Das Leben ist ein Pappkarton

von Michael Laages

16. September 2009. Als es ans Sterben geht (und der magisch-mystische "Knopfgießer" kommt, um den eher missratenen Lebensentwurf des Sterbe-Kandidaten "umzuschmelzen" zu etwas nützlicherem), da lässt Henrik Ibsen den faustischen Helden Peer Gynt ein immergültiges Bild finden für das Leben an sich – es gleiche einer Zwiebel. In immer neuen Häutungen müssten kurz vor Schluss die Hüllen und Verpackungen weggerissen werden, bis irgendwann (und unter Tränen, es ist ja eine Zwiebel!) "der Kern" zum Vorschein komme, das ICH, das Unverwechselbare und Einmalige, das, wofür gerade dieses Leben gut und gemacht war.

Aus einer ganz anderen, weniger poetischen als vielmehr sehr praktischen Idee von durchaus ähnlicher Verpackung mag der Gedanke entstanden sein, der diesen jüngsten Versuch am großen Gedicht von der Ich-Werdung des Menschen nachhaltig prägt – das Leben sei doch heute eher ein profaner Pappkarton, hat womöglich der Bühnenbildner Stephane Laimé dem Regisseur Jan Bosse vorgeschlagen. Und nun steht da ein Haus aus Kartons auf der Drehbühne des Thalia Theaters in Hamburg; am kleineren Berliner Maxim-Gorki-Theater, dem Koproduzenten dieser Inszenierung, wird diese Karton-Burg den Raum wohl sogar ganz füllen.

Wider den Verführungszauber

Immer wieder gibt es Inszenierungen, die – wie diese - einer fundamental-gestalterischen Bild-Idee für den Raum ganz und gar folgen. Oder ihr verfallen. Auch aus diesem Bild gibt's kein Entrinnen, und alle anderen Raum-Behauptungen sind so, wie sie zum Beispiel im Stück geschrieben stehen, von nun an nicht mehr realisierbar. Allerdings sind ja auch die Reisen von Ibsens Peer kaum "real" zu bebildern – von scharfen Felsen-Graten an Norwegens bergiger Küste bis zu Wüsten-Oasen und untergehenden Schiffen.

Das kann ja stets nur Mummenschanz und Budenzauber sein – das ganze Stück handelt von nichts anderem, von nichts als dem augen- und sinnetäuscherischen Lügenspiel des Lebens. Da ist der Pappkarton als Sinn-Bild an sich gar nicht schlecht – nur ist er eben (im Gegensatz zur lebendigen, atmenden Zwiebel-Frucht) ein pappenes und kaltes Kunst-Produkt. Und akkurat so kommt nun leider auch Jan Bosses komplette Inszenierung daher – als Gedankenspiel, das jeden vordergründig sinnlichen Verführungszauber des Theaters meidet wie der Teufel das Weihwasser.

Kühle Werkstattatmosphäre

All die schrägen, schrillen Abenteuer des jungen wie des älteren Gynt bewältigen (neben den Hauptpartien) fünf Darsteller in zwei Dutzend Rollen: Gynts trickreichen Brautraub, das eigentlich ziemlich lustvolle Abenteuer mit Trollinnen und Trollen, das Gelage des Unternehmers Gynt vor Marokkos Küste an Bord der eigenen Yacht (die ihm von den noch geschickteren Gästen aus politischen Gründen geklaut wird), die vielversprechende, aber leider ergebnislose Begegnung mit der Schleiertänzerin Anitra, das suizidale Massaker im Irrenhaus; schließlich die Heimkehr per Schiff und im (für den Rest der Schiffsmannschaft) tödlichen Sturm.

All das entwickelt Bosse in einer Art Werkstatt-Atmosphäre, szenisch sehr sparsam, teils mit vorproduzierten Video-Sequenzen außen auf der Fassade, teils per Live-Kamera innendrin in der Pappkartonburg; sehr technisch wirkt das, und immer sieht es auch ein bisschen nach Notlösung aus. Es markiert allerdings (und eben konsequenterweise) den Kern der Inszenierung: die Kunst des Verpackens. Auch Arno Kraehahns Musik klingt so – oft wie der Sound einer Orchesterprobe, wie das Vorspiel für etwas, das noch kommen könnte, dann aber doch nicht kommt.

Die Kunst, ein Weltbild herbeizuphantasieren

Für das Ensemble dieser Gynt-Werkstatt ist in derlei illusionsloser Unterkühlung naturgemäß wenig Profil zu erspielen. Nicht mal für Marina Galic in der immer irgendwie undankbaren Rolle der lebenslang wartenden Solveig, die Peer jedoch durch eben diesen immerwährenden Glauben an ein Stück Glück vor der Knopfgießer- und Umschmelzerei des Todes bewahren kann. Als sie Peer das erste Mal traf, beim Fest, das mit dem Brautraub endete, rauschte sie wie ein sehr schmuckes Aschenputtel herein – und hinterließ einen Schuh.

Das ist aber auch das einzig Märchenhafte an diesem Abend. Karin Neuhäuser, neu in Hamburg, ist ein furiose Gynt-Mutter Aase, mit beträchtlichen Fallhöhen aus Ironie und Alltagsslang, auch später als knopfgießender Botschafter aus dem Jenseits. Jens Harzer stemmt das Monstrum von Solo-Text mit der ihm eigenen Fahrigkeit, die immer nach Haltungen in Text und Ton zu suchen scheint. Ihm bleibt damit die größte Herausforderung des Abends: das Weltbild Gynt wie in einer Art Traum Szene um Szene neu herbeizuphantasieren.

Das ist anstrengend, für ihn wie für uns. Wie diese ganze gedankliche Bemühung – Bosse zeigt einen Blick auf "Peer Gynt", dem der Kopf zu folgen vermag. Aber das Herz bleibt kalt.

 

Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Koproduktion des Thalia Theaters Hamburg mit dem Maxim Gorki Theater Berlin Regie: Jan Bosse, Bühne: Stephane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno Kraehahn, Video: Maike Dresenkamp. Mit: Jens Harzer, Marina Galic, Karin Neuhäuser, Hans Löw, Anne Müller, Catherine Seifert, Robert Kuchenbuch, Sebastian Zimmler.

www.thalia-theater.de
www.gorki.de

 

Mehr zu Jan Bosse? Am Schauspiel Köln inszenierte er im März 2009 Georg Büchners melancholische Komödie Leonce und Lena, am Berliner Maxim Gorki Theater im Dezember 2008 den Abend Antigonae/Hyperion und Edward Albees Zimmerschlacht Wer hat Angst vor Virginia Woolf? im Oktober 2008 am Burgtheater in Wien.

 

Kritikenrundschau

"Die Feste, die hier gefeiert werden, sind absichtsvoll fahl", bemerkt Peter Kümmel (Die Zeit, 24.9.2009). Es sind von Beginn an "die letzten Schalen, an der Bosse und sein Hauptdarsteller Jesn Harzer herumoperieren". Und "der tolle Jens Harzer wirkt ja immer, als träume er das Stück, in dem er mitspielt, als durchschlafe er es hellwach wie einen höheren geistigen Vorgang". Mit seiner Kunst gebe er "flachen Stücken Tiefe", doch seinen Peer Gynt "sieht man ermattet, und man denkt: Wenn er doch endlich erwache". Hier sei ein Peer Gynt zu erleben, "der sich manisch ins eigene Ich hineinbohrt". Und es wiederhole sich, was bei Matthias Hartmanns Faust an der Wiener Burg zu erleben gewesen sei: "das Universalstück im Container". "Die opulentesten Stücke des Welttheaters packen sie neuerdings in die kleinsten Kisten." Als Zuschauer könne man nicht behaupten, "Peer Gynt erkannt zu haben. Wir sahen einen Mann, der seine Schalen vor uns aufriss wie einen Exhibitionisten-Trenchcoat."

Jens Harzer ist als Peer Gynt "ein Apostel der Hypothese, der überall aneckt und fasziniert zugleich", schreibt dagegen Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (22.9.2009). "Männliche Selbstüberschätzung und weinerliche Zweifel werfen diesen Peer hin und her, und Jens Harzer entwickelt aus dieser manisch-depressiven Grundkonstellation eine brillante vierstündige Solo-Performance." Mit diesem Faszinosum im Zentrum scheint Bosse ein gewisses Desinteresse für die Widerstände entwickelt zu haben, die man der Hauptfigur hätte entgegenstellen können. "Fast alle Nebenrollen bleiben blass, die Szenenphantasie vermeidet wohl die Kitsch-Gefahr (...) aber die wiederholten langatmigen Videoübertragungen aus dem Inneren des Würfels und ein paar Verkleidungen ändern nichts daran, dass die Regie hier nur Staffage der Darstellung ist." Einzig Karin Neuhäuser wehre sich mit Originalität. "Aber mehr Persönlichkeit duldet Bosse nicht, und so muss Harzer die Konflikte der Trollaustreibung eben ganz alleine spielen - zum Glück kann er das."

Ziemlich stinkig angesichts Jan Bosses "Peer Gynt" zeigt sich Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (18.9.2009): Kopflastige, starre Inszenierung, Deklamationstheater, hässliche Kostüme. Inszenatorisches "Feng Shui", sparsame, unentwegt wiederholte "ästhetische Mittel". " Das war eindeutig zu viel vom selben." Das Ensemble allen voran Jens Harzer und Karin Neuhäuser habe "eindrucksvolle, schauspielerische Leistungen" gezeigt, doch das Stück wurde "zu einer kalten, gelegentlich leblosen Sektion eines Spinners". Gynt erscheine als Typ, "wie wir ihn alle kennen: unreif, hemmungslos selbstsüchtig, nachlässig gekleidet, bequem, treu-, gewissen- und reuelos (…) ein Anti-Held, ein unerwachsener Mann." "So einen Kerl" betrachte man argwöhnisch, "denn er könnte vielleicht mal mit einer Knarre losrennen und um sich schießen". Auch Bühne und Kostüme erregen Seegers' Unmut: "Hatten wir nicht gerade erst einen riesigen Zeitungsberg gesehen, an den Bilder projiziert wurden? (...) Müssen die Regisseure immer Videos zeigen, wo doch die Bühne viel mehr lebt? Und warum sind eigentlich die Kostüme (Kathrin Plath) - ausgeleierte T-Shirts und lappige Hosen – so hässlich?" – Zuletzt argwöhnt Seegers, dass die Zuschauer mit ihrem heftigen Applaus ‚wohlmöchlich’ nur "ihr eigenes Durchhaltevermögen beklatschten".

Ganz anders Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (18.9.2009). Für ihn gibt die Bosse-Arbeit ein gültiges Inbild unserer Gegenwart. Bosse und Harzer zeigten Gynt zerrissen und entschlussunfähig zwischen Entweder und Oder. "Mit Ibsen wird hier eine Gegenwart erschlossen, die am Kreuzweg steht: Entweder die Welt wird zum Irrenhaus oder wir erfinden uns eine neue, Zukunft ermöglichende." Pilz begreift Harzers Gynt als einen Ich-Sucher, der wissen will, "was das Ich im Innersten zusammenhält". Aber Jens Harzers Gynt "leidet nicht an Ich-Mangel, sondern an einem Ich-Überangebot (…) – ein Held des postironischen Zeitalters." Das Bühnenbild aus lauter Pappkartons wird für Pilz zum "nach Außen verlagerten Peer-Ich: zusammengestückelt aus lauter Einzelschachteln, fragil und festgemauert zugleich." Jens Harzer "ist das Glück dieser Inszenierung. Er ist allerdings genauso ihr Problem: Sie ist seltsam Harzer- und kopflastig." Der "ins Große, Grundsätzliche weisende Abend" wirke "mit seinen sparsamen Mitteln, der Konzentration aufs Wort und Jens Harzer mitunter eher anrisshaft als ausinszeniert." Doch immerhin, er zeige einen Peer Gynt, "der nicht in Seelenspekulationssumpf versinkt, sondern mit beiden Beinen im Hier und Heute steht – im Provisorischen". Peer Gynt gehe unter, aber, und das zeige Bosse, das müsse kein "Naturgesetz" sein.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.9.2009) schreibt Irene Bazinger: In Bosses "Peer Gynt" folgten bei Ibsen "der Beweis ihrer Worte in fünf Akten" – und am Schluss wisse niemand mehr, ob "das Leben ein Traum oder der Traum das Leben" sei. Harzer sei ein "überanstrengter Peer", der sich "eindrucksvoll durch die Textmassen" kämpfe, "ohne einem ihren Sinn wirklich nahebringen zu können". Ein "virtuoser Leerlauf". Überzeugend nur, wenn Peer "seiner Mutter das Sterben mit allerlei zärtlichem Geflunker erleichtert, bis sie seine Hand über ihre Augen legt, damit er sie ihr schließt". Harzer spreche "Monologe an der Rampe und wählt sich das Publikum als Ansprechpartner – vergeblich, denn es antwortet nicht". "Ein sehr braver und sehr netter Abend – und das ist bei einem solchen Stück an so einem Haus eindeutig nicht genug."

In der Tageszeitung Die Welt (18.9.2009) überlegt Matthias Heine, ob Ibsens "Peer Gynt" nicht doch "erschreckend gealtert" sei (womit Heine zweifellos Recht hat – jnm). Wie der zweite Teil des Faust bestehe auch der oft damit verglichene "Peer Gynt" gutteils aus "Wortgeklingel". Wenn man, wie bei Bosse, "die Sprache und das Gedankengerüst … pur geliefert" bekomme, offenbare sich erst recht ihre Dürftigkeit. "Und Ibsens Knittelverse sind – zumal auf Deutsch – eben nicht berauschend schön (wie noch der größte Unfug bei Goethe), sondern oft unfreiwillig komisch."  Die "Pappkartons auf der Bühne" symbolisierten, dass bei Bosse das Stück im "Kopf des Helden" stattfinde. Alles "folkloristische Kolorit und alle Exotik" seien "ausgelöscht worden". Schade drum, findet Matthias Heine, denn dreieinhalb Stunden Pappkartons zu betrachten, sei doch "sehr ermüdend". Nicht einmal der von Heine besungenen Jens Harzer kann dieser Müdigkeit  Entscheidendes entgegen setzen. Er und Karin Neuhäuser seien "die Offenbarungen im neuen Ensemble" des Thalia Theaters. Bei Harzer, den "etwas Somnambules" umgebe, handle es sich um einen "Spieler in der Moissi-Tradition, ein Sänger fast, der über 1000 Töne verfügt (und über ebenso viele Haltungen) und dennoch nie seine unverwechselbare Stimme verliert".

Auf Spiegel online (18.9.2009) befindet Werner Theurich, dass sich die Inszenierung "solide bis exaltiert am Text-Vers der Morgenstern-Übersetzung" abarbeite und im wesentlichen Jens Harzer "eine Rampe für seine Spielwut" biete. "Etwas lehrbuchhaft, aber eloquent und plakativ" werde die Außenwelt als Peers Innenwelt bebildert und dieser tobe "als Metapher für ständige Bewegung und dauernden Laborversuch am lebenden Subjekt über die Bühne". Karin Neuhäuser in der Rolle der Ase sei "großartig", der "nervös hechelnde und ständig zerfahren an sich herumzupfende Harzer-Gynt" "eine ebenso rührende wie quälende Nervensäge, optisch treffend zwischen Stromberg und Liam Gallagher angesiedelt". Es gäbe zwar einiges Gekaspere und auch der Kameraeinsatz sei nicht überzeugend. Aber: "Das Schauspielhaus hat dem neuen Thalia-Team den künstlerischen Fehdehandschuh mit großer Geste zugeworfen."

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