Vampires don’t cry

von Grete Götze

Mainz, 17. Mai 2019. Nun, wo gewiss ist, dass sie ab der nächsten Spielzeit neue Hausregisseurin an der Berliner Volksbühne ist, wird Lucia Bihler natürlich mit Argusaugen betrachtet, auch wenn sie dort noch gar nicht angetreten ist, und nun am Staatstheater Mainz "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" auf die Bühne bringt. Im Mittelpunkt steht Törleß, der auf ein strenges Militärinternat fernab von der Stadt geschickt wurde und dort auf seinen skrupellosen Mitschüler Reiting sowie Beineberg trifft, der seinen Sadismus mit mystizistischer Ideologie versieht.

Dann gibt es noch das Opfer Basini, schön, aber scheinbar ohne inneren Halt. Reiting erwischt ihn beim Klauen, und als Bedingung dafür, ihn nicht zu verraten, macht sich Basini abhängig vom ungleichen Kameradentrio, lässt sich von Beineberg und Reiting sadistisch quälen und sexuell missbrauchen. Törleß beobachtet das Ganze, er interessiert sich für Basinis Grenzzustände.

Im dunklen Wald

Man kann Musils Erstlingsroman als Geschichte über die Selbstfindung eines Jugendlichen lesen, als Reflexion über die Struktur der Welt, als Künstlerroman, als literarische Vorwegnahme des Faschismus. Einerseits erzählt Musil eine Geschichte, andererseits macht er Erkenntnisprobleme anschaulich: die Titelfigur wird sich mit der Entdeckung der eigenen Triebhaftigkeit selbst fragwürdig. Und alle Mittel, mit deren Hilfe sich Sicherheit gewinnen ließe, erweisen sich als unzureichend: Logik, Philosophie, Mathematik, Sprache.

Törless 5 560 Paulina Alpen Elena Berthold Maike Elena Schmidt Kristina Gorjanowa Kruna Savic c Martina Pipprich 21Laufsteig der Lüste und Leiden: Paulina Alpen, Elena Berthold, Maike Elena Schmidt, Kristina Gorjanowa, Kruna Savic in Lucia Bihlers "Törleß"  © Martina Pipprich

Es ist also nicht einfach, sich zu entscheiden, was man an diesem grausamen und komplexen Text eigentlich zeigen möchte. Umso wohltuender sind die glasklaren Entscheidungen, die Lucia Bihler trifft. Sie versetzt das komplette Geschehen in einen Wald. Auf die dunkle Bühne pflanzt sie überlebensgroße Baumstämme, auf dem Boden stehen aufgefächert vier Schulbänke für die vier Hauptfiguren. Das Ganze spielt sich hinter einer Leinwand aus Gaze ab, auf welche immer wieder kurze Gewaltszenen projiziert werden, und ähnelt einem Alptraum, einem Ort jenseits der Wirklichkeit.

Triebe im Internat

Die pubertierend Heranwachsenen lässt Bihler allesamt von Frauen spielen – über ihnen leuchtet den gesamten Abend in pinken Leuchtbuchstaben der Spruch "boys don't cry" auf. In ihren hautengen dunkelroten Lederanzügen karikieren die Schauspielerinnen die Bewegungsabläufe halbstarker Männer messerscharf, pantomisch, urkomisch und führen dem Publikum so die Absurdität männlichen Gebarens vor Augen.

Paulina Alpen spielt Törleß als pummeligen Jungen mit erschrecktem Gesicht und hochgezogenen Schultern, Kruna Savić, der sonst gerne die Rolle des vulgären Vollweibs zugedacht wird, mimt den verängstigten Basini mit unschuldig-wippendem Gang und großer Verzweiflung in den Augen.

Törless 3 560 Kruna Savic Elena Berthold Paulina Alpen c Martina Pipprich1Törleß schaut zu, gespielt von Paulina Alpen hinten rechts © Martina Pipprich

Und als wäre der Abstraktion nicht schon genug, werden alle Darsteller auch noch als Vampire gezeigt. Mit weiß geschminktem Gesicht, blutunterlaufenen Augen, Vampirzähnen und -ohren. Köstlich die Szene, in der sie mit Strohhalm Blutt statt Caprisonnen-Limonade trinken – und ein einleuchtendes Bild, das die Grausamkeit junger Menschen zeigt, die sich ihrer eigenen Brutalität nicht mal bewusst sind.

Zerrissen zwischen Hypes und Gefühlen

So albern das Setting eines Vampirfilms in einem anderen Zusammenhang sein könnte, so blechern die Mikroports der Schauspielerinnen ihre Stimmen verzerren, so dröhnend bedrohliche Geräusche die sadistischen Szenen untermalen – um die Welt von Pubertierenden darzustellen, die zwischen sadistischem Größenwahn, medialen Einflüssen wie dem Hype um den US-Vampirfilm "Twilight" und Kleinheitsgefühlen changieren, könnte die doppelte Verfremdung nicht passender sein.

Wie nun aber die Zerrissenheit von Törleß darstellen, der zwischen realem Handlungsdruck und ständiger Selbstreflexion hin- und herwechselt? Auch hierfür hat die Regisseurin eine einleuchtende Lösung gefunden und teilt den Text auf zwei Personen auf. Die grüblerischen Reflexionen spricht Törleß’ Alter Ego im schwarzen Lackkostüm (Maike Elena Schmidt), der Mitläufer Törleß trägt die gleiche Schuluniform wie die anderen.

Ästhetischer Horrortrip

Die Inszenierung ist ein extrem genau choreografierter Albtraum, die Bühnenfassung hält trotz einiger Straffungen die Erzählfäden so zusammen wie die Regisseurin ihr Team. Kein Bild, kein Ton, keine Bewegung wird dem Zufall überlassen. Die Prostituierte Božena, an der die Heranwachsenden ihre ersten sexuellen Erfahrungen sammeln, liegt rücklings im roten Lackkleid auf der Bank und spreizt die Beine, gibt bei der oralen Befriedigung stakkatoartig Anweisungen zur Luststeigerung: "schneller – weiter links – falsch – Stopp!"

Basini baumelt mit den Armen am Seil, bevor er Schlag für Schlag durchgepeitscht wird, jeder Schlag verstärkt durch einen Ton aus den Lautsprechern. Am Ende dieses ästhetischen Horrortrips lichtet sich endlich der Vorhang, und das Erwachsensein kann beginnen. Was für eine Erleichterung, was für eine Inszenierung!

 

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
nach dem Roman von Robert Musil
Inszenierung und Bühne: Lucia Bihler, Bühne Mitarbeit: Lisa Nickstat, Kostüme: Laura Kirst, Musik: Jörg Gollasch, Video: Florian Schaumberger, Licht: Frank Sabotta, Dramaturgie: Jörg Vorhaben, Künstlerische Beratung: Sonja Laaser.
Mit: Paulina Alpen, Elena Berthold, Kristina Gorjanowa, Kruna Savić, Maike Elena Schmidt.
Premiere 17. Mai 2019
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-mainz.com

 

Kritikenrundschau

Ein "unerträglich guter" Abend, so Johanna Dupré in der Allgemeinen Zeitung (20.5.2019). Bihler verlege das Stück in einen dunklen Märchenwald, der Erinnerungen an die Brüder Grimm und Schwarze Romantik hervorrufe. Die Inszenierung sei gnadenlos verstörend, aber auch von äußerster Konsequenz. "Ein dunkles Theaterjuwel." Dass Törleß und Co. hier zu seltsam androgynen Vampiren werden, "ist daher auch keinesfalls lächerlich, sondern trägt zum genuin  vertörenden Wesen des kompakten Abends bei".

Nichts für Zartbesaitete sei Bihlers Inszenierung, aber um die Show gehe es Bihler nicht, "bei allem befremdenden Effekt der kruden Bilder", schreibt Eva-Maria Magel in der Rhein-Main-Ausgabe der FAZ (22.5.2019). Vielmehr werde "eine Zumutung aufgebaut, um eine harte Nuss zu knacken": es werde spürbar, "was tradierte Menschen- und vor allem Männerbilder auslösen, wie Terror wächst, wie Unterdrückung und Heuchelei Persönlichkeiten formen". Lust und Pein lägen bei den jugendlichen Figuren nah beieinander, und Beklemmung wie Anspannung erhalte Bihler in ihrer Inszenierung für die gesamten 90 Minuten aufrecht. Der Regisseurin gelinge es, "ihre Zuschauer wie durch einen Fleischwolf zu drehen“, so Magel. "Aber die Fragen hallen nach. Teuflisch."

Etliche Fragen wirft Bihlers Zugriff für Andreas Pecht von der Rhein-Zeitung (22.5.2019) auf. "Durchaus tragen" könnte die "Vampiridee", schließlich gehe es im Törleß darum, wie Stärkere sich lustvoll die Lebenskraft eines Schwächeren aneigneten. Allerdings kranke die Mainzer Inszenierung "über weite Strecken an manierierten Spielereien". Gewiss, die "kollektive Bewegungspräzision" wie auch "die Disziplin der kunstvoll künstlichen Gesten" seien großartig, so Pecht. Verloren gehe dem Schauspiel in Bihlers Grusical jedoch "das Ureigenste", nämlich "die Schauspielerei": Vier sehr verschiedene Charaktere seien äußerlich kaum unterscheidbar; ihr Körperausdruck sei "auf fast marionettenhafte Gleichartigkeit choreografiert"; die natürlichen Stimmen durch technische Dopplung und Verzerrung genommen; der Gazevorhang lasse ihre Mimik unkenntlich werden. Einige Szenen setzten sich zwar gegen den Manierismus durch, etwa wenn Kruna Savic und Paulina Alpen "mit den Tiefen der Menschlichkeit die trickreiche Technik flugs an die Wand spielen". Doch dem Musil-Roman füge die Inszenierung "keinen einzigen neuen, interessanten Gedanken" bei, schließt der Kritiker. "Als Ballett wäre das vielleicht interessant, als Schauspiel führt es vor allem ins unwägbare Reich des Märchensymbolismus."

 

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