Allzu viel Herz für die Pubertät

von Simone Kaempf

Berlin, 6. Dezember 2008. Anfangs gibt man dem Stück noch die Mitschuld an diesem Desaster. Nach der Pause weiß man, Claus Peymann ist ganz allein schuld. Natürlich ist der Text schwierig. Sperrig expressionistisch breitet Wedekind in "Frühlings Erwachen" das Schicksal dreier Heranwachsender in einer Atmosphäre tabubeladener Sexualmoral aus. Aber man kann das ganz von heute erzählen. Jüngst schaffte Nuran David Calis in Hannover ein rundum überzeugendes "Frühlings Erwachen", das das Schwärmerische des Stücks mit sehr genau beobachtetem jugendlichem Selbstbehauptungsdrang verband.

Abfall in die Schwarzweißmalerei

Wahrscheinlich hat auch Peymann in Wirklichkeit ein großes Herz für die Pubertätsnöte von Heranwachsenden – wenn nur sein Blick nicht so antipodisch überdeutlich wäre. Sich auf die Seite der Jugendlichen zu schlagen, bedeutet bei ihm, dass die Welt der Erwachsenen denkbar schlecht wegkommt: die Eltern sind klischeehaft als Pflichterfüller dargestellt; die Lehrer sind mehr Richter als Pädagogen, die zeigefingerstochernd den schuldigen Melchior zu sich bestellen. Genüsslich breitet Peymann diese Szene aus, in der der intrigante Direktor Sonnenstich (Axel Werner) mit Zylinder und Vatermörderkragen die Verbannung Melchiors und damit den Sieg falscher Moral durchsetzt.

Die Szene hat bei Peymann aber weder die Moral noch die Lacher auf ihrer Seite. Spätestens an dieser Stelle fällt die Inszenierung tief in die Schwarzweißmalerei ab: Hier die schwärmerischen Heranwachsenden voll kraftstrotzender Lebendigkeit, dort die gescheitelten Erwachsenen. Achim Freyers Bühnenbild trägt mit seiner allzu simplen Lösung seinen Teil dazu bei: Wenn die Stimmung düster wird, klappen die säulenartigen Türen auf schwarz, wenn es heiter-schwärmerisch wird, zeigt sich die weiße Seite.

Zur Zeit der Zöpfe und Kniestrümpfe

In dem kargen, zeitlosen Bühnenbild sehen die Anzüge mit den kurzen Hosen von Melchior, Moritz, Hänschen & Co. tatsächlich aus wie vor hundert Jahren, ziemlich alt also. Wie Pennäler, nicht wie Schüler reden sie dann auch, sprechen seufzend von den Hausarbeiten – Ludwig der Fünfzehnte! Sechzig Verse Homer! Erste sexuelle Gefühle gehen nur mit Gewissensbissen: "Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren Schaden", sagt Moritz. Altklüger redet Melchior über das Thema. Wendla (Anna Graenzer) strotzt dagegen vor mädchenhaftem Schwärmertum, eine, "die im Abendschein über die Wiesen gehen" will, "Himmelsschlüssel suchen den Fluss entlang".

Das expressionistisch Schwärmerische dürfen die Figuren bis zum Schluss nicht ablegen. Komplexere Einsicht bleibt ihnen verwehrt. Die Naivität etwa, mit der Wendla auch in den Schluss-Szenen noch an den Storch zu glauben hat, raubt den letzten Rest an Ambivalenz und lässt jenseits der Stereotype keinen Raum. Auch Sabin Tambrea als Melchior macht eine unglückliche Figur. Mit einem Ledertornister auf dem Rücken tritt er vor das Tribunal und wirkt eingezwängt wie ein ganz armer Tropf. Aber wie sollen die jungen Schauspieler auf der Bühne auch ihre Rollen komplex füllen, wenn kein Regisseur dabei hilft?

Weder agieren Melchior, Moritz oder Wendla hier am Leben entlang, noch wirkt die Historisierung als Verfremdungseffekt, noch folgt die Inszenierung einer erkennbaren Idee, wie man das Stück glaubhaft erzählen kann. Den archaischen Kern bewahrt man nicht, indem man optisch in die Zeit zurückkehrt, als die Mädchen noch Zöpfe und die Jungen noch Kniestrümpfe und kurze Hosen trugen.

Peinlich bis zum bitteren Ende

Immer ein wenig zu laut und übertrieben müssen die jungen Schauspieler jauchzen, lachen, schwärmen. Zumindest haben sie frische Energie zu vergeben, während die Zylindertragenden, grimassierenden Lehrer und ihre routinierte Überzeichnung oder die übereifrigen Mütter in den geschürzten Schürzen aus Peymanns Standardrepertoire stammen – und in dieser Schematik schon seit Jahren völlig ungefährlich bleiben.

Wie plump Peymann im dritten Akt aber die Erwachsenenwelt zu karikieren versucht, war nicht zu erwarten. Schon der Lehrerauftritt direkt nach der Pause zerstört binnen Minuten eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihren Motiven. An Moritzens Grab liefern sich Vater und Pfarrer Reden voll übertrieben ausgestellter Verlogenheit, und Manfred Karges vermummter Mann, der Melchior vor dem Tod bewahren soll, agiert als Mischung aus Zirkusdompteur, Supermann und Springteufelchen.

Das Gefühl unendlicher Peinlichkeit, das dieser Abend verbreitet, steigert sich dann aber noch im Schlussapplaus. Es genügte nicht, dass die jungen Schauspieler strahlend und jubelnd ihren Applaus abholten, Peymann schubst sie noch einmal mit so gönnerhafter wie degradierender Geste nach vorne, dass es zum Davonlaufen war. Und viele Zuschauer taten das in diesen letzten Minuten dann auch.

 

Frühlings Erwachen
von Frank Wedekind
Regie: Claus Peymann, Bühne: Achim Freyer, Mitarbeit Bühne: Heike Vollmer, Kostüme: Wicke Naujoks.
Mit: Larissa Fuchs, Anna Graenzer, Swetlana Schönfeld, Marina Senckel, Lore Stefanek, Laura Tratnik, Dejan Bucin, Alexander Ebeert, Boris Jacoby, Roman Kaminski, Roman Kanonik, Manfred Karge, Gerd Kunath, Christopher Nell, Alexander Ritter, Lukas Rüppel, Marko Schmidt, Martin Schneider, Veit Schubert, Andreas Seifert, Sabin Tambrea, Georgios Tsivanoglu, Peter Weiß, Axel Werner, Mathias Znidarec.

www.berliner-ensemble.de

 

Wir sahen uns "Frühlings Erwachen" auch in der Inszenierung von Felicitas Brucker in Freiburg an. Ins Berliner Ensemble gingen wir zuletzt für Thomas Schulte-Michels La Périchole und Peter Steins Der zerbrochne Krug.

 

Kritikenrundschau

Peymann versuche gar nicht erst, Wedekinds "Frühlings Erwachen" in die Nähe der Gegenwart zu holen, bemerkt Eva Behrendt in der Frankfurter Rundschau (8.12.). Stattdessen konfrontiere er es "mit einer noch ferneren Vergangenheit": Er inszeniere genauso Schwarzweiß wie es "die getuschten Bilderbögen des Satirikers" Wilhelm Busch sind, bloß "deutlich steriler als diese". Schwarzweiß seien auch die "Karikaturen bürgerlicher Doppelmoral und Verlogenheit" kostümiert, "die direkt aus ,Max und Moritz' entsprungen scheinen". Und Schwarzweiß seien "Peymanns Sympathien verteilt": Gegenüber dem "Horrorkabinett" der Erwachsenen könne das Jungvolk nur punkten, bei dem gelte: "Hauptsache, irgendwie jung". Unklar bleibe, ob der "schwärmerische Überschuss" von Moritz, Wendla, Melchior "aus dem leider ungebremsten Herzblut hoch motivierter Jungsschauspieler resultiert oder schon wieder absichtsvolle Überzeichnung ist". Allerdings spiele dies "in der totalen Künstlichkeit" dieses Abends auch keine Rolle: "Diese geschlossene Welt ist sich eh selbst genug, darin aber leider so biedermeierlich wie die Gesellschaft, über die sie sich lustig macht".

Nur "wilhelminischer Drill und Prüderie" seien heute passé, nicht jedoch "die Nöte des Pubertisten und Wedekinds feine Psychologie", meint Andreas Schäfer vom Tagesspiegel (8.12.). "Von heute" sei auf der Bühne allerdings "nichts und niemand. Unter dem Vorwand, ein zeitenthobenes Märchen zu erzählen, entrückt Peymann die Figuren in die Ferne des Kitsches" und lasse Jugendlichkeit simulieren. Er ersetze also "Dringlichkeit durch hohle Gesten des Inbrünstigen". Da er "vermeintlich auf Seiten der Jugend" stehe zeichne er zudem Eltern und Lehrer "als lachhafte Karikaturen". Man könne Peymanns Theater ein "Theater für Nichttheatergänger" nennen: "Man erfährt nichts, das aber gut ausgeleuchtet. Die Schauspieler dürfen nichts zeigen, das aber bewegungsintensiv.

Erst nachdem er ausführlich von Peymanns "wirkungsvoller Medieninszenierung" im Falle Christian Klar erzählt hat, kommt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (8.12.) zu dessen "uninteressanter Theaterinszenierung", in der "in aller Ausführlichkeit und ohne jeden erkennbaren Hintersinn" das Geschehen nachgestellt werde. Figuren gebe es nicht zu sehen, "nur Schauspieler in Mühen und manchmal ohne Hosen" – umso quälender, weil sich die jungen Schauspielern "mit unbedarfter, heißer Hingabe in diese welt- und leblose Theatrigkeit" stürzten, während die älteren "mit handwerklicher Solidität das szenische Ideenvakuum" überspielten. Bei dem Schwarz und Weiß der Bühne, diene die Farbe Rot "als Leitmotiv der Sünde" – deutlicher könne eine Sprache nicht sein, "aber was will uns der 71-jährige Regisseur mit ihrer Hilfe sagen?" Was man hier über Sex erfahre, ist für Seidler jedenfalls sehr fragwürdig: "Dass nämlich ein Mädchen bei einer drei- bis vierstößigen Gewaltdefloration in sexuelle Erregung geraten könnte, wie es Peymann zeigt, zählt zu den dumpfsten 'Sie sagte Nein, aber sie meinte Ja'-Phantasien".

Ganz anders klingt alles bei Reinhard Wengierek von der Welt (8.12.): Diesmal sei "das alte, lange vermisste Peymann-Wunder" geschehen: Wedekinds "Kindertragödie", "diese insgeheim schon als altbacken abgetane Provokation aus wilhelminischer Zeit, haut uns unversehens vom Hocker!" Alles sei "seltsam wie hinter Glas in der Museumsvitrine" und springe uns zugleich "ganz gegenwärtig an", was "an der präzis subtilen Personenführung, am so spartanisch wie poetischen, so trefflich wie praktikablen Bühnenbild Achim Freyers" liege. Auch die "triftigen Kostüme" von Naujoks seien in schwarz oder weiß – "ein die gesamte Inszenierung beherrschender Farb-Gegensatz, der vieles bedeutet: Das Kindliche, Frühlingshafte und das Tragödische, Winterliche. Das Fleisch, der Geist. Die Realität und der (Alb-)Traum, das Fantastische. Die Einfühlung, das Kreatürliche, der Schrecken, der Ernst und die Distanz, das Groteske, der Ulk." Mit "bewundernswerter Sicherheit" finde Peymann eine Linie zwischen all dem, auf der er das Ensemble "sicher wandeln" lasse.

Auch Peter Hans Göpfert, der für die Berliner Morgenpost (8.12.) schreibt, ist angetan. Zwar sei Unbekümmertheit gewiss nicht Peymanns Sache, doch zeige er das Stück "in einem überwiegend heiteren Licht". Während die Erwachsenen "satirisch schraffiert" wirkten, würden die Jugendlichen "mit ihren ungelösten bohrenden Fragen, ihren altklugen Vermutungen mit lebhafter Natürlichkeit, bei ihren onanistischen Verklemmungen aber auch mit ironischem Blick gesehen". Und von eben dieser Frische lebe das Ganze. "Mag sein, dass Jugendliche längst andere Probleme (nicht nur) mit der Sexualität haben", bedenkt Göpfert, lobt dann aber doch, dass die Inszenierung "so heiter wie anrührend für Offenheit und Verständnis zwischen Eltern und Kindern" werbe. "Hier grüßt das BE das Grips-Theater".

Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.12.) lobt, ohne zu jubeln: "Siehe da – dermaßen in historischer Entrücktheit geraten, wirkt 'Frühlings Erwachen' plötzlich wieder frisch. Dies sei "mit Demut wie mit Augenmaß vom Blatt inszeniert", nie verlören Peymann und sein Ensemble "Sinn und Form, Rhythmus und Geschmeidigkeit", alles leuchte ein, und am Ende blieben keine Fragen offen: "Das ist das Verdienst wie die Schwäche dieser Aufführung: Sie geht zwar glatt auf, aber sie geht einem – bei aller Liebe – nicht nach."

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