Warnung vor der Falle

11. Januar 2014. Bei einer Tagung in Berlins Deutschem Theater über Zugangsbarrieren und Konzeptionen sogenannter niedrigschwelliger Kulturvermittlung kam es zu Protesten von Menschen, die unter den Sammelbegriffen "Gruppierungen", "Milieus", "Bevölkerungsgruppen" zum Objekt der Betrachtung wurden, diese Degradierung aber nicht hinnehmen wollten.

Von Esther Slevogt

 

Berlin, 11. Januar 2014. Das eindringliche Beispiel, wie schnell gut gemeinte Kulturvermittlung ihren kolonialistischen Januskopf entblößt, brachte am zweiten Tag der Konferenz "Mind the Gap" Alexander Henschel. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Universität Oldenburg berichtete von einem Versuch des Bozener Museums für Moderne Kunst, Kunst zum Volk zu bringen, wenn schon das Volk nicht zur Kunst kommt. Das sozial schwache, in der Bel Etage der Hochkultur gern auch als bildungsfern wahrgenommene Volk. Eines Tages waren freundliche Museumsmitarbeiter auf die Idee gekommen, auf der anderen Seite des Flusses Etsch (beziehungsweise Adige, wie er auf Italienisch heißt und Bozen alias Bolzano nicht nur in eine deutschsprachige und eine italienischsprachige Bevölkerung teilt, sondern auch eine soziale Grenze markiert) ein kleines Museumspendant zu errichten.

Achtung: Lücke

Und so kam es, dass auf dem Spielplatz einer Wohnsiedlung ein zwei mal zwei Meter großer Kubus aufgestellt wurde, in dem nun Objekte des Museums auch jenen Bevölkerungsgruppen zur Anschauung gebracht werden sollten, die sonst niemals das Museum betreten würden. Doch statt eines Sturms auf das Museum brach ein Sturm der Entrüstung los. Nicht nur, dass für den Kubus ein Klettergerüst entfernt worden war. Auch gab es im Viertel ein eigenes Kulturzentrum, das not amused auf den feindlichen Übernahmeversuch von der anderen Seite des Flusses reagierte. Die Leute im Viertel fanden sich selber auch mitnichten so kulturlos, wie die herrschaftliche Attitüde suggerierte, mit der das Museum ihren Lebensbereich geentert hatte.

mindthegap birgitmandel alexanderhenschel 560 sle uKonferenzleiterin Birgit Mandel, Referent Alexander Henschel © sleEs war auch Alexander Henschel, der auf den Ursprung des Wortes "Kulturvermittlung" im wilhelminischen Deutschland verwies, einer Zeit also, in welcher in Deutschland der Kolonialismus blühte. Damit machte Henschel deutlich, woran das Konzept der Kulturvermittlung krankt. Dass nämlich die Vermittler erst einmal scharfe Grenzen ziehen, bevor das Vermitteln beginnt: zwischen sich selber, ihrer Mission und denen, die missioniert werden sollen. Dass also der Diskurs bereits an seiner eigenen Verfasstheit krankt.

Sportler-Demo gegen die Oper

Man kann also nicht sagen, die Veranstalter hätten nicht um die Problematik des Gegenstandes ihrer Tagung gewusst. "Mind the Gap" war sie überschrieben, vom Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim konzipiert und zusammen mit der Kulturloge Berlin durchgeführt. Die Kulturloge ist eine gemeinnützige Intiative, die seit 2009 nicht verkaufte Karten Berliner Kulturveranstaltungen an Menschen mit geringem Einkommen vermittelt. An zwei Tagen wurden im gastgebenden Deutschen Theater Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten sowie Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung diskutiert. Die Veranstalter waren, eigenen Informationen zufolge, von Anmeldungen überrannt worden und schon sechs Wochen vor Beginn der Tagung restlos ausgebucht. Aus der ganzen Republik waren Mitarbeiter von Kulturinstitutionen, Theateröffentlichkeitsarbeiter, Museumsleute und Kulturbüroleiter angereist.

Denn die Legitimation dieser Institutionen ist fragwürdig geworden. Und damit auch ihre Finanzierung zunehmend gefährdet. In Bonn hat es Berichten eines Referenten zufolge bereits eine Demonstration von Sportorganisationen gegen die Oper gegeben, da eine einzige Opernaufführung so viel koste, wie im ganzen Jahr in Bonn für den Breitensport ausgeschüttet werde. Konfrontationen dieser Art, so Max Fuchs, langjähriger Leiter des Deutschen Kulturrates und Honorarprofessor für Kulturarbeit an der Universität Duisburg-Essen, werde die institutionalisierte Kultur nicht lange standhalten können, wenn sie nicht begänne, ihre Grundlagen zu überprüfen. Dabei gelte es auch, innere Strukturen zu reformieren, und nicht nur aus einem Selbsterhaltungsreflex heraus zu agieren.

Hochideologisches Hochkultur-Konzept

Gewiss ist die Tagung und der Ansturm auf sie an sich Indiz dafür, dass ein Nachdenken eingesetzt hat in den Institutionen der Hochkultur. Trotzdem beschlich einen während der beiden Tage immer wieder das Gefühl, dass es genau dieser Selbsterhaltungsreflex ist, der hier das (Erkenntnis-)Interesse an denen so explosionsartig gefördert hat, die man als Publikum, Kartenkäufer, also Kunden dringend für das Weiterleben benötigt. Audience Developement heißt das Zauberwort, das keiner so genau als Marketinginstrument benennen wollte. Denn Marketing, das gehört in die böse Welt des Konsums, von der sich die Künste in der Regel gerne distanzieren.

Immer wieder wurde an den beiden Konferenztagen aus ganz unterschiedlichen Richtungen thematisiert, dass bereits das Konzept der Hochkultur selbst hochideologisch und daher zunehmend problematisch ist. Kunst sei alles andere als harmlos, hatte es Max Fuchs am ersten Konferenztag formuliert. Im Gegenteil: Kunst sei ein hochgradig sozial wirksames Distinktionsmerkmal. Der auratische bürgerliche Kunstbegriff müsse sich ändern: "Nicht die Kunst ist autonom, sondern der Mensch."

Geenterte Bühne

Dass nicht nur der Kunstbegriff sondern auch manch wissenschaftlicher Diskurs dringend revisionsbedürftig ist, sprang einen während so mancher Veranstaltung im Kontext der Tagung an: Vera Allmannritter von der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg, die einen Workshop mit der schönen Überschrift "Abbau von Barrieren für bestimmte Migrantengruppen" leitete, musste sich während ihrer Präsentation der "Ergebnisse einer Migranten-Milieu-Studie zu Barrieren und Anreizstrategien" eigentlich von jedem einzelnen Begriff distanzieren, mit dem sie operierte, die sich nämlich ziemlich ausnahmslos als hochgradig ideologisch kontaminiert entpuppten und damit als zur Wahrheitsfindung gänzlich ungeeignet. Trotzdem wurde die Operation grundsätzlich nicht in Frage gestellt. So ist zu befürchten, dass am Ende nicht der Patient, sondern der Arzt tot ist. Weil er immer die anderen für die Kranken hält, statt in sich selbst den Patienten zu erkennen.

mindthegap intervention 560 sle uKritische Intervention: Die Gegenveranstaltung "Mind the Trap!" © sle

Es war dann auch kaum verwunderlich, dass diejenigen, die bei der Tagung unter den Sammelbegriffen "Gruppierungen", "Milieus", "Bevölkerungsgruppen" usw. zum Objekt der Betrachtung wurden, diese Degradierung nicht hinnehmen wollten und selbst das Wort ergriffen. Bereits zum Auftakt der Konferenz hatten Vertreter eines "Bündnisses kritischer Kulturpraktiker_Innen" in einem Akt der Selbstermächtigung die Bühne geentert und mit einer kurzen Intervention auf wesentliche Defizite des Konferenzkonzepts hingewiesen. Unter anderem darauf, dass von denen, über die geredet werden sollte, keiner eingeladen worden ist, um über sich selbst Auskunft zu geben. Geschweige denn in die Konzipierung der Tagung miteinbezogen war.

"Wir lassen euch jetzt in eurer Parallelgesellschaft allein", verabschiedeten sie sich nach einigen Minuten freundlich. Nicht ohne vorher auf eine in Planung befindliche Gegenkonferenz hinzuweisen, die "Mind the Trap" überschrieben ist und deren Konzept als work in progress am Tag darauf auf einer Pressekonferenz vor dem Deutschen Theater vorgestellt wurde. "Ich lasse mich nicht von dem Land kolonisieren, in dem ich geboren bin!", rief Cigir Özyurt vom Berliner Jugendtheaterbüro, das sich dem Bündnis angeschlossen hat. Mit Projekten wie "Kultür auf!" oder dem "Festiwalla" (die 2013er Ausgabe stand übrigens unter dem Motto "Was heißt hier bildungsfern?") im Haus der Kulturen der Welt arbeitet das Jugendtheaterbüro längst an der Schaffung neuer Wege aus der Sackgasse gegenwärtiger kulturpolitischer Notstandsgebiete. Dabei präsentierten die Planer der Gegenkonferenz auch eine Liste mit Namen, deren Träger sie als Gap-Experten gerne auf der aktuellen Tagung im Deutschen Theater gewusst hätten. Darunter Nurkan Erpulat und Shermin Langhoff, deren Karrieren man allerdings auch als Indiz dafür werten könnte, dass die Lage so hoffnungslos nicht ist, wie sie auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters dargestellt wurde. Was jedoch niemanden in Sicherheit wiegen sollte: Hinter vielen Lücken verbergen sich nicht nur Fallen, es klaffen manchmal noch Abgründe darunter.

 

{denvideo https://www.youtube.com/watch?v=JTN3WT4lAaY}

 

Mind the Gap. Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung. Fachtagung des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim mit der Kulturloge Berlin am 9. und 10. Januar 2014 im Deutschen Theater Berlin.
Wissenschaftliche Tagungsleitung: Birgit Mandel, Thomas Renz.

Veranstalter und Kooperationspartner
www.uni-hildesheim.de
www.kulturloge-berlin.de

Kooperationspartner
www.deutschestheater.de
www.kupoge.de
www.paritaet-berlin.de

Förderer
www.bundesregierung.de

Gegenveranstaltung
mindthetrapberlin.wordpress.com

 

Konferenzleiterin Birgit Mandel, Professorin an der Universität Hildesheim, legte im Kontext der Hildesheimer Thesen vergangenes Jahr dar, wie interkulturelles Audience Developement Relevanz stiften kann.

 

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