Sprung vom Dach der Volksbühne

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 1./6. Juli 2017. Wie fängt man an nach zwei mal zwölf Stunden in einer Theaterwelt, aus der es schwierig ist, den Ausgang zu finden? Die sich gleich zu Beginn selbst so hermetisch findet, dass der Regisseur-Diktator Vegard Vinge seinen Figuren und dem Publikum ein Loch in die Wand des "Nationaltheaters Reinickendorf" schlagen muss, damit sie den Eingang zum Zuschauersaal finden? Damit Baumeister Solness und seine Frau Alvine nicht bis in alle Ewigkeit Rotkäppchen-Sekt-Flaschen köpfen und über dem erwartungsvollen Premierenpublikum versprühen müssen.

Tor zum Guckkastentheater

Es ist wohl das beste, auch erstmal ein Loch hineinzuschlagen in die Wand dieser aberwitzigen, psychedelisch bunten Holz-Pappkonstruktion, die Vinge mit Ida Müller und unzähligen Mitarbeiter*innen geschaffen hat in einer Lagerhalle in Reinickendorf, bezahlt und veranstaltet von den Berliner Festspielen, die es Immersion nennen. Was gefühlsmäßig ganz gut passt am Morgen danach, von Vinge/Müller allerdings immer wieder in lustig-trotzig-schlauen Seitenhieben aufs Korn genommen wird, zum Beispiel gleich zu Anfang, wenn jeder Zuschauer sich aus einem Papp-Betonmischer einen Tischtennisball mit seiner Sitzplatznummer ziehen muss als erste und (sieht man mal ab von der Notwendigkeit des ein oder anderen Aufputsch-Kaffees, den man sich selbst besorgen muss) auch letzte aktive Beteiligung des Zuschauers an seinem individuellen Theatererlebnis.

Denn jetzt ist das Loch fertig: Und man sieht dadurch – ein Guckkasten-Theater. Einen Zuschauerraum, ausgemalt bis in den letzten Winkel mit schwarzen, bunt-marmorierten Wänden und Sitzbänken, Logen, aus denen deformierte Maskengestalten grienen, als wären sie einem Maskenbild von James Ensor entsprungen, und einen bunt gezickzackten Vorhang, über dem als gelbe Leuchtschrift "Welcome to the Pleasure Dome" flackert. Eine Ahnengalerie an der Rückwand hinter den Zuschauern stellt die Porträts von Richard Wagner und Henrik Ibsen nebeneinander.

IbsenSaga7 560 Nationaltheater Reinickendorf uAlles ausgemalt, und wie! Die Hamlet-Ibsen-Tosca-Saga von Vinge/Müller
© Nationaltheater Reinickendorf

Man riecht den Sektdunst von der Eröffnungs-Berieselung in den Klamotten der Mitzuschauer*innen, man riecht den Rasierschaum, der als Sprühsahne aus Pappgebilden quillt, mit denen Ida Müller zu später Stunde als "Psycho-Hamlet" den versammelten Hof von Helsingör tortet und mit Piepsstimme auf dem weinerlichen Satz "Ja, das ist gemein" hängenbleibt, bestimmt eine halbe Stunde lang.

Künstler als malendes Kind

Vor allem aber riecht man Farbe, was auch eine Sinnestäuschung sein könnte, denn immer wieder wird per Video Müller als Kind-Figur eingeblendet, wie sie am Küchentisch sitzt und malt und malt an einer Kulisse für die Maskenmonster, die hier zwischen der Produktwelt einer Jugend in den 80er/90er-Jahren (CKOne, Nike: "Just do it") und den Plakaten und Fan-T-Shirts der Helden aus Musik und Film (Pulp Fiction, Joy Division, Depeche Mode) herumstolpern, auf Satzfragmenten von Ibsen und Shakespeare hängenbleiben wie kaputte Schallplatten und der wehen weiten Welt schließlich verzweifelt ihre leckenden Körperöffnungen darbieten. Dies ist das Reich des Künstlers als malendes Kind, das gerade anfängt, die Tabus der Erwachsenen aufzuspüren.

Man hört Wagner, immer wieder "Parsifal"; es brausen Arien aus Puccinis "Tosca" auf und treten an gegen Verdis Requiem, und dann mündet alle Musik wieder in ein ohrenbetäubendes Stampfen, das klingt, als würden die Vingeaner hinter dem ZickZack-Vorhang eine Techno-Party feiern. Und wir, das Publikum, dachten schon, man hätte uns reingelassen ...

IbsenSaga6 560 Nationaltheater Roman Hagenbrock uWelcome to the Pleasure Dome des Nationaltheater Reinickendorf
© Roman Hagenbrock

Das Innerste des "Nationaltheaters Reinickendorf" will Mysterium bleiben, "heute abend geht es um Glaube", kündigt Vegard Vinge in der Premierennacht an, wobei diese Ankündigung neben so einigen anderen steht. Es geht auch um Depression, es geht um Mutterliebe, und es geht darum, wer besser ist, Verdi oder Puccini. Vor allem aber geht es darum, wer im "Nationaltheater Reinickendorf" das Sagen hat. Ob es der Intendant ist, ein alter Widerling mit künstlichem Darmausgang und dumpfer Stimme, Meister des jovialen Psycho-Terrors, Zerrbild des Patriarchats. Oder der smarte Geschäftsführer mit Quäkstimme, masken-optisch eine Mischung aus Charlie Chaplin und Berliner-Festspiele-Intendant Thomas Oberender.

Exzessive Bildwelten

Oder eben Vinge selbst, der sie nach Gutdünken auftauchen und verschwinden oder auch einander massakrieren (Intendant) bzw. abschaffen (Geschäftsführer) lässt und in bewährter Manier Szenen (in den ersten beiden Vorstellungen: aus "Hamlet", "Baumeister Solness" und "Tosca") wie Module aneinandersteckt, den Vorhang öffnen lässt zum Blick auf weitere exzessive Bildwelten, eine Leinwand "mit Gefühl" herunterfahren lässt, um eine Menge vorgedrehtes Videomaterial zu zeigen, Umbaupausen durch Pinkel-Performances überbrückt.

Als Performer ist er aber diesmal erstaunlich zurückhaltend, hält sich vom Zuschauerraum fern und hantiert mit Blut und Kot vornehmlich im voraufgezeichneten Video, etwa wenn die Kind-Figur Ragnar Brovik (aus "Baumeister Solness")/Hamlet von der Vater/Intendantenfigur einen Kurs in Actionpainting verpasst kriegt – mit "200 Litern Rinderblut" matschen die beiden die Wände voll, und der Vater dröhnt immer wieder: "Du musst gegen die Strukturen arbeiten, Ragnar!"

Geloopt, gesprungen, gerächt

Ist das dann doch eine zwiespältige Reverenz an Frank Castorf, parallel zu dessen letztem Abend an der Berliner Volksbühne (mit "Baumeister Solness") das Nationaltheater Reinickendorf eröffnete? Mutmaßlich aus Angst vor einem symbolischen Vatermord – Vinges "12-Spartenhaus" im Prater der Volksbühne mündete in eine Fehde zwischen Vinge und Castorf, die Vinge schließlich zum Hauptthema der Inszenierung machte – dekretierten die Berliner Festspiele, dass die eigentliche Premiere des "Nationaltheaters Reinickendorf" erst am 6. Juli, also mit der zweiten Vorstellung, stattfinde.

IbsenSaga7 VingeMueller 560 c Nationaltheater Reinickendorf 02 uParsifal-Ritter der anderen Art © Nationaltheater Reinickendorf

Aus der Anschauung beider Nächte heraus ergibt das keinen Sinn; alles, was in der Premiere steckte, steckte auch schon im "Opening", und auch wenn Vinge es sich am ersten Juli nicht nehmen ließ immer wieder süffisant Bezug auf die "Helden am Rosa-Luxemburg-Platz" zu nehmen, die dort "ihren letzten Kampf" kämpften und das mit Bildern eines Lemminge-artigen Massenselbstmordsprungs vom Dach der Volksbühne illustrierte – so hat er doch auch schon am 1. Juli den hasserfüllten potentiellen Vatermörder Ragnar Brovik aus "Solness" mit dem Vaterrächer Hamlet ausbalanciert.

Aber auch wenn man von Castorf und der Volksbühne absieht, hat Vinge/Müllers scheinbar zahmere Attitüde eine Eigenlogik; schreibt sich doch hier die mit dem "12-Spartenhaus" begonnene Institutionalisierung ihrer Kunst fort – die sie schon in ihrer ersten Zusammenarbeit, einem "Off-off-off-Ibsen-Festival" in Oslo als Gegenveranstaltung zum offiziellen Ibsen-Festival des norwegischen Nationaltheaters, angelegt haben. So wie Ibsen es überlebt hat, in den dramatischen Kanon aufgenommen zu werden, hat die Kunst von Vinge/Müller einen Glutkern in ihrer Suche nach Mantren unserer Zeit. "Ich tauge wohl auch nicht!", sagt die Kind-Figur wieder und wieder; während der Vater/Intendant/Baumeister eine "schreckliche Angst vor der Jugend" hat und die Mutter den Größenwahnsinn ihre Mannes anzetert: "Ich verspreche mir von deinem neuen Haus überhaupt nichts!" Sie alle hadern mit ihrem Schicksal, das als Text durch die Lautsprecher eingespielt wird, zu dem sie nur gestikulieren können. Und dabei wird ihr Bewusstsein aufgerissen und unseres mit.

Schmerz und Sprengkraft

Auch wenn also im Nationaltheater Reinickendorf die Spannung immer mal wieder auf 24-Stunden-Kino-Niveau absackt, weil die akute Bedrohung durch den randalierenden Vinge ein wenig fehlt – übrigens steht auf einer Seitenbühne ein Denkmal von ihm, wie er sich als John Gabriel Borkman in den Mund pinkelt –, bleibt die Hoffnung, dass eine Sprengkraft steckt in Vinge/Müllers kämpferischer Wahrnehmungs-Fragmentierung, die nicht einer in der Multimedia-Gesellschaft sich verändernden Wahrnehmung hinterherjagt wie so viele andere Theaterversuche, sondern Resultat einer irre mühsamen, aufwändigen, schmerzhaften Tiefenschürfung ist. Eine Sprengkraft, die in den folgenden neun Vorstellungen des Nationaltheaters Reinickendorf bestimmt noch ihre Wirkung zeigt. Achtung.

 

Nationaltheater Reinickendorf
von Vegard Vinge/Ida Müller
Von und mit Malin Andreasson, Laszlo Antal, Max Philip Aschenbrenner, Pelle Ask, Kirsten Astrup, Jonas Blume, Maximilian Brauer, Martin Breine, Katarina Caspersen, Torbjørn Davidsen, Ilaria Di Carlo, Michael Duté, Robert Faber, Hadas Foguel, Martin Gehrmann, Zoe Goldstein, Florian Gwinner, Roman Hagenbrock, Tobias Hagge, Martin Heise, Christopher Heisler, Snorre Sjønøst Henriksen, Margarita Hoffmann, Marc Hönninger, Katerina Ivanova, Joachim Janner, Ofelia Jarl Ortega, Gesine Kaufmann, Saebom Kim, Rosina Koch, Harald Kolaas, Candie Koschnik, David Kunold, Anne Kutzner, Daniel Mecklenburg, Anastasia Mikhaylova, Ida Müller, stefanpaul, Laurent Pellissier, Marc Philipps, Adam Read, Trond Reinholdtsen, Hanna Rode, Michael Rudolph, Susanne Sachsse, Pamela Schlewinski, Ole Schmidt, Judith Seither, Ville Sepännen, Rebecca Shein, Bastian Späth, Micha Spanknöbel, Stephen Stegmaier, Gabriel Stenlund Larsen, Tilman van Tankeren, Sarah Teichmann, Arnt Christian Teigen, Hans Georg Teubert, Loukas Troll, Marianne Tuckman, Vegard Vinge, Dominik Wagner, Silke Weyer, Petter Width Kristiansen, Yassu Yabara.
Dauer: 12 Stunden

www.nationaltheaterreinickendorf.com
www.berlinerfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Alles wird hier durch die Totaltheatermangel gedreht", schreibt Jan Küveler von der Welt (7.7.2017) über Vinge/Müller. Deren "Anderswelt, einem pubertär-elitären Albtraum", bescheinigt Küveler überbordende Fantasie und gigantomanischen Konzentrationswillen. Sicher ist er, "hier geht es um was, und um was genau, das fragt nur der, der nicht begriffen hat, um was es geht, nämlich ums Ganze".

Vier Jahre Pause habe das "12-Spartenhaus" gemacht, nun sei es wieder da, "dieses verwunschene mehretagige Goldene-Schlüsselchen-Theater", freut sich Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (7.7.2017). Detailreich berichtet er von den zwölf Premieren-Stunden, in denen es, anders als damals am Prater, "keine großen Ausbrüche und Übergriffe" gegeben habe. Entwarnung gibt Seidler dennoch nicht, denn der Abend sei "so angelegt, dass sie sich je nach Laune und Stimmung spontan einbauen lassen".

Endlich zurück, so begrüßt auch Christine Wahl im Tagesspiegel (7.7.2017) die "Höchstleistungsperformer" Vinge/Müller, die am Volksbühnen-Prater mit Ibsens "John Gabriel Borkman" vor sechs Jahren eine "echte Theaterrevolution" angezettelt hätten. Stark sei auch das "Nationaltheater Reinickendorf" dann, wenn es die psychologischen Aspekte des "Baumeister Solness" – ein "ideales Vatersturz-, Karriere- und Generationswechsel-Drama" – übersetze in "Horrortrips der frei laufenden Symptome" und "in gleichermaßen originellen wie höchst komplexen Bildern an (kollektive) Traumata" rühre. Dennoch bleibt auch bei Wahl der Eindruck, dass sich dieses Theater früher im Prater mehr verausgabt hat". 

Formal beeindruckt, inhaltlich schulterzuckend hat Tobi Müller das "Fegefeuer“ der Premiere, nach fünf Stunden verlassen. Eine "Kunstreligion" rufen die "Extremregisseure" Vegard Vinge und Ida Müller im Nationaltheater Reinickendorf aus, meint er im Deutschlandfunk Kultur (6.7.2017). "Dort sind die Bilder gewaltig, die Ikonografie pornografisch, die Effekte groß und der Pegel zu laut, der Kunstwille also beeindruckend." Eine grundlegende Frage bleibt für den Kritiker dabei allerdings unbeantwortet: "Kann man die Idee des männlichen, sexistischen und strukturell gewaltverherrlichenden Geniekünstler auch mal kurz auf den Müllhaufen der Geschichte werfen?"

"Unter drei, vier Handlungsebenen fängt bei Vegard Vinge nichts an, was aber nicht wirklich wichtig ist, denn tatsächlich dröhnt und donnert es auf seiner Angst-Bühne immer unter denselben Folterinstrumenten: Sex und Macht", schreibt Doris Meierhenrich in ihrem Bericht von der zweiten Nacht im Nationaltheater Reinickendorf für die Berliner Zeitung (10.7.2017).

Es komme als "superrätselhafter Mega-Kunst-Tempel" daher, in seinem Inneren aber wohne "eine sehr sanfte, zerbrechliche Seele", schreibt Dirk Pilz im Rahmen der fortgesetzten Nationaltheater Reinickendorf-Berichterstattung der Berliner Zeitung (24.7.2017). "Wahrscheinlich, so ging es mir auf dem Nachhauseweg durch den Kopf, ist diese Veranstaltung sowieso das schönste denkbare Kindertheater, in dem alle Phantasien gedurft und Assoziationen ausprobiert werden, die einem als Kind zwar nicht erlaubt wurden, aber niemanden auszutreiben sind."

"Bilder von erlesener Ekelhaftigkeit und rätselhafter Schönheit" hat Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (11.7.2017) gesehen in seiner "langen Nacht dieses Extremtheaters". Sein Fazit: "Als Veranstalter und Ermöglicher dieses prächtig abgedrehten, seltsam melancholischen, in jeder Hinsicht maßlos aus dem Ruder laufenden Gesamtkunstwerkirrsinns hat Festspiele-Intendant Thomas Oberender bewiesen, dass er sich etwas traut und keine Furcht kennt, solange die Theaterkunst nur radikal genug ist."

"Dieses sehr laute, grelle, finstere Theater nimmt einen so sehr gefangen, dass man kaum reden kann und schließlich zwangsläufig ganz bei sich selbst landet. Das muss man aushalten können", warnt Sascha Ehlert in der taz (12.7.2017): "Man setzt sich der Willkür eines Regisseurs aus, für den zur Inszenierung auch der Zuschauer gehört." Kunstblutklecks auf der Kappe seien aber, im Vergleich zu den Ibsen-Inszenierungen von Vinge/Müller im Prater, "ein harmloser Kollateralschaden", so Ehlert.

"Statt der totalen Verausgabung gab es von Müller/Vinge dieses Mal am Ende einfach nur die vollendete Erschöpfung", setzt Andreas Hartmann nach der letzten Vorstellung des Nationaltheaters Reinickendorf in der taz (1.8.2017) nach.

Unter drei, vier Handlungsebenen fängt bei Vegard Vinge nichts an, was aber nicht wirklich wichtig ist, denn tatsächlich dröhnt und donnert es auf seiner Angst-Bühne immer unter denselben Folterinstrumenten: Sex und Macht. – Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/27943328 ©2017
Unter drei, vier Handlungsebenen fängt bei Vegard Vinge nichts an, was aber nicht wirklich wichtig ist, denn tatsächlich dröhnt und donnert es auf seiner Angst-Bühne immer unter denselben Folterinstrumenten: Sex und Macht. – Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/27943328 ©2017

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