Und beim Engtanz sehen wir uns nicht

von Katrin Ullmann

Hamburg, 24. März 2010. Schwermütig stimmt er eine russische Weise an. Singt und dreht sich im Kreis. Dann beginnt er sich auszuziehen, tanzt wild und wilder, sein Gesang wird verrückter. Die Arme wie Vogelflügel ausgebreitet. Gleich vergräbt er sie wieder tief in seiner Unterhose und zieht auch diese aus. Er nimmt sich den ganzen Bühnenraum und tanzt seinen durchgedrehten Tanz – bis er gewaltsam von der Bühne getragen wird.

Später wird er sich dafür entschuldigen, mit zusammengebissenen Zähnen. An der Bühnenrampe steht er dann mit einem albernen Filzhut (Kostüme: Ursula Renzenbrink) auf dem Kopf – Kirill (Tilo Werner) ist nicht der Einzige, der an diesem Abend durchdreht. Kirill ist ein Arzt in Maxim Gorkis "Kinder der Sonne". Er ist Teil von Pawel Protassows so illustrer wie weltfremder Hausgesellschaft. Laut Gorki, der das Stück 1905 schrieb, haben Pawel und seine Gäste ihr Leben der Wissenschaft gewidmet, den Hirnen und dem Denken – fern vom lebendigen Leben. Draußen tobt die Cholera, während im sorgenfreien Elfenbeinturm von der Harmonie des Weltalls und der synthetischen Eiweißgewinnung geträumt wird.

Traumverloren im Elfenbeinturm

Bei Luk Perceval, der das Stück am Thalia Theater in seiner eigenen Bearbeitung inszeniert, befindet sich Gorkis Personnage auf einem gemeinsam einsamen Sinnfindungstrip, ist verwirrte Selbsthilfegruppe und gescheiterte Beziehungstherapie zugleich. Es ist eine große Gesellschaftsschau nach Innen. "Keiner liebt mich, keiner versteht mich", eröffnet Josef Ostendorf als gewalttätiger Jegor nölend die Runde, "Ich baue Dir eine Burg", schwört Melanija (Marina Galic) später und hüpft Pawel (Jens Harzer) auf den Schoß, der ihr Angebot eher trocken mit "Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee" und später mit "Lass uns lieber Freunde sein" quittiert.

Beim Reden schauen sie sich alle nicht an, und selbst beim nahezu romantischen, wenn auch musiklosen, Engtanz gehen die Blicke aneinander vorbei. Oft sitzen die zwölf Schauspieler auf diesem einen schlichten Malertisch. In Ihrem Rücken bemalt Marina Wandruszka meterweise Papierwand, die sich von einer Rolle zur anderen dreht und so zum zeitlupenlangsamen Animationshintergrund wird (Bühne: Katrin Brack). Die charmant naiven Motive erzählen ein bisschen Russland, erzählen in ihrer überdimensionalen Unbeholfenheit vor allem von Einsamkeit. Und einsam sind sie alle, um sich selbst kreisend, früher oder später durchgedreht. Denn ein jeder von ihnen scheitert irgendwann, wird unglücklich, traumverloren und weltfremd.

Eine Liebeserklärung zum Auflachen

Einen unterhaltsamen, traurigkomischen Abend hat Perceval da gebaut. Einen, der mit durchweg guten Schauspielern von Menschen und ihren Sehnsüchten erzählt, von ihren Masken, Versteckspielen und seltsamen Träumen. Jens Harzers Pawel blinzelt dann und wann verträumt hinter seiner Hornbrille hervor, Hans Kremer klemmt seine Hände in den Hosentaschen fest, bevor er in der Rolle des Malers Dimitri Pawels Frau Jelena (Oda Thormeyer) seine Liebe erklärt – doch diese lacht auf. Sie lacht herzhaft, aber nicht laut genug: Denn auch unter ihrem Lachen schimmert tiefe Traurigkeit.

Oda Thormeyer spielt mit einen unglaublich vielschichtigen Ton: affektiert, betroffen, unsicher, selbstbewusst, ungerührt, unnahbar und verletzlich. Man sieht ihr zu, ihrem scheinbar leichten und doch lebensschweren Spiel und denkt an die großartige Julianne Moore in dem ebenso locker hinskizzierten Robert Altman-Film Short Cuts. Glasklar wirkt Thormeyers Jelena und ist doch weit entrückt, scheinbar ehrlich lachend steht sie über den Dingen und führt doch – wie alle anderen in Gorkis Stück – ein Leben am Leben vorbei.

 

Kinder der Sonne
von Maxim Gorki
in einer Bearbeitung von Luck Perceval
Regie: Luk Perceval, Bühne: Katrin Brack; Kostüme: Ursula Renzenbrink; Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Jens Harzer, Patrycia Ziolkowska; Oda Thormeyer, Hans Kremer, André Syzmanski, Marina Galic, Sebastian Zimmler, Josef Ostendorf, Lisa Hagmeister, Marina Wandruszka, Nadja Schönfeldt, Tilo Werner, Christina Geiße.

www.thalia-theater.de

 

Mehr zu Luk Perceval in Hamburg? Im September 2009 inzenierte der neue leitende Regisseur des Thalia Theaters hier The Truth about THE KENNEDYS und steuerte Idee und Konzept zur Saisoneröffnung 2beornot2be bei. Mit seiner Münchner Inszenierung Kleiner Mann, was nun? aus dem April 2009 ist er zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen. Weiteres über Luk Perceval erfahren Sie in unserem Glossar.

 

Kritikenrundschau

In Gorkis Stück stecke "viel negatives Inzenierungspotenzial. Verleitung zum Pathos wie zur Denunziation, zum Menscheln wie zum Zynismus, zum Pseudo-Realismus wie zur übertriebenen Künstlichkeit", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (26.03.2010). Luk Percevals Inszenierung begegne diesem "Dilemma" des Textes von daher "mit einer leicht störrischen Theaterverweigerung". "Persönlichkeit erlaubt er nur in Andeutungen, Sprache formuliert sich meist getrennt von Emotionen". Eine gelegentliche "heitere Interpunktion" und "die seltenen Ausflüge ins Zwischenmenschliche" könnten nichts daran ändern, "dass diese extreme Karikatur von Coolness eine Anti-Inszenierung bleibt, von der man spürt, wogegen sie sich wendet, aber noch nicht ahnt, wohin sie eigentlich will. Sie macht sich interessant durch harsche Verweigerung von Erklärungen, Thesen oder Angeboten, eine vergangene historische Konstellation in die Gegenwart umzubiegen." So unterliege Percevals Inszenierung letztlich demselben Problem wie ihre Protagonisten: Auch diese hätten im Geiste der Aufklärung "die Entzauberung der Welt und die Abgrenzung gegen den Trug scheinbar so weit vorangetrieben, dass ihnen nun ein neues Rätsel fehlt, das ihre Handlungsstarre auflösen könnte".

"Dreist und ahnungslos missbraucht Luk Perceval die Vorlage für Mätzchen-Theater ohne Geist und Witz", urteilt Ulrich Weinzierl mit Schärfe in der Welt (26.03.2010). Perceval blende jeglichen "historisch-politischen Kontext" aus, "seine mit einer Portion 'Scheiße' gewürzte Gorki-Plapperversion, deren Striche manchmal schwer gegen die Logik verstoßen, hat mit Dekonstruktion nichts mehr zu tun: Es ist bloß Destruktion, also Zerstörung von Figuren und Sinn, von Poesie und Gefühl." Auch die Applausordnung wird für den Kritiker sigifikant: "Wer wie der Regisseur beim Applaus Hut als Markenzeichen trägt, möchte uns wohl davon überzeugen, dass darunter ein Kopf steckt. In diesem theatralischen Unglücksfall lässt sich zweifelsfrei behaupten: Der Schein trügt." Wo allseits das Schauspielertalent verschleudert werde, spendet der Kritiker das größte Lob für Jens Harzer, der einen abwandernden Herren von der Rampe aus kommentiert habe: "'Ich will's ja auch nicht'". Dazu der Kritiker: "Hat er das ernst gemeint, gebührt ihm ein Orden: für Tapferkeit vor Regiewillkürthronen."

Wesentlich offener für die Grundanlage des Abends zeigt sich Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau (26.03.2010). Perceval habe "Gorkis Durchhaltedrama" mit seiner Umschreibung in "Tschechow-Nähe" verlegt, "hin zum Schattenreich zwischen Hoffen und Verzagen." Er lasse "die Dramaturgie absichtsvoll auf der Stelle treten und die Figuren konsequent aneinander vorbeireden." Perceval verkleinere „die Vorlage aufs (Selbst)Beziehungsdramatische, um so seine Grundfrage ins Übergroße steigern zu können: Wie soll man heute, nach allen Utopien und jenseits des Glaubens an eine sonnige Menschheitszukunft, nicht resignieren? Und wie geht Theater in solchen Zeiten? Bei Perceval ist es ein Abgesang- und Klagetheater, ein Schimpf- und Trauergebet an die untergehende Sonne."

"Wie oft haben wir uns schon über 'Stückzertrümmerer' oder Regiewillkür gewundert", erinnert sich Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (26.03.2010), um den Gedanken umgehend positiv zu wenden: "Diesmal verschafft der Regisseur Gorkis Drama über Mitglieder einer dekadenten Bürgerepoche neue Energien und macht es für uns, die wir heute nicht mehr ähnlich intensiv von besseren Zeiten träumen wie die Menschen damals, verständlich, nachvollziehbar, modern und unterhaltsam." Als "Selbsthilfegruppe für Sinnsucher" fasst die Kritikerin die Darstellung auf und befindet: "Ein insgesamt wunderbares Ensemble, ein gelungener Abend."

Ganz anders sieht das Ulrich Fischer im Deutschlandradio Kultur (24.03.2010). Einmal mehr habe sich herausgestellt: "Perceval wird überschätzt". Sein "Mangel an Talent" sei "schwer übersehbar und seine Einschätzung, er könne Gorki verbessern oder ihm auch nur das Wasser reichen, streift das Komische." Die Bearbeitung ersetze "Gorkis optimistische Geschichtsphilosophie" durch "Percevals neoliberaler Skepsis: nie ändert sich irgendwas, vor allem nicht zum Besseren." Perceval müsse "schwer eingreifen", um "seinem modischen Pessimismus zur Anschauung zu verhelfen." Doch: "Ästhetisch ist das ein Jammer - Gorkis plastisches Meisterwerk wird zum Comicstrip".

Eine "zu Monaden zerfallende Gesellschaft von Nomaden tritt an zu zwei Dutzend Solo-, bestenfalls Duoshows", beobachtet Michael Laages im Deutschlandfunk (25.03.2010) und lobt: "Und eine Menge dieser Soloshows sind ja auch ziemlich klasse - Percevals Ensemble spielt eine Art finster funkelndes Gorki-Kabarett." Einzig der Wegfall einer ganzen "Menge der ursprünglichen Gorki-Motive" sei ein Problem dieses "ebenso kurzen wie prinzipiell kurzweiligen Abends". Im lustigen "Beziehungszoo bei Protassows" bleibe wenig übrig von der Ambition auf "Rettung der Menschheit." Und das erreget die Skepsis des Kritikers: "So ist dieser Abend in jedem Fall, und selbst wo er fast quälend albern wird, sehr klug - nur: klug wozu? Kann und will er sich - wie die Gorki-Menschen das selbst im Irrtum noch konnten - Zukunft überhaupt vorstellen? Wohl kaum. Wenn aber nicht: Wozu dann Gorki - nur um mitzuteilen, wie wenig er uns noch zu sagen hat? Das wäre im Ergebnis doch ein wenig."

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