Im Grunde genommen kaputt

von Esther Slevogt

Berlin, 11. März 2012. Sie sehen ein bisschen wie Untote aus, diese Männer und Frauen mit den weiß geschminkten Gesichtern, den hervorgehobenen Gesichtsfalten und Augenringen. So, als geisterten sie in ihren grauen Anzügen regelmäßig durch diesen Saal, um die Geschichte wieder und wieder zu spielen. Hier, im Europasaal des Auswärtigen Amtes in Berlin, einem Gebäude, das mit einer Menge Geistern umgehen muss: 1934 als erster Staatsbau des Naziregimes für die Reichsbank fertiggestellt, wurde es von 1959-1989 vom ZK der SED genutzt, das in diesem Saal seine Beratungen abhielt.

Die Tonbandmitschnitte dieser Sitzungen des innersten Machtzirkels der Partei hat der Historiker Hans-Hermann Hertle erforscht und herausgegeben, der auch die Idee zu diesem Abend hatte, der nun vom Theater 89 umgesetzt wurde, einem freien Theater, in jenen Monaten gegründet, als die DDR unterging.

Eine heillose Lage
Als Pendants zu den Theatergespenstern am historischen Ort kann man auch einige echte Akteure von einst im Publikum entdecken: Markus Meckel zu Beispiel, vorletzter Außenminister der DDR – heute Ratsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die das Projekt gesponsert hat –, der zur Begrüßung das Wort ans Publikum richtet. Dann steckt man schon mittendrin in den aufgewühlten Debatten der letzten vier ZK-Sitzungen der SED, als Erich Honecker und sein innerster Kreis schon entmachtet waren und Egon Krenz an Honeckers Stelle getreten war. Zu Beginn geht es zunächst noch um die Frage, wie der wachsenden Unruhe, den destabilisierenden Vorgängen begegnet werden könne. Verteidigungsminister Keßler plädiert als Hardliner für rigides Durchgreifen. Es ist ihm der Ernst der Lage klar. Andere, wie Kulturminister Hoffmann, sind schnell bei Fragen der Verantwortung. Doch selbst vorsichtige Versuche weiterer ZK-Mitglieder einer Fehlerdiskussion offenbaren bald eine heillose Lage. Der ganze Abgrund öffnet sich beim Auftritt eines Mitarbeiters aus der Abteilung Wirtschaftsplanung und Finanzen, dessen Redebeitrag klar macht, dass im Grunde schon mit dem Amtsantritt Erich Honeckers im Jahr 1971 die katastrophale Fehlplanung der Wirtschaft begann, über die zu reden aber als parteischädlich galt. "Wir sind belogen worden", sagt eine SED-Funktionärin aus der Provinz. Jetzt, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, tun sich viele Funktionäre leid, und keiner will's gewesen sein.

Das Liedgut als Dokumentar
In der konzentrierten Spielfassung des Theaters 89 geht es weniger um die Gestaltung einzelner Figuren als um Haltungen und Positionen. Also um Herausarbeitung des Endzeitklimas der letzten Tage der SED, die den Menschen, deren Stimmen manchmal über Lautsprecher in den Saal dringen, wenig entgegen zu setzen hatte. Das ist zunächst verwirrend, weil man sich erst einhören muss und anfangs versucht, die jeweiligen Stimmen und Beträge konkreten Figuren zuzuordnen. Zuweilen schälen sich solche Figuren auch aus dem Konzert der Stimmen heraus: der illusionslose wie beinharte Armeegeneral und Verteidigungsminister Heinz Keßler, Egon Krenz oder der Schriftsteller Hermann Kant. Oder der unbedarfte Naivling, als der sich Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann entpuppt. Aber ihr Geist und ihre Worte fahren immer nur sehr kurz in die Schauspielerkörper. Besonders eindrucksvoll in die von Johannes Achtelik, Bernhard Geffke oder Reinhard Scheunemann.

endesed 560 beatenelken xVor dem "Ende der SED" sitzend © Beate NelkenUnterlegt wird das Sprechen manchmal von leise dräuender Orgelmusik oder wortlosen Chorälen, die der Komponist Jörg Huke geschrieben hat. Als szenische Unterteilungen funktionieren fast sachlich (von der Singakademie Frankfurt/Oder) vorgetragene Chorsätze von Liedern, die für die Ideale stehen, mit denen die DDR einst gegründet wurde. Es beginnt mit der Hymne "Auferstanden aus Ruinen", die im Saal von manchem Zuschauer auch leise mitgesungen wird. Brechts Kinderhymne wird ebenso intoniert wie das berühmte Lied der Spanienkämpfer "Unter Spaniens Himmel" oder Louis Fürnbergs berüchtigtes Lied von der Partei, die immer recht hat. Und eben so schrecklich irrte. Umso heilloser die Schilderungen der Lage werden, umso verzweifelter die Funktionäre, desto tiefer dringt das Liedgut in kommunistische Schmerzzonen ein: das Lied der Moorsoldaten, das von den kommunistischen Häftlingen in Nazideutschland erzählt, wird gesungen und danach das aberwitzig unrealistische Erich-Weinert-Lied vom heimlichen Aufmarsch, das die sozialistische Weltrepublik halluziniert.

Die Rückkehr des Individuums
Besonders im zweiten Teil muss man manchmal an Brecht/Eislers Oratorium "Die Maßnahme" denken, das etwa ein halbes Jahrhundert vor den Ereignissen im Herbst/Winter 1989 die Parteidisziplin zur Siegesmaxime der Kommunistischen Bewegung erhob: Abgesang auf das Individuum, dessen Verwirklichung nur noch das Kollektiv garantieren konnte. Nun, in dieser wohltuend zurückhaltend ebenfalls als Oratorium gestalten Verwandlung des dokumentarischen Materials aus dem Jahr 1989, kehrt das Individuum zurück und fragt nach Verantwortung. "Wie hätte ich der Partei besser dienen können?" will beispielsweise der Vorsitzende der Staatlichen Planungskommission Gerhard Schürer auch von sich selber wissen. Etwa dadurch, dass man die Missstände, statt sie zu verbergen, offengelegt und bekämpft hätte? Jetzt ist es zu spät. Das älteste Mitglied der Runde, das 85jährige Staatsratsmitglied Bernhard Quandt, fordert die standrechtliche Erschießung der Verantwortlichen und erzählt tränengeschüttelt noch einmal die Geschichte seines politischen Kampfes, KZ-Haft inklusive. "Mein Leben ist zerstört! Ich habe an diese Partei geglaubt." Dann tritt ein Chormitglied ans Rednerpult und spricht fast tonlos den Text des jüngsten Mitgliedes des Plenums Hans-Joachim Willerding, der seinen Rücktritt erklärt. "Die Partei ist kaputt. Im Grunde genommen." Am Ende stimmt der Chor das berühmte Lied von Johannes R. Becher an, das Hanns Eisler vertont hat "Deutschland, meine Trauer / Du, mein Fröhlichsein."

Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees (UA)
nach einer Idee von Hans-Hermann Hertle
Spielfassung theater 89
Regie: Hans-Joachim Frank, Bühne & Kostüme: Klaus Noack, Musik: Jörg Huke, Dramaturgie: Jörg Mihan, Musikalische Leitung: Rudolf Tiersch.
Mit: Angelika Perdelwitz, Katrin Schnell, Katrin Schwingel, Johannes Achtilek, Bernhard Geffke, Alexander Höchst, Reinhard Scheinemann, Matthias Zahlbaum, Mirko Zschocke und der Singakademie Frankfurt/Oder.

www.theater89.de

 

Kritikenrundschau

Barbara Möller schreibt auf der Webseite des Hamburger Abendblattes (12.3.2012): "Graue Anzüge, graue Schminke, ein paar lebensgroße Puppen als Ersatz für die, die ausgemustert werden oder das sinkende Schiff verlassen" - das reiche der Truppe vom theater 89 zur "Inszenierung des spektakulären Untergangs". Dazu die alten Lieder. Aus der Entfernung von mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten wirke "das bizarre Endspiel durchaus komisch". Etwa wenn der "Chef der Staatlichen Planungskommission, Gerhard Schürer" anführe, dass die "hoch subventionierte Mikroelektronikindustrie 'für 40 Mark' Teile herstelle, die man auf dem Weltmarkt 'für eine Mark fünfzig!' kaufen könne." Allerdings sei kaum gelacht worden. "Das lag vermutlich daran, dass der größte Teil des Premierenpublikums die Misswirtschaft der SED noch aus eigener Erfahrung kannte."

Doris Meierhenrich ist sich in der Berliner Zeitung (14.3.2012) sicher: Was seinerzeit an Gesprächen protokolliert wurde, sei "zweifellos das Interessanteste, Traurigste, Absurdeste, Entlarvendste, was hinter den dicken Mauern des Hauses am Werderschen Markt je protokolliert wurde." Regisseur Frank kreiere eine "Verdichtung und Verfremdung der Geschichte zu einer leicht faschingshaften Abschrift aus Parodie und Pietät." Dabei werde der gegenwärtige, herablassende Blick auf diese scheinbar so ferne Vergangenheit immer mehr untergraben. So zeige der Abend, wie unbeschadet sich die gleichen Machttaktiken und -rhetoriken bis heute fortsetzten.

 

 

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