In BER-Zeitrechnung fast nichts

16. April 2024. Was tun, wenn einem die eigenen historischen Bühnen abgerissen werden und der versprochene Neubau nicht kommt? Man improvisiert! Über Martin Woelffer, Boulevardtheater an der Peripherie und die Kunst der Resilienz.

Von Esther Slevogt

16. April 2024. In diesen finsteren Zeiten braucht man Rolemodels für Resilienz. Und so wird heute einmal auf einen Meister in dieser Disziplin geblickt, auf Martin Woelffer, seines Zeichens Direktor der Komödie am Kurfürstendamm. Der Theatername ist bereits eine klaffende Wunde, denn das Haus befindet sich gar nicht mehr am berühmten Boulevard im Berliner Westen.

Die fast hundertjährigen Bühnen wurden 2018 bekanntlich abgerissen, nach fast zwanzigjährigem Häuserkampf. Die historischen Theater, die auf Max Reinhardt zurückgehen, hatten die Weltwirtschaftskrise der letzten Weimarer Jahre, Nazizeit und Kalten Krieg überlebt. Nicht aber ein politisches Klima, das Shoppingmalls über Kulturorte stellt.

Pläne, Kompromisse, Räumungsklagen

Unter den Auspizien des Abrisses hatte Martin Woelffer seine Direktion 2004 bereits begonnen. 2005 wurde der Mietvertrag für die Häuser gekündigt, die schon lange Investorenplänen für das Areal, das einen ganzen Häuserblock einnimmt, im Wege standen. Seitdem rang Woelffer als Theaterdavid mit Immobiliengoliathen um den Erhalt der historischen Theater, ja, überhaupt um den Fortbestand des Theaters, mit DB Real Estate, Fortress, Ballymore, Cells Bauwelt und wie sie alle hießen, die da immer wieder neu im Immobilienhaifischbecken auftauchten. Denn immer wieder wurde das Areal weiterverkauft.

Auf die Politik war nicht zu setzen. Im Gegenteil: Gegen Bezahlung hatte sie längst klammheimlich die Nutzungsbindung der Immobilie, die eigentlich die Häuser schützen sollte, löschen lassen. Das fand 2007 Alice Ströver heraus, damals Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen. Gescheiterte Bürgerbegehren, Räumungsklagen, immer neue Investoren, die in ihren Briefkastenfirmen unauffindbar waren. Dazwischen hochtrabend verkündete Pläne und Kompromisse, die am Ende stets nur auf tönernen Füßen standen.

Die Baustelle steht still

Seit fast zwanzig Jahren jedenfalls kann man bei der Komödie am Kurfürstendamm nicht von einer gut oder gar fest stehenden Schaubühne sprechen. Andere hätten wahrscheinlich längst aufgegeben. Oder nur noch Trauerspiele statt Komödien gespielt. Nicht aber Martin Woelffer. Mit jeder Premiere donnern er und sein Team der Stadt ein "Hurra, wir leben noch!" entgegen. Das Publikum folgt treu an die wechselnden Spielstätten – inzwischen spielt das Theater sogar im Heimathafen Neukölln und im Ernst-Reuter-Saal in Reinickendorf, also eher an den Rändern der Stadt. So mobil war seit der Rollenden Roadshow von Bert Neumann und der Volksbühne überhaupt noch kein Theater Berlins. Schon gleich in der ersten Spielzeit nach dem Abriss kamen 155.000 Besucher*innen ins Ausweichquartier Schillertheater. Erfolgsproduktionen wie Mord im Orientexpress haben inzwischen fast 95.000 Menschen gesehen.

Dabei sind die Hiobsbotschaften nicht abgerissen. Nach dem Abriss der historischen Bühnen sollte 2022 ein Neubau in den Tiefen des alten Areals am Kurfürstendamm eröffnet werden. Dann kam Corona und der Ukrainekrieg, Energiekrise, steigende Preise und Sanktionen gegen das angreifende Russland (wo die letzten Investoren teilweise beheimatet sein sollen). Seitdem steht die Baustelle am Kudamm still. Nachdem das Theater zum Potsdamer Platz umziehen musste, weil das als Interim genutzte Schillertheater als Ausweichspielstätte längst der sanierungsbedürftigen Komischen Oper zugesagt war, gibt’s wieder einen neuen Standort für die Komödie am Kurfürstendamm. Zwar schmerzt es Woelffer, wie er wissen lässt, dass er aufgrund der besonderen Umstände nicht 365 Tage im Jahr spielen kann, wie es gewiss der Kasse gut täte und auch dem Wunsch seines Publikums entspräche. "Gerne wären wir wieder mindestens sechs mal pro Woche für unsere Zuschauer*innen da, doch das wird erst wieder möglich sein, wenn wir das neue Haus am Kurfürstendamm bezogen haben."

100. Geburtstag ohne Ort

Die Bauarbeiten dort, die mehr als ein Jahr geruht haben, sollen angeblich in Kürze wieder aufgenommen werden. Noch allerdings ist nichts Entsprechendes zu beobachten. Bewegungslos wie immer ragen die enormen Baukräne in den Himmel über West-Berlin, während vorbeiradelnde oder -spazierende Flaneure das Security-Personal beim Checken der Social-Media-Timelines auf ihren Smartphones beobachten können.

Am 6. August steht das 20. Jubiläum von Martin Woelffers Direktion an, im November soll der 100. Geburtstag des Theaters gefeiert werden. "Wo und wie wir unseren 100. Geburtstag im November 2024 begehen werden, wissen wir noch nicht," sagt Martin Woelffer. "Wo wir im kommenden Jahr spielen werden, können wir derzeit auch noch nicht sagen. Wir sind hierzu in Gesprächen. Leider ist noch unklar, wann es für uns zurück an den Kurfürstendamm geht. Wir gehen davon aus, dass es 2026 soweit sein wird." Vier Jahre nach dem ursprünglich zugesagten Termin. In Berliner BER-Zeitrechnung gerechnet ist ja eigentlich das fast nichts. Bis dahin wird Woelffer weiter sein Theater und sein Publikum durch den Sturm der Zeiten führen, getreu eines alten Satzes von Rainald Goetz: "Don’t cry, work!"

 

Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben

Esther Slevogt

Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

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Kommentare  
Kolumne Slevogt: Verantwortungsgefühl
lieber Martin Woelffer, bewundernswert dein Festhalten an deinem traditionsreichen Theater obwohl keine der ehemals getroffenen Zusagen eingehalten wurden. das spricht für deine wahrgenommen große Verantwortung den SchauspielerInnen, Bühnenbildern, Inszenierungen und nicht zuletzt dem treuen Publikum gegenüber. Ich wünsche euch sehr, dass 2026 ein überaus erfolgreiches Jahr in mehrfacher Hinsicht werden möge, toi-toi-toi!
birgit w. durand
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