Anordnung einer Hexen-Verbrennung

von Kai Bremer

Kiel, 7. Oktober 2017. Seit mehr als einem Jahr schwappt die Luther-Flut durch Museen, Buchläden und Theater. Sie ist inzwischen gewaltig. Man könnte meinen, der 31. Oktober ist nicht bundesweiter Feiertag, weil Luther 500 Jahre vorher irgendwas mit Medien (Flugblatt) und Thesen gemacht hat, sondern weil spätestens dann dringend Erholung von diesem Hype nötig ist. Angesichts dessen jetzt noch ein weiteres Luther-Stück auf die Bühne zu bringen, zeugt allein schon deswegen von Mut, weil zu befürchten ist, dass das spätestens ab Anfang November kein Mensch mehr sehen will.

Jenseits Zaimoglus "Evangelio"

Das Schauspiel Kiel hat das gestern gleichwohl gewagt – und dabei auf Bewährtes gesetzt: Zusammen mit Günter Senkel hat Feridun Zaimoglu den schlicht "Luther" betitelten Text vorgelegt. Annette Pullen hat das Stück wie zuvor deren Die zehn Gebote unterstützt von Barbara Aigner (Kostüme) und Jens Paulsen (Dramaturgie) inszeniert. Da Zaimoglu Anfang des Jahres bereits den Luther-Roman "Evangelio" publizierte, der viele begeisterte, aber auch heftige Kritik provozierte, war die eigentliche Frage des Abends jedoch, ob angesichts all dieser Voraussetzungen mehr zu sehen sein würde als ein Aufguss von Bekanntem im Herbst des Reformationsjubiläums.

Luther1 560 Olaf Struck u Historisiertes Ambiente: Martin Luther (Zacharias Preen) und seine Frau (Jennifer Böhm)
© Olaf Struck

Wer eine Dramatisierung des Romans erwartet hatte, sah sich denn aber getäuscht. "Luther" ist kein Drama über den Reformator, sondern ein Historien-Stück. 1540 wurde in Wittenberg mit dessen Zustimmung und auf Betreiben von Lucas Cranach, der ehedem Bürgermeister war, die vermeintliche Hexe Prista Frühbottin verbrannt. Ohne plumpe Aktualisierungen und mit weit moderaterer Kraft-Sprache als in "Evangelio" führt der Kieler Autor Zaimoglu allein durch die Konzentration auf diese im bisherigen Luther-Gefeiere unbeachtete Geschichte vor, wie sehr die aktuelle Reformations-Panegyrik trotz ihres kritischen Habitus letztlich bloße Rhetorik ist.

Unbeachtet, verdrängt oder vergessen

Die Szene wechselt, um das zu erreichen, zwischen dem Haus des Reformators und der wegen Hexerei angeklagten Prista. Iris Kraft (Bühne) unterstützt das, indem sie die mit hölzernen Quadraten vertäfelte, der Bühne die Tiefe nehmende Rückwand aufschwenken lässt, wenn die Geschichte von Prista und ihrer Nichte Elsbeth gezeigt wird. Pullen nutzt die unterschiedliche Tiefe konsequent. Der Reformator (Zacharias Preen) und seine Getreuen deklamieren am Bühnenrand fast wie im Theater des 16. Jahrhunderts.

Jennifer Böhm gibt zudem weniger eine Herr Käthe, wie Luther seine Frau gerne nannte, als vielmehr eine zart-erstarrte Lutherin, bei der man immer wieder denkt, sie sitze Vermeer Porträt. Im Unterschied dazu dürfen Prista (Yvonne Ruprecht), der Scharfrichter Magnus (Marko Gebbert) und insbesondere Pristas Nichte Elsbeth (Olga von Luckenwald) über die geöffnete Bühne fegen oder sich grobianisch in die Ecke fläzen, dass es eine Freude ist.

Luther3 560 Olaf Struck uAls Hexe angeklagt: Prista Frühbottin (Yvonne Ruprecht) in der Mitte. Links Nichte Elsbeth
(Olga von Luckwald) © Olaf Struck

Trotz der Lebendigkeit des niederen Volks verteilt Pullen die Sympathien nicht einseitig. In der Münsteraner Uraufführung von John von Düffels Luther-Stück Martinus Luther war der alternde Reformator ein zwischen AfD und Wutbürgertum oszillierender Unsympath. Zaimoglu aktualisiert den Reformator im Unterschied dazu nicht, sondern stellt ihn als eine Übergangsfigur aus, die aufklärerisch den Verstand preisen kann und gleichzeitig von der Präsenz des Teufels überzeugt ist. Zacharias Preen verkörpert genau das ohne jedes postmoderne Augenzwinkern oder erhobenen Zeigerfinger. Pullen vertraut darauf lange, lässt jedoch die Wittenberger Elite während der Verbrennung von Prista zu Techno-Klängen als Popcorn fressende Dumpfbacken zuschauen. Was sie zu dieser Aktualisierung veranlasst hat, bleibt gänzlich offen.

Nichte als Sympathieträgerin

Zaimoglus Stück setzt im Unterschied dazu nicht auf fragwürdigen Klartext. Elsbeth avanciert immer mehr zur Sympathieträgerin. Sie liebt und lebt nicht nur, sie sucht auch ihre Tante im Kerker auf und kehrt schließlich nach deren Verbrennung an den Hinrichtungsort zurück. Da sitzt der ihr zugeneigte Thomas (Martin Borkert) und arbeitet am Holzschnitt, den sein Lehrer Cranach (allerdings der jüngere und nicht der ältere) nicht nur im Stück, sondern auch realiter von dem fürchterlichen Schauspiel publizierte.

Zaimoglus großartige Idee: Elsbeth ist ob seines Tuns entsetzt – Thomas aber erfüllt die Vorgabe seines Herren und bekennt sich gleichzeitig zur Macht der Kunst: "Ich will nicht, dass Pristas Spur verweht." Pullen will das auch nicht und lässt schließlich Flugblätter mit dem Holzschnitt ins Publikum regnen. Das war von dieser differenzierten Annäherung an die späte Reformation ungemein angetan.

Luther
von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel
Uraufführung
Regie: Annette Pullen, Bühne: Iris Kraft, Kostüme: Barbara Aigner, Dramaturgie: Jens Paulsen.
Mit: Jennifer Böhm, Martin Borkert, Jasper Diedrichsen, Marko Gebbert, Rudi Hindenburg, Imanuel Humm, Olga von Luckenwald, Zacharias Preen, Yvonne Ruprecht, Ksch. Almuth Schmidt.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.theater-kiel.de

 

Kritikenrundschau

"Der Abend lebt von der rohen archaischen Kunstsprache Zaimoglus. Und von den jugendlichen Sturmdrängern, die den Talarträgern im Stück entgegen stehen, als Frager und Vertreter aus der wirklichen Welt", schreibt Ruth Bender in den Kieler Nachrichten (9.10.2017). "Vielleicht erscheint die Gegenüberstellung manchmal etwas schematisch, fast so, wie die Figuren es den Autoren vormachen." Vor allem aber sehe man, "wie an die Stelle des Fragens das Eifern tritt und die Sehnsucht nach Wahrheit das einspurige Denken befeuert".

Von einer "absolut überzeugenden Inszenierung" spricht Julia Lucas in der Landeszeitung (9.10.2017), und bescheinigt dem Abend Eindringlichkeit und eine "beklemmde Atmosphäre". Insbesondere die fremde, bildhafte Sprache "fern von heutigen Alltagswendungen" spiegelt aus ihrer Sicht den konsequenten Zeitbezug des Stückes wieder.

Ein finsters Stück sei es geworden, "obwohl es mit viel Fingerspitzengefühl inszeniert ist", so Kerstin Düring im NDR Info (9.10.2017) Dass es so ein kritisches Bild von Martin Luther zeichnen würde, habe allerdings viele Zuschauer überrascht. Im ersten Teil habe der Abend noch einige Längen, "nimmt aber nach der Pause rasant an Fahrt auf und fängt endlich an, zu überraschen. Mitreißend sind die Leistungen der Schauspieler und die mittelalterliche Kunstsprache Zaimoglus, der Meister Martinus genau aufs Maul geschaut hat."

 

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