Utopien und Männlichkeiten

von Şeyda Kurt

13. Oktober 2020. Es ist kalt in Deutschland. Am Abend einer dieser kalten Herbsttage, am 9. Oktober 2020, sitze ich das erste Mal seit Jahresanfang wieder in einem Berliner Theater. Im Ballhaus Naunynstraße in Kreuzberg feiert die Performance "Complex of Tensions" von Jasco Viefhues Premiere. Es ist das Theaterdebut des in Offenbach geborenen Regisseurs. Für eineinhalb Stunden ist es warm.

Doch zunächst will ich von diesem Tag erzählen, vom 9. Oktober. Nicht nur, weil ich über die Wärme nicht schreiben kann, ohne von der Kälte zu sprechen. Es gibt jedoch auch ein thematisches Bindeglied zwischen diesem Tag und der Performance von Jasco Viefhues: Männlichkeiten.

Erinnerung, Halle

Am 9. Oktober 2019, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht ein Terrorist in die Synagoge im Paulusviertel in Halle einzudringen. Der Terrorist plant schwer bewaffnet einen Massenmord, scheitert jedoch an der Tür. Später erschießt er zwei Zufallsopfer: Jana L. und Kevin S. Auf der Flucht mit dem Auto versucht er, einen weiteren Menschen zu überfahren. Im Prozess gibt er auf Nachfrage an, für eine weiße Person hätte er "auf jeden Fall" versucht, auszuweichen. Das Opfer Abdi R. A. kommt ursprünglich aus Somalia und ist Schwarz.

In einem vor dem Anschlag aufgenommenen Video leugnet der Terrorist die Shoah. Und im selben Atemzug macht er den Feminismus für die sinkenden Geburtenraten im Westen verantwortlich. Seinen Anschlag in Halle streamt er live ins Internet. Im Hintergrund lässt er ein Lied laufen: "Hoes suck my dick while I run over pedestrians".

NAC Kolumne Seyda Kurt V1Rechtsextreme Anschläge sind nie nur antisemitisch oder rassistisch. Sie sind auch anti-feministisch. Der Attentäter von Halle, der Attentäter von Hanau (2020), der Attentäter von Christchurch in Neuseeland (2019) oder jener von Utøya in Norwegen (2011) – sie alle hatten eine anti-feministische Agenda, sie verteidigten eine patriarchale Ordnung, sie hassten Frauen, sie hassten insbesondere feministische, nicht-weiße, nicht-christliche Frauen.

Gegenwart, Kriegsrhetorik

Genau ein Jahr nach dem Anschlag in Halle finden sich in Kreuzberg mehrere hundert Menschen zu einer Gedenkdemonstration an den Anschlag von Halle zusammen. Nur knapp fünf Kilometer entfernt, in Friedrichshain, räumen 2.500 Polizist*innen mit allen Mitteln in der Liebigstraße 34 das älteste queer-feministische Wohnprojekt der Stadt. Und setzen die Bewohnenden auf die Straße. Mitten in der Pandemie. Kurz vor dem Winter. Es ist kalt in Berlin.

Toxische Männlichkeiten erniedrigen, verletzen, bedrohen und töten, jeden Tag. Sie sind der misogyne Witz auf einem FDP-Parteitag. Sie sind der Terrorist, der eine frauen- und queerfeindliche, rassistische, antisemitische Weltordnung der Hierarchien verteidigt. Oder sie treten in Form von Verschwörungsideologen zu Pandemie-Zeiten auf, wie Attila Hildmann oder Ken Jebsen. In Heldenpose und Kriegsrhetorik.

Imaginationen, Bedrohungen

Doch es gibt nicht nur gefährliche Männlichkeiten in unserer Gesellschaft, es gibt auch gefährdete Männlichkeiten, jene, die nicht cis oder hetero sind, jene, die nicht penetrieren, jene, die keine Kinder zeugen, jene, die nicht die Nation verteidigen, oder jene, die vermeintlich die kulturelle Einheit und Eindeutigkeit bedrohen. Männlichkeiten sind immer politisch.

Antisemitisch-misogyne Stereotype entwerfen jüdische Männer etwa einerseits als verweiblicht (im Gegenzug werden jüdische Frauen maskulinisiert), verweichlicht und unproduktiv. Gleichzeitig werden sie jedoch als übermächtig imaginiert. "Diese Widersprüchlichkeit ist analog zu jener Vorstellung, der 'Jude' sei männlich und weiblich zugleich", schreiben Christine Goldberg und Karin Stögner vom Österreichischen Institut für Konfliktforschung. Eindeutiger verhält es sich hingegen mit rassifizierten Männlichkeiten muslimischer oder Schwarzer Personen. Diese werden oftmals in kolonialistischer Tradition als hypermaskulin, hypersexualisiert und unzivilisiert konstruiert.

Was diese marginalisierten Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder und die Körper, denen sie auf den Leib geschrieben sind, gemeinsam haben: In einer rassistischen, antisemitischen und anti-feministischen Normalität sind sie Zielscheiben. Sie sind bedroht, auf den Straßen wie in Shisha-Bars, weil sie selber als Bedrohung imaginiert werden.

Ballhaus Naunynstraße Wagner Carvalho 1Aloysius Itoka, Ronni Maciel, Eurico Ferreira Mathias (Cello); Complex of Tensions; © Wagner Carvalho

Ich gebe zu: Am Abend des 9. Oktober 2020 nimmt das Theater in der Liste der Orte, an denen ich gerne wäre, einen der hinteren Plätze ein. Doch ich bin auf der Suche nach Utopien. Ich suche nach Entwürfen neuer Selbstverständnisse und eines neuen Miteinanders.

Von genau diesen emanzipatorischen, positiven Entwürfen von Männlichkeit handelt nun Jasco Viefhues‘ Complex of Tensions. Den Ausgangspunkt für diese experimentelle Performance mit Sprech- und Tanzeinlagen bilden Interviews mit in Berlin lebenden, queeren, Schwarzen Männern. Auf die Bühne bringen sie die Darstellenden Aloysius Itoka und Ronni Maciel, der Cellist Eurico Ferreira Mathias begleitet sie musikalisch. Die Protagonist*innen erzählen vom Leben in der Diaspora, von der Angst vor AIDS, sie erzählen, wie die eigene Hautfarbe zu einem Kostüm wird. Und sie erzählen von Widerständen – gegen die eigene Familie, gegen die Scham und die Angst, einen anderen Mann zu begehren und in ihm das verdrängte Ich zu entdecken. Genauso geht es um den Widerstand gegen die kolonialrassistische Gewalt der Vergangenheit und Gegenwart. Die Frage, warum die Haitianer*innen nach ihrem Unabhängigkeitskampf den französischen Kolonialisierenden gegenüber Entschädigungszahlungen leisten mussten, verwebt sich in diesen Gedankenfragmenten unweigerlich mit jener existenziellen Frage: "Ich bin doch schon Schwarz, warum muss ich auch noch queer sein?"

Schönheit und Wärme

Bereits das Bühnenbild von "Complex of Tensions" führt aus der Gegenwart: Der Raum ist ummantelt mit transparenten Kunststoffvorhängen, ausgestattet mit weißem PVC-Boden – ein futuristisches Kabinett, in dem alles möglich zu sein scheint. Und tatsächlich nennt Itoka diesen Raum später "Mutterschiff". Und dieses führt ein systemisches Eigenleben: Es wirft Lichter, die Grenzen auf dem Boden aufweisen, Töne, die die Erzählungen kommentieren.

Die einnehmende Schönheit dieser Performance besteht jedoch weniger in den Worten, die Itoka und Maciel (miteinander) sprechen. Diese verlieren mitunter an Sogkraft und lassen auch zwischen den beiden wenig Dynamik aufkommen. Es ist mehr das Zusammenspiel von Körpern, Licht, Raum und Kleidungsstoffen, von Farben und Materialität, die fesselt.
Wärme kehrt in mich ein.

Utopien am Rand

Ist das nun die Utopie der Männlichkeit, die wir brauchen? Ja, diese Männlichkeiten brauchen wir. Wir brauchen sie auf dem Weg zu der Utopie einer Gesellschaft jenseits der Kategorien männlich und/oder weiblich, wir brauchen sie gegen die Gewalt der Homogenität und für ein Miteinander ohne Angst. Diese Männlichkeiten existieren, aber sie sind marginalisiert. Sie sind bedroht. Ungefährdet bestehen sie mit Michael Foucault gesprochen nur an "Orten, welche die Gesellschaft an ihren Rändern unterhält". Es sind wie das Theater Räume und Selbstbilder, die Gesellschaften als Abweichende dulden, weil sie im Gegenzug wieder das kulturelle Zentrum bestätigen.

Und außerhalb, da draußen, da ist Kälte. Genau dort brauchen wir diese queeren, jüdischen, Schwarzen Männlichkeiten, Weiblichkeiten, Menschlichkeiten, Schönheiten und Hässlichkeiten in ihrer Vielfalt, die nicht zerstörerisch ist. Wir brauchen sie nicht nur im Theater, sondern in allen Zentren und Räumen unserer Gesellschaft, auch draußen auf der Straße, geschützt und verteidigt auf allen Wegen.

Vielleicht wird es dann ein wenig wärmer in Deutschland.

 

Şeyda Kurt ist Autorin und Moderatorin. Sie studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. In ihrer Kolumne ❤️topia begibt sie sich auf die Suche nach Utopien der Liebe auf der Bühne: Was erzählt uns das Theater über Zärtlichkeit? Und wo bleiben neue Visionen von Romantik, Freund*innenschaft und Solidarität?

 

Zuletzt entdeckte Şeyda Kurt hinter den Kulissen der TV-Spektakel-Show "Survivor" Zusammenhänge der Gewalt

 

 

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