Dressurakte in Color

von Andreas Wilink

Düsseldorf, 19. Oktober 2019. "Willkommen im Paradies." Jubelte vor 40 Jahren Benjamin Henrichs angesichts von "Death, Destruction & Detroit" und beschrieb den "Sieg des Theaters über die Schwerkraft". Das Werk eines Künstlers wie des 1941 in Texas geborenen, mithin bald 80-jährigen Robert Wilson, der unseren Blick auf die Bühne neu eingestellt hat, uns Sehen gelehrt und ebenso dafür gesorgt hat, dass uns Hören verging, steht immer als monumental Ganzes neben dem jüngst Entstandenen. Stellt das Aktuelle in den Schatten oder – nach Perspektivwechsel – in scharfes Licht. Wobei es schon ans Blasphemische grenzt, bei dem Lichtzauberer Wilson diese Metapher zu benutzen.

Kind ohne Schatten

Geniale Naturen, heißt es, durchliefen mehrfach ihre Pubertät, vielleicht ohne aus dem Stadium des Kindhaften je herauszutreten. Sie suchen das Kind in wechselnden Masken und finden es noch da und dort, wenn wir anderen, dem ’wirklich’ Erwachsenen verpflichtet, es schon verloren gegeben haben – und damit auch einen Teil von uns selbst. Im Augen-Reiben über Wilsons Einstein on the Beach oder "Orlando" fügten wir uns dieses stückchenweise wieder zu.

Dschungelbuch 2 560 LucieJansch uDie Maniküre stimmt: Sebastian Tessenow als Tiger Yellow-Brown. Im Hintergrund: Cennet Rüya Voß als Mowgli © Lucie Jansch

Mowgli, das Menschenkind, wird – seiner Eltern beraubt – von Mama und Papa Wolf aufgezogen ("Wie klein! Wie nackt, und – wie mutig!"), vom tapsigen Bär Baloo, dem schwarzen Panther ("eine Stimme so mild wie wilder Honig") und der Schlange Kaa behütet und unterwiesen, von äffischer Anarchie gezaust und vom Tiger bedroht.

Der Knabe gehört – wie Peter Pan, den Wilson 2013 am Berliner Ensemble, ebenfalls wie hier zur Musik der Schwestern CocoRosie, nach Nimmerland fliegen ließ – zu den Naturwesen, die quer zur Zivilisation stehen. Ein anderer Kaspar Hauser, ein muskelschwacher Tarzan. Im "Weder Noch" zu Hause, niemals Tier und den Menschen entfremdet und von ihnen verstoßen, kann er (nur) zum King of the Jungle werden. Dafür muss ein längst selbst schon antiquiert gewordener Fortschrittsschrott aus ausrangierten Fernsehgeräten wie eine Installation von Nam June Paik gehäuft auf der Bühne landen.

Im Asphaltdschungel

In Wilsons Manegerie, aufgezäumt im Düsseldorfer Schauspielhaus, bewegen sich keine Urwaldgewächse, sondern hochgezüchtete Großstadtpflanzen in einem Go-Go Garden. Natur wird bei ihm Kultur – zum Asphaltdschungel aus stilisiert lanzettförmigem Blattwerk. Für den urbanen Parcours tauschen die Tiere Fell gegen Frack, Couture und Coiffure.

Zirkusdirektor Wilson zeigt mit müde gewordener Dirigierhand Dressurakte in Color: ein spitzenbesetztes, sehr unelefantöses Dickhäuter-Altes Mädchen namens Hathi (Rosa Enskat), die auch als Erzählerin fungiert, eine scherenschnittschmale Hyäne wie aus Pariser Existentialisten-Kellern, wölfisch-flippige Broadway-People und eine Boa tragende Kabuki-Kaa (Thomas Wittmann); einen Spaßbär-Clown, dessen breiter Steifftier-Humor in Georgios Tsivanoglous grobem Kostüm-Karo festsitzt, und einen gangsterhaft coolen Tiger Yellow-Brown (Sebastian Tessenow) wie aus den Straßenschluchten von Manhattan.

Dschungelbuch5 560 Lucie Jansch uKönig der Farbkontraste: Das Düsseldorfer Ensemble spielt das "Dschungelbuch" auf einer von Robert Wilson selbst entworfenen Märchenbühne © Lucie Jansch

Im Prolog der sehr leichtgewichtigen Aufführung, deren gutes Dutzend American Songbook-Titel geschmeidig Jazz, Blues, soften Rock, smarten Pop, Folklore, Klezmer, Kinderklassik, Tingeltangel und Kurt-Weill-Takte mischen, während das Libretto rudimentär bleibt, berichtet Bagheera, dass der Dschungel ihm Zuflucht bot vor dem Unheil durch die Menschen.

Damit könnte sich diese Heimstatt in Robin Hoods Sherwood Forrest oder Shakespeares Illyrien verwandeln: in einen Freiraum für Outcasts, wo Black Panther André Kaczmarczyk, grazil hingetuscht, zur Aristocat und Black Velvet Underground- und Showbiz-Erscheinung wird, die ihren Schwanz elegant als Kabel mitsamt Glitzer-Mikro trägt. Freiheit – ihrem Wesen nach ambivalent und auf der zur Einsamkeit sich hinneigenden Seite eingedunkelt – ist das, was sie alle vereint: Mowgli, Bagheera, Shere Khan und die Übrigen. Aber diese Vorstellung muss man sich eher denken, als dass der Abend sie einem eröffnet.

Factory des schönen Stillstands

Mowgli verkehrt seine Schwächen, die ihn nach dem Gesetz des Dschungels verwundbar sein lassen, in Stärke: durch Empathie und Gewitztheit, mit der er die Kraft der "roten Blume" Feuer nutzt. Die ihm bei Kipling zuwachsende "natürliche" Autorität, bei der viktorianischer Dünkel des weißen Mannes und die Selbstgewissheit eigener Überlegenheit zu Buche schlug, fehlt Cennet Rüya Voß. Ihr pumuckelnder Strubbelkopf in knallroten Shorts und Shirt ist ein etwas blass verwischtes Federgewicht mit mehr Staunen im Gesicht als ihre ganze halbe Portion und kein Herrenmensch: und ihr Zweikampf mit Shere Kahn ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in die Mowglis langsam ausgestreckte Hand (vorübergehend) den Tod des Feindes bringt.

Dschungelbuch4 560 Lucie Jansch uKing of the Jungle: Cennet Rüya Voß spielt Mowgli © Lucie Jansch

Dem im kolonial-indischen Bombay geborenen Kipling war die Muttersprache fremd, als er in die alte Heimat England zurückkehrte. So wie Wilson dem Wort und Sinn nicht den obersten Rang einräumt, den das Sprechtheater ihm zugesteht.
Der Regisseur schreibt anders lesbare Zeichen: mit dem Umriss Körper, der preziösen Geste, der fragilen Silhouette, mit vereinzelt gegenständlichen Chiffren. Das mit Watermill gestempelte Label Wilson ist eine Weltmarke: Factory des schönen Stillstands. "Das Dschungelbuch" wird in Wilsons Werk Fußnote bleiben, jedoch kein Pferdefuß, sondern manikürte Klaue, Tatze, Pranke.

 

Das Dschungelbuch
von Rudyard Kipling
Regie, Bühne, Licht: Robert Wilson, Kostüm: Jacques Reynaud, Musik und Lyrics: CocoRosie, Dramaturgie (deutsche Fassung): Janine Ortiz.
Mit: Takao Baba, Tabea Bettin, Judith Bohle, Felicia Chin-Malenski, Rosa Enskat, Ron Iyamu, André Kaczmarczyk, Sebastian Tessenow, Georgios Tsivanoglou, Cennet Rüya Voß, Thomas Wittmann sowie Musiker unter Leitung von Sven Kaiser.
Premiere am 19. Oktober 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.dhaus.de
www.cocorosiemusic.com
www.watermillcenter.org

 

Kritikenrundschau

"Eine leichte Revue mit schönen Bildern und launiger Musik", resümiert Michael-Georg Müller in der Westdeutschen Zeitung (21.10.2019). Es sei schon klar,  dass der Design-Ästhet kein naturalistisches Natur-Chaos auf die Bühne bringe, "für brisant politische Botschaften aus bedrohtem Urwald ist der amerikanische Starregisseur nicht zu haben". Alle Mensch-Tiere, die der kleine Junge auf seiner Reise in die Wildnis treffe, "tragen meist hautenge Kostüme. In leuchtenden Farben wie Mowgli in Rot, oder wie Panther Bagheera auf High Heels in Nachtclub-Schwarz." "Bilder, die an naiv romantische Malerei erinnern, munter und heiter wirken, manchmal auch vor Komik sprühen."

"Die Welt jen­seits des Dor­fes ist hier das Reich der Show", so Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.10.2019). In Wilsons Re­vue­fas­sung des "Dschun­gel­buchs" schmücken auf­ge­kleb­te, sta­che­lig ab­ste­hen­de Wim­pern Mow­g­li, aber auch die  Seh­werk­zeu­ge der Wolfs­el­tern, des Pan­thers, des Ti­gers, des Ele­fan­ten und so­gar der Schlan­ge. "Die Fi­gu­ren se­hen schon so aus wie das, was der Ar­ran­geur ih­nen zu tun gibt: Wie die Wim­pern sprei­zen sie ih­re Glied­ma­ßen." Die Show trete damit auch auf der Stel­le, weil das Le­ben hier in eine Ket­te von Auf­trit­ten ge­bannt wird.

"Betörend schön, wenn auch manchmal etwas flach", so auch Dorothea Marcus im Deutschlandfunk Kultur (19.10.2019). Wilson bleibe seiner Ästhetik treu, spiele  mit farbigem Licht, Schatten, scherenschnittartigen Figuren. "Perfekt ausgeleuchtete und grafisch arrangierte Blätter als Scherenschnitte seien das einzige, was vom chaotischen Dschungel übrig geblieben ist." Die Bezeichnung Bilderbuch treffe es am besten.

"Natürlich bleibt die Ästhetik eigenständig und hat faszinierende Momente," so Stefan Keim für WDR3 und die Sendung SWR2 Journal. Doch nach stärkerem Beginn wird das "Dschungelbuch“ aus seiner Sicht "schnell zur Konfektionsware von der Wilson-Stange." Eigentlich habe Wilson auch keine Theateraufführung geschaffen, sondern ein inszeniertes Konzert.

"Es ist der Charme der emotionalen Anmache, auf den Wilson sich glänzend versteht – diesmal ganz ohne jene marionettenhaften Fixierungen, die seinen Arrangements sonst hin und wieder einen etwas sterilen Zug geben." Wilson habe den literarischen Klassiker in einen funkelnden szenischen Comic-Strip verwandelt, so Martin Krumbholz in der SZ (22.10.2019). "Die englischen Songs verzichten auf Sentimentalität, der Witz triumphiert."

 

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