handlungsebenen schießen wahllos ineinander", auch die Spieler wüssten nicht immer, auf welcher sie sich gerade befänden, "die knallwachen Volksbühnenfreaks an den Mischpulten montieren vermutlich auch auf gut Glück die Livebilder mit denen aus dem Iwan-Film".

"Man versteht nur Bahnhof (Russisch: Zheleznodorozhnaya stantsiya), es sei denn, man ist Slawist oder hat vorher Quellenstudium betrieben. Das würden aber nur Streber machen, und die gehen nicht in die Volksbühne. Egal, hat man länger Zeit, sich auf die Premierenparty zu freuen, die Freundin zu streicheln und verstohlen am Whisky zu nippen", fasst Jan Küveler von der Welt (3.6.2017) seinen Abend zusammen. Man werde sich an die Kraft postdramatischer Dramatik und ironischer Liebesfähigkeit erinnern, ist er sicher. "Hier wurden und werden Gegensätze ausgehalten, in diesem riesigen Raum aus Wahnsinn und Langeweile."

Dass die Zeit auf dem Sitzsack ganz schön lang werde und man sich zwischen den Erzählebenen bisweilen verloren fühle, sei relativ zweitrangig, schreibt Christine Wahl in der Neuen Zürcher Zeitung (3.6.2017). "Im Grunde geht es allen Beteiligten darum, dieses Haus und seine Schauspieler noch einmal gebührend zu feiern – zumal von den meisten nicht bekannt ist, wo man sie wiedersehen wird." Epochale Abschiede seien, gottlob, nicht formvollendet.

Castorf schärfe noch einmal allen ein, dass er für ein Theater der Leidenschaft und des furiosen Ausbruchs stehe, der literarischen Großtexte und des schrillen Klamauks, aber eben auch der tiefen, ausgefeilten Verzweiflung. "Diese letzte Arbeit am alten Haus ist noch einmal provozierend unmodern, ein Experimentierfeld, eine unsortierte Materialsammlung, ein Schauspielfest und eine beispiellose Nervensägerei", so André Mumot von Deutschlandfunk Kultur (1.6.2017).

Eberhard Spreng vom Deutschlandfunk (2.6.2017) äußert eine Vermutung: "Vor mehr als 25 Jahren hatte Castorfs Abenteuer an der Volksbühne mit Schiller und mit bierhumpenschwenkenden Räuber-Machos begonnen; jetzt stellt er das Porträt des fragilen, des scheuen Mannes ans berührende Ende seiner Reise." Vielleicht sei das erste die Maske, das zweite die wahre Natur des Frank Castorf.

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