Ich bin eine Shakespeare-Figur – holt mich hier raus!

von Tim Schomacker

Hamburg, 23. Januar 2014. Der alte Zauberer ist müde. "Nicht einmal mehr der Hass berauscht mich", raunt Prospero seinem dienstbaren Ariel zu. Was immer Edles einige hundert Jahre Shakespearerezeption schon in den magisch befähigten, buchbewehrten Inselherrscher hineingelesen haben mögen, an diesem Abend ist das alles weggeschlossen in Josef Ostendorfs voluminösen, die Lebensmüdigkeit seiner Figur nuanciert auskostenden Körper. Beim Ankleiden schafft er es gerade mal so bis zum Bademantel. Die meiste Zeit ersetzt ein elektrischer Rollstuhl die schweren Beine. Allein wenn er – aus dem Rollstuhl – Caliban mit einem harten Wasserstrahl piesackt, Elektroschocks gleich, die den vormals "Wilden" erinnern sollen, wer ihn gründlich durchzivilisiert hat, oder wenn er Ariel feldherrngleich die nächste magische Inszenierung auseinandersetzt, leuchtet in seinen Blicken und Gesten etwas auf vom früheren Glanz.

Ein Glanz, der in der Lesart der polnischen Regisseurin Maja Kleczewska freilich eher an das staub- und knitterfreie Strahlen des gönnerhaft machtbewussten Waffenhändlers in einem gottverdammten potenziellen Bürgerkriegsgebiet erinnert als an den exilierten Hort europäischer Frühstaufklärung. Marcin Chlandas Bühne umgreift die Inszenierung im Look eines heruntergekommenen Hotels oder Landhauses, das – mondän-europäisch wie es sich gibt – dort, wo es steht, gewiss nicht hingehört. Der Plexiglaskasten, die diversen mit ältlichen Lampen und Tapeten gestalteten Flure, die riesig über dem Geschehen thronende Videowand wirken dabei wie ein Re-Import stilbildender Bühnenbildkunst Marke Volksbühne.

sturm 560a thomasaurin hFerdinand und Miranda knutschen, Prospero guckt aus dem Fenster: "Der Sturm". © Thomas Aurin

Schleimiger Seelenabgrund der Gegenwart
An Prosperos Gewalt- und Ostendorfs spielerischem Potenzial richtet Kleczewska, die nach diversen Preisen und Erfolgen in Polen in Hamburg erstmals an einem deutschsprachigen Theater inszeniert, ihre Sicht der "Sturm"-Dinge aus. "Des Menschen Seele ist ein dunkler, schleimiger Abgrund", bringt Prospero diese Sicht auf den Punkt. Wir haben es mit Seelen und Abgründen des frühen 21. Jahrhunderts zu tun. Was am Deutlichsten daran zu merken ist, dass Kleczewska und ihr Dramaturg Lukasz Chotkowski in ihrer Spielfassung aus Insel-Exotik, Machtgefüge und Magie ein Beziehungsgeflecht komplettglobalisierten Postkolonialismus' herausfiltern.

So werden aus den clownesken Seeleuten Trinculo und Stephano zwei Frauen (souverän in ihrer grausamen Fahrigkeit: Kathrin Wehlisch und Carolin Conrad), die an mit dem Flugzeug leicht erreichbaren Traumstränden nach sexueller Erfüllung suchen (was stark an "Paradies: Liebe" von Ulrich Seidl erinnert). In bezeichnendem Auseinanderklaffen von Sprache und Handhabung schleudert Wehlisch den von Michal Czachor mit auswegloser Agilität gespielten Caliban in bizarren Beischlafanbahnungsspielchen zu Boden, während sie ihre vulgär-trunkene Freundin anherrscht: "Das ist mein Untertan, und der erduldet hier keine Beleidigungen."

Tot, verrückt oder lebensmüde
Vorlagengetreu kommen Fürstentochter Miranda und Königssohn Ferdinand zu einander. Weil ihrer Liebe hier jegliche Unschuld, jegliches utopisch-tröstliche Potenzial gründlich ausgetrieben wurde, setzt Maja Kleczewska mit diesem unwahrscheinlichen Ende ein. Prospero rollt heran, spuckt während der Brautrede erstmal Blut. Die Hochzeitsgesellschaft ist von einer Waffenstillstandsverhandlung kaum zu unterscheiden. Gerade mal so kann die Konvention das Wiederaufflammen der Kämpfe eindämmen. Und das sicherlich nur für den Moment. Unwahrscheinlich, weil die, die hier einander heiraten, verzeihen, beschenken oder auch nur verkniffen fröhlich zuprosten wollen, im Grunde längst tot oder verrückt geworden oder von Lebensmüdigkeit gelähmt sind – was (in der Geschichte) vorher geschah, aber (auf der Bühne) erst im Anschluss recht bildgewaltig entfaltet wird.

Stattdessen läuft der Abend – wenn auch mit gelegentlichen Längen – auf einen fulminant stehen bleibenden Schlussakkord zu. Da werden Pistolen gezückt, da wird gekonnt debil nach Essen verlangt, da werden tragische Lebensgeschichten lallend-aggressiv angerissen. Während Ariel nach und nach Geschehen und Akteure mit weißer Farbe vollkippt, lustvoll Papierschnitzel drüberwirft, während ein bis in den obersten Rang bäuchlings deutlich spürbarer Subbass diese verhinderte Apotheose ganz nah an die Körper der Zuschauenden heranrückt.

Der Sturm
Nach William Shakespeare in einer Spielfassung von Maja Kleczewska und Lukasz Chotkowski
Regie: Maja Kleczewska, Bühne: Marcin Chlanda, Kostüme: Konrad Parol, Licht und Video: Wojciech Puś, Musik: Daniel Pigoński, Dramaturgie: Lukasz Chotkowski, Jörg Bochow.
Mit: Aliou Badji, Lisa Bitter, Ababacar Coly, Carolin Conrad, Michal Czachor, Gabriel Daly, Ndiaga Diop, Yorck Dippe, Sachiko Hara, Pablo Konrad y Ruopp, Samba Ndiaye, Josef Ostendorf, Fode Sylla, Michael Weber, Kathrin Wehlisch.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Stefan Grund schreibt im Hamburger Abendblatt (25.1.2014): "Die von Josef Ostendorf bewegend verkörperte Selbstüberwindung des über seine Verzweiflung hinauswachsenden Prospero, die ihn befähigt, Gnade walten zu lassen, bildet das magische Zentrum dieses Sturms. So einen menschlich kompletten, mitleidenden, selbst in seinem Zorn nahbaren Prospero gab es wohl nie." Die Regie verbinde wohlkomponiert die Ebenen körperlicher und psychologischer Reflexe. Gerade die Sextourismus-Szenen seien "ein Hort der Komik wie der Vulgärsprache, des Sexismus und Rassismus". Am Ende lief durch das "zerzauste Publikum" Schneise von Bravo- und Buhrufern.

Auf Deutschlandradion Kultur in der Sendung "Fazit" (23.1.2014) resümiert Alexander Kohlmann: "Maja Kleczewska ist in Hamburg eine faszinierend abgründige Interpretation des Prospero-Inselreichs gelungen. Zwar fehle Prospero der Gegenpart und auch "wären weniger Kürzungen mehr gewesen", doch "das Hamburger Debüt macht große Lust auf mehr."

Michael Laages hat für die Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (24.1.2014) den "ersten richtigen Flop" der Intendanz von Karin Beier gesehen. Regisseur Kleczewska habe sich "massivst verhoben", indem er den Shakespeare-Text gemeinsam mit seinem Mit-Bearbeiter Lukasz Chotkowski abänderte. Die beiden "behalten die meisten zentralen Motive bei, deuten sie aber konsequent anders; en detail und en gros. Aber völlig folgenlos." In alle ihren Assoziationen und Castorf-Anleihen habe die Inszenierung "im Wesentlichen nur mitzuteilen, dass der oft viel zu lieb und nett gezeichnete Prospero unter der Oberfläche auch ein abgetakelter Finsterling kurz vor dem letzten Gefecht ist".

"Endzeitspiel der Kotzbrocken" betitelt die Süddeutsche Zeitung (27.1.2014) die Kritik von Till Briegleb, der viel "schlechtes Benehmen" in der Aufführung fand, vor allem bei Prospero, der als "sabbernder Tyrann" daherrolle. Das Endzeitspiel, das nach dem Willen des Regieteams hier veranstaltet werde, bedeute "offensichtlich, dass Karl Lagerfeld die Welt regiert, allerdings ein Karl Lagerfeld im grenzdebilen Stadium, wie ihn Michael Weber als König Alonso gibt." Manches erinnere an "selige Kartoffelsalatschlachten an der Berliner Volksbühne und die exzessive Fernsehserien-Fledderei des frühen Pop-Theaters vor zwanzig Jahren", sei da aber lustiger und stärker auf die Gegenwart bezogen gewesen. Hier dränge sich nur das Gefühl auf, "an einem Dschungelcamp für Shakespeare-Darsteller teilzuhaben".

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