Muttersprache: mehrere

7. Februar 2024. Lange galt: Auf deutschsprachigen Theaterbühnen wird Deutsch gesprochen. Aber das ändert sich, viele Stücke und Aufführungen verweben mittlerweile mehrere Sprachen. Leichter macht's das nicht, doch Mehrsprachigkeit erzählt viel von den Reformprozessen – im Theater und in der Gesellschaft.

Von Hannes Becker

Sivan Ben Yishais "Bühnenbeschimpfung" 2022 am Maxim Gorki Theater Berlin © David Baltzer

7. Februar 2024. Als Sivan Ben Yishai 2022 für ihr Stück Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin) den Mülheimer Dramatikpreis für das beste Stück des Jahres erhielt, ging bei der überfälligen Ehrung für die Autorin der vielleicht auffälligste Aspekt des Gewinnerstücks etwas unter: seine Mehrsprachigkeit. In dem zugleich sehr lustigen und sehr traurigen Text erhält die Autorin, stellvertretend für alle in der Shoah ermordeten Jüd*innen, vom deutschen Staat drei Milliarden Euro Wiedergutmachung. Fortan reitet sie auf dem Rücken einer Deutschen Schäferhündin durch die deutsch-israelisch-palästinensische Geschichte, in einer Mischung aus Superheldin und malträtierter Zeitreisender – "Opfer und Täterin zugleich, Anklagende und Angeklagte, über allem stehend und mit allem verstrickt", in den Worten des uraufführenden Nationaltheaters Mannheim.

Der Stücktext selber enthält, auch in der Übersetzung von Maren Kames, alle im Schreibprozess der Autorin verwendeten Sprachen (Hebräisch, Englisch, Deutsch, außerdem Jiddisch und Arabisch). Mehrsprachigkeit ist hier nicht nur Schreibvoraussetzung, wie bei den anderen Stücken Ben Yishais. Mehrsprachig ist der Text selbst und damit potentiell auch dessen Aufführung.

Auch etliche andere Dramatiker*innen treten derzeit mit mehrsprachigen Texten an die Öffentlichkeit: etwa Thomas Perle (karpatenflecken, UA 2021 am Deutschen Theater Berlin und 2023 am Burgtheater Wien), Raphaela Bardutzky (Fischer Fritz, UA 2022 am Schauspiel Leipzig) und Allex. (Liat) Fassberg (Etwas kommt mir bekannt vor, UA 2018 Burgtheater Wien, und In the name of, UA 2022 Münchner Kammerspiele). Hinzu kommen Übersetzungen mehrsprachiger Stücke: Wajdi Mouawads umstrittenes, in Paris mehrsprachig uraufgeführtes Stück Vögel (Tous des oiseaux) wird für Aufführungen im deutschsprachigen Raum in einer einsprachigen (Deutsch von Uli Menke) und einer viersprachigen Version angeboten (Hebräisch, Englisch, Arabisch und Deutsch).

Verbundenheit der Lebenswirklichkeiten

Mehrsprachigkeit (ob im Theater oder anderswo) ist direkter Ausdruck für die Diversität der Lebenswirklichkeiten einer Gesellschaft – und für die Verbundenheit dieser Wirklichkeiten. Denn Merkmal linguistischer Mehrsprachigkeit ist nicht allein die Präsenz und das Nebeneinander verschiedener Sprachen. Entscheidend ist vor allem die Erfahrung des Übergangs von einer Sprache zur anderen und zurück, die Anpassung des "Richtigen" an das "Erforderliche", die pragmatische Dimension eines Sprachgebrauchs, der nach immer neuen Regeln spielt und erlernte Regeln notfalls verwirft und verändert.

Dazu gehört neben der vordergründigen Sprachkompentenz der Umgang mit sozialen Codes, jene große Anpassungsarbeit an immerzu wechselnde Erfordernisse, die mehrsprachige Personen in besonderer Weise zu leisten in der Lage sind, genauso wie sozial diverse Personen, die zwischen Klassen wechseln, Rassismus erleben und widersprüchlichen Identitäts-Zuschreibungen unterliegen. Die Übertragung dieser Themen auf die Theaterarbeit liegt ebenso nahe: Das Code-Switching, also die Fähigkeit, die Sprache, das eigene Sprechen, aber auch den non-verbalen Ausdruck je nach sozialem Kontext zu wechseln, korrespondiert mit der Fähigkeit von Schauspieler*innen, zwischen verschiedenen Rollen zu wechseln und sich an ein Publikum zu richten, das von Abend zu Abend, Aufführungsort zu Aufführungsort ein anderes sein kann und nicht dieselben Voraussetzungen teilt.

Für einige unverständlich? Aber ja!

Auch Fans mehrsprachiger Theaterkunst müssen zugeben: Wer mehrsprachig inszeniert, forciert eine Situation, in der das Publikum eine uneinheitliche Wahrnehmung des Abends machen wird. Thomas Perles Stück karpartenflecken, das den Nestroypreis für das beste Stück 2023 gewonnen hat, ist neben dem Deutschen, Ungarischen und Rumänischen überwiegend in Zipserisch oder Wischaudeutsch verfasst, eine aus dem Altösterreichischen, Rumänischen, Ungarischen und Jiddischen amalgamierte Sprache, die nur von einer kleinen Minderheit innerhalb der deutschsprachigen Sprecher*innen-Gemeinschaft in Rumänien gesprochen wird. Die Wenigsten, die den Abend im Deutschen Theater Berlin oder dem Burgtheater Wien gesehen haben, werden in der Lage gewesen sein, ihn auf der sprachlichen Ebene komplett zu verstehen.

Mehrsprachigkeit als Gestaltungsprinzip: Autorin Sivan Ben Yishai © Max Zerrahn

Allerdings: Das Problem, potenziell nicht für alle verständlich zu sein, teilen mehrsprachige mit einsprachigen Inszenierungen. Und interessanterweise gleichen sich auch die Strategien, um mögliche Verständnisschwierigkeiten zu überbrücken. Wie die Verdi-Oper mit dem Libretto auf Italienisch, wie das gefeierte Gastspiel auf Französisch und wie mitunter das deutschsprachige Repertoirestück, das "internationalen Gästen" zugänglich gemacht werden soll, so werden auch mehrsprachige Stücke in der Regel mit Übertiteln versehen.

Mehrsprachigkeit bedeutet insofern mehr Arbeit: genauere Planung und gegebenenfalls höhere Kosten in Probenarbeit und Budgetierung, erhöhter Aufwand in der Vermarktung und Vermittlung der Stücke gegenüber dem Publikum. Doch: Wofür (oder wogegen) wird hier eigentlich gearbeitet? Und lohnt sich die Mühe?

Im deutschen Theater regiert die Einsprachigkeit

Um Anspruch und Potenzial mehrsprachiger Theaterarbeit genauer zu erfassen, muss der Verlockung widerstanden werden, die vielen aufschlussreichen und faszinierenden Beispiele theatraler Mehrsprachigkeit aufzuzählen, aus denen sich über Länder- und Epochengrenzen hinweg das hoffnungsvolle Bild eines kultur- und spartenübergreifenden mehrsprachigen "Welttheaters" zeichnen ließe, um stattdessen im speziellen Hier und Jetzt des deutschen Stadt- und Staatstheaterbetriebs zu verweilen. Mehrsprachigkeit mag auch in Deutschland normal sein, die Norm ist sie deswegen nicht, sondern die faszinierende Ausnahme. Das "deutsche" Theater heißt nicht umsonst so – hier, wie auch im Bildungssystem, regiert seit mehr als 150 Jahren: Einsprachigkeit.

Die Einsprachigkeit der deutschsprachigen Ensemble- und Repertoire-Theater hat ihre historischen Gründe: Theater ist als Ausdruck des (etwa von Wilhelm von Humboldt formulierten) Gedankens einer monolingualen Kulturnation entstanden, in einer Situation der Abwesenheit einheitlicher politischer Staatlichkeit und fehlender Partizipation der bürgerlichen Klassen. Die soziale Realität war da schon lange mehrsprachig – wovon in Deutschland bis heute sieben gesetzlich anerkannte, sogenannte "Minderheitensprachen" zeugen (Dänisch, Romani, Ober- und Niedersorbisch, Nordfriesisch, Saterfriesisch, Niederdeutsch). Mehrsprachig ist die soziale Realität nach wie vor – neben dem Hochdeutschen sprechen in Deutschland Millionen Menschen Türkisch, Russisch, Arabisch, Polnisch, Englisch, Ukrainisch.

Und auch im Theater gibt es eine lebendige mehrsprachige Tradition, die sich bis zu Lessings Minna von Barnhelm zurückverfolgen lässt. Der Hallodri Riccaut de la Marliniere spricht in dem Stück eine Mischung aus Französisch und Deutsch, und komödiantische Effekte werden dadurch erzielt, dass Riccauts Gesprächspartner*innen ihn je nach Bildungstand und Klassenzugehörigkeit verschieden oder gar nicht verstehen. Dem ungeachtet dominiert im Normalbetrieb der Theater hierzulande bis heute die Literatursprache Deutsch.

Hierarchie der Sprachen

Einsprachigkeit im Theater bedeutet dabei nicht unbedingt, dass auf den Bühnen nur Deutsch gesprochen wird. Einsprachigkeit bedeutet vor allem, dass die innerhalb einzelner Inszenierungen oder Stücktexte verwendeten Sprachen, wie auch sonst in der Gesellschaft, einer sozialen Hierarchie unterliegen. Auf den Punkt bringt es der Klappentext von Olga Grjasnowas Buch Die Macht der Mehrsprachigkeit: "Einige wenige Sprachen haben heute einen hohen Marktwert, und zwar solche, die für den Bildungserfolg und die Karriere nützlich erscheinen. Während diese durch Kurse erlernt und durch Tests und Zertifikate bestätigt werden, gelten viele andere in Deutschland eher als Integrationshindernisse." Mit einer derartigen Hierarchisierung sprachlicher Vielfalt kann umgegangen werden, einfach ignoriert werden kann sie nicht.

AP  04020120007900780023012506030404,,536351 Dreisprachiges Theater: Das Deutsch-Sorbische Volkstheater Bautzen © Julian Nyča

Im Theater zeigt sich das besonders in den lustigen Momenten: Aus dem sozialen Machtgefälle zwischen den Sprachen ergibt sich die komödiantische Fallhöhe vieler mehrsprachiger Stücke und Inszenierungen. Und zwar sowohl bei hegemonial als auch bei emanzipatorisch eingesetzter Mehrsprachigkeit – zugespitzt gesagt: imitierte Akzente, tölpelhafte Mundart, tumbe Bedienstete auf der einen Seite, positive Umdeutung, Machtkritik, Empowerment auf der anderen.

Ob es aber gelingt, wie in Nurkan Erpulats Romanadaption Dschinns, durch theatrale Mittel eine Neubewertung etwa des Arabischen, Türkischen, Kurdischen zu erreichen und dann noch einen "Common Ground" mit der Mehrheitsgesellschaft zu finden, liegt nicht alleine in der Hand der Theatermacher*innen, sondern hängt von der Art und Weise ab, wie der größere soziale Kontext und aktuelle Ereignisse in die Theatererfahrung hineinspielen. Ein Theater wie das Gorki-Theater in der mehrsprachigen Stadt Berlin oder das Sorbische National-Ensemble in der mehrsprachigen Lausitz können ein eigenes Publikum gewinnen, das die gezeigte Mehrsprachigkeit feiert und sich darin wiederfindet, egal ob die in den Aufführungen verwendeten Sprachen nun genau die "eigenen" sind oder nicht. Schon in einer Stadt wie München aber kann allein die Wahl eines englischsprachigen Stücktitels Bedenken und Abwehrreaktionen auslösen. Und die politischen und persönlichen Spannungen, die etwa Yael Ronen so gekonnt in spannende mehrsprachige Theaterabende zu verwandeln versteht, können auch zu groß werden: Das zeigte die Absage des Stücks The Situation am Gorki-Theater, nach den Massakern der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023.

Politische Fragen, in den Theaterraum zitiert

Hinter handwerklichen Fragen der Vermittlung von Mehrsprachigkeit liegen immer auch politische Fragen, die sich der Vermittlung entziehen. Verstehen ist das eine – hierbei unterstützen Übersetzer*innen, Dolmetscher*innen und Übertitler*innen qua Beruf. Verständnis und Verständigung hingegen sind eine Ensemble-Leistung der ganzen Gesellschaft. Mehrsprachigkeit im Theater zuzulassen bedeutet: Nicht-Verstehen zuzulassen, mehrere Publika statt eines Publikums anzusprechen und die real Anwesenden bei einer Theateraufführung heterogen zu adressieren. Außerdem: sich Probleme einzuhandeln, die ohnehin da sind. Wer Sprachen wie Türkisch und Kurdisch, Hebräisch und Arabisch, Russisch und Ukrainisch, vor allem aber: Deutsch und jede andere Sprache zusammen auf die Bühne bringt, ruft beinahe zwangsläufig vorhandene politische Konflikte in den Theaterraum hinein. 

Andererseits wird so eben auch klar: Momente des Nicht-Verstehens sind häufig das, wovon mehrsprachige Inszenierungen leben – Nicht-Verstehen, Missverstehen, Verstummen und Zum-Schweigen-Bringen, Machtverhältnisse und Gewaltakte, die direkt die Sprechfähigkeit der Spieler*innen betreffen. Dass es nicht selbstverständlich ist, gehört und verstanden zu werden und bei einem Gegenüber Verständnis zu finden, ist in mehrsprachigen Aufführungssituationen weniger Hindernis als vielmehr Grund und Voraussetzung, um das Wort zu ergreifen, sich an andere zu wenden und ihrem Urteil auszusetzen. Mehrsprachigkeit ist eines jener Querschnittsthemen, in denen das Theater nicht nur im Inhalt, sondern der Form nach politisch wird.

Erweiterung von Sprechfähigkeit

In Thomas Perles karpatenflecken, dem allein schon vom Umfang der entsprechenden Passagen her "mehrsprachigsten" Stück der letzten Saison, zeigt sich der politische wie ästhetische Einsatz multilingualen Schreibens was den Umgang mit sozialer Diversität angeht: In karpartenflecken sprechen nicht nur Menschen, auch Bäume und Berge kommen hier zu Wort, Einzelwesen ebenso wie Gruppen. Dafür bedient sich der Autor der Form des Konversationsstücks und des epischen Theaters ebenso wie Verfahren der konkreten Poesie. Zugleich zeigt das Stück die Gegensätze, die sich auftun, wenn sich die Mitglieder einer mehrsprachigen Minderheit für die eine oder andere Sprache entscheiden und wenig überzeugend versuchen, nun ausschließlich "Ungarn", "Rumänen" oder "Deutsche" zu sein. Diversity aus der Perspektive eines Stücks wie karpatenflecken meint: gegen die Überschreitung der Grenzen des Sagbaren – das heißt, einer Verschiebung des politischen Diskurses nach rechts – eine Erweiterung der Sprechfähigkeit zu setzen und ein wirksames Agieren vieler Sprecher*innen-Gruppen zu begünstigen und zu ermöglichen.

karpatenfleckenvon THOMAS PERLEPremiere am 7.5.2023 im Vestibülmit ELISABETH AUGUSTIN, STEFANIE DVORAK, LENA KALISCHRegie: MIRA STADLERBühne: MORITZ MÜLLERKostüme: ELENA KREUZBERGERMusik: BERNHARD EDERLicht: ENRICO ZYCHDramaturgie: ALEXANDER KERLINMehrsprachigstes Stück der letzten Saison: "Karpatenflecken" von Thomas Perle, hier am Wiener Burgtheater © Marcella Ruiz Cruz

Dazu kommt die politische Relevanz mehrsprachigen Arbeitens für das Theater selbst: Gängige Hierarchien, etwa zwischen Regie und Schauspieler*innen, aber auch zwischen Performer*innen und Publikum müssen hinterfragt werden. Mehrsprachige Theaterarbeit ist in überdurchschnittlichem Maße Zusammenarbeit, bei der nicht länger das Können und die Vision der regieführenden Person allein entscheidend ist. Mehrsprachige Inszenierungen können insofern – auch dann, wenn sie die Ausnahme bilden – ein Modell für die (Weiter-)Entwicklung kollaborativer und solidarischer Arbeitsweisen im Theater sein und ihre Rolle bei den anstehenden großen Theaterreformen spielen.

In Netzwerken und im Austausch entstanden

Dazu passt, dass regieführende Autor*innen wie Yael Ronen oder "nur" schreibende Autor*innen wie Sivan Ben Yishai, Raphaela Bardutzky, Allex. (Liat) Fassberg und Thomas Perle stets den Geist der Zusammenarbeit betonen. Sie nehmen keine Einzelautor*innenschaft in Anspruch, sondern verweisen auf die Netzwerke aus Kolleg*innen, Übersetzer*innen, Kompliz*innen, denen sich ihr Schreiben verdankt. Gleichzeitig zielen sie mit ihren mehrsprachigen Texten nicht nur auf eine Nische, sondern auf das Theatersystem in seiner Gänze. Es geht ihnen um den Anspruch, gemeinsam mit ihren Communities zentrale Positionen einzunehmen und voll und ganz von den produktiven Ressourcen zu profitieren, die sie durch ihre Arbeit mit hervorbringen. So spricht Thomas Perle einerseits von der Notwendigkeit multilingualer Castings und Ensembles als Voraussetzung für mehrsprachiges Schreiben. Andererseits aber schreibt Perle zu Beginn von karpatenflecken, für dessen Inszenierung seien "muttersprachler nicht ausdrücklich erwünscht". So ist das im Stück verwendete Wischaudeutsch als "kunstsprache" notiert, als in Versen gesetzte Lautschrift. Damit kann karpatenflecken auch von Personen gesprochen werden, welche die Sprache "eigentlich'" nicht sprechen.

Was als Kompromiss mit dem einsprachig aufgestellten Stadt- und Staatstheaterbetrieb angesehen werden kann, ist auch eine Strategie zu dessen Veränderung von innen heraus: Einladung und Forderung an die Mehrheitsgesellschaft, sich zu bewegen. Mehrsprachigkeit und Diversity sind in ihrer Verknüpfung nicht nur ein Spezialproblem bestimmter Gruppen, sondern betreffen "uns alle" – wenn auch nicht alle in gleicher Weise. Das macht differenziertes Sprechen, Zuhören, Abwarten, und Schweigen nötig – politische Tugenden ebenso wie Dimensionen künstlerischer Ausdrucksfähigkeit. Und das ist erst der Anfang. Schon wegen der Klimakatastrophe und der resultierenden Migrationsbewegungen, prophezeite Yael Ronen 2021 bei der Diskussionsrunde "Ist die neue Bühnenrealität mehrsprachig?" im English Theatre Berlin, werden schon sehr bald auf deutschen Bühnen Sprachen zu hören sein, die dort noch nie zu hören waren. Auch wenn die Katastrophen der Gegenwart genug Anlass geben, den Mut zu verlieren: Um die Erneuerung der Kunstform Theater in der Zukunft müssen "wir" uns also keine Sorgen machen. Demzufolge lohnen die Mühe und der Mehraufwand, die mehrsprachige Texte und Aufführungen mit sich bringen – sie zahlen ein auf die Zukunft.

Hannes Becker ist Autor und Übersetzer. Unter anderem hat er "Das Vermächtnis" von Matthew Lopez aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Mit dem Dramatiker Wolfram Lotz schrieb er den Text 27 Forderungen an das Theater und hat 2020 das Theaterautor*innen-netzwerk mitgegründet. Dieser Text verdankt sich seinem Engagement beim Verein Drama Panorama und präsentiert Zwischenergebnisse einer 2021 begonnenen und weiter andauernden Recherche des Vereins zum multilingualen Theater in Deutschland, Europa und weltweit.

 

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Kommentare  
Mehrsprachigkeit: Inklusive Übertitelung
Viele kluge Gedanken, für deren Verdauung es Zeit braucht. Formidabel!

Eine ergänzender Hinweis zwischenab: Wie ist zu verstehen, dass (mindestens an Berliner Staatstheatern) deutsche Sprechtexte zunehmend häufig englisch übertitelt werden, während englischer Sprech- oder Songtext häufig nicht übertitelt wird? (So zuletzt mehrfach am Gorki-Theater erlebt, aber auch andernorts. Während "Bucket List", so diskutabel die Arbeit auch sein mag, hier jedenfalls vorbildlich konsequent zweisprachig deutsch/englisch übertitelt.)

Vorauszusetzen, dass stücktragende englischsprachige Passagen von jedermann verstanden wird (akustisch, sprachlich) erscheint mir doch recht engstirnig. Zumindest exkludiert es auch einen wesentlichen Teil des Publikums, in einem Land, in dem die Amtssprache Deutsch ist und die meisten Theater ganz überwiegend durch Steuerzahlungen einer zumindest nennenswerten deutschsprachigen Community subventioniert sind.

Hier wünsche ich mir bei aller Feier der Vielsprachigkeit (gern auch mehr Französisch, Russisch, Griechisch, Mandarin, Hebräisch, Arabisch, Serbisch, Italienisch, etc.), dass konsequent inklusiv übertitelt wird. Die Inklusion der Einen zur Exklusion der Anderen zu machen, ist mindestens halbherzig. Schauen Sie mal aufmerksam hin, beim nächsten Übertiteltheaterabend.
Essay Mehrsprachigkeit: Vorreiter Offtheater
Es klingt ja alles so neu. Und so progressiv divers, wenn sich nun in den 2020iger Jahren etablierte Theater der Mehrsprachigkeit widmen.

Aber auch hier war das sog. OFFtheater dem sehr sehr weit voraus.
Die oben Genannten sind nurmehr Epigonen in guten Positionen.

Schon Ivan Stanev (kürzlich verstorben) inszenierte in den Jahren um 2000/2002 in den Berliner Sophiensälen seine Stücke mehrsprachig (u.a. Deutsch/Russisch/Französisch/Englisch/Italienisch) meist übertitelt.

2006-07-08 präsentierte die Berliner FORMATION INVASOR – geleitet vom Dichter/Dramatiker Paul M. Waschkau – auf sehr spezielle Weise dramatische Textcollagen wie LA NOTTE oder DIE OZEANISCHE NACHT oder ARTAUD in der theaterkappelle berlin f’hain ( u.a. auf Deutsch; Italienisch; Polnisch, Französisch Englisch, Brazil-Portugiesisch) mit Darsteller:innen aus den jeweiligen Ländern – nicht untertitelt. Allerdings spürte ich als Zuschauerin, dass die fremdsprachigen Textanteile irgendwie auch auf Deutsch vorkamen oder dass man sie erspüren konnte ohne Sprachkenntnisse.

Das war zu der Zeit sehr exotisch und außergewöhnlich sinnlich.
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