Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben - Zum vorläufigen Scheitern von Berlins Antisemitismusklausel
Sombrero auf Kreuzfahrt
23. Januar 2024. Die Antisemitismusklausel, an die Berlins Kultursenator Joe Chialo die Vergabe von Fördergeldern knüpfen wollte, ist erst mal gestoppt. Dass es sie überhaupt braucht, ist das eigentliche Problem.
Von Esther Slevogt
23. Januar 2023. Jetzt hat der Berliner Kultursenator Joe Chialo also die Antisemitismusklausel zurücknehmen müssen. Auf Grund juristischer Bedenken, wie man liest. Diese Klausel hatte alle Empfänger öffentlicher Fördergelder unter anderem zu einem Bekenntnis gegen Antisemitismus verpflichten wollen.
Die Klausel war von Anfang an umstritten: als staatlicher Eingriff in die Kunst- und Meinungsfreiheit, aber auch, weil vielen die zugrunde liegende Antisemitismusdefinition missfiel. Bei vielen Einlassungen wurde ich allerdings den Eindruck nicht los: Hier wollten Leute ihr Recht auf liebgewonnene Ansichten verteidigen.
Lernprozesse
Oft musste ich dabei an die Zeit vor zehn bis fünfzehn Jahren denken, als die Kritik an rassistischen Darstellungspraktiken wie das Blackfacing endlich den gesellschaftlichen Mainstream erreichte und als künstlerische Praxis die verdiente Ächtung erfuhr. Als das N-Wort aus berühmten und durchaus als progressiv empfundenen Kinderbüchern gestrichen wurde. Auch damals gab es Proteste und Stimmen, die Blackfacing im Sinne der Kunstfreiheit verteidigten. Die von historische Kontexte verfälschenden Folgen sprachen, sollte das N-Wort nicht mehr benutzt werden dürfen. Die sich nicht einlassen wollten auf eine damit verbundene grundsätzliche Reflexion auch eigener rassistischer Denkmuster, die von solchen Darstellungsmitteln und Begriffen schließlich mitformatiert werden.
Man könnte gegen diesen Vergleich einwenden, dass diese Praktiken nicht vom Staat verboten oder mit einer, sagen wir, Blackfacing-Klausel reguliert worden sind. Allerdings war das damals auch nicht nötig, weil eine breite Mehrheit von progressiven Kunstschaffenden sich hinter die Einsicht stellte, dass Blackfacing und das N-Wort rassistische No-Gos sind. Der von den damaligen Debatten ausgelöste gesellschaftliche Lernprozess hat viel in Bewegung gebracht, die Szene nachhaltig verändert und diverser gemacht. Und durchlässiger für die Bereitschaft, eigene rassistische Denkmuster zu befragen.
Antisemitismus ist Rassismus
Im Fall von Antisemitismus kann man sich auf diesen Rückhalt bei den progressiven Kunstschaffenden leider nicht verlassen. Denn diese Szene, die sich generell für antirassistisch hält (nur zur Erinnerung: Antisemitismus ist Rassismus), ist nicht bereit, die eigenen antisemitischen Muster zu reflektieren, ja, gar in Erwägung zu ziehen. Das wurde mit erschütternder Deutlichkeit spätestens nach dem 7. Oktober klar.
So, wie die Altvorderen damals ihr Recht auf Weiterverwendung des N-Wortes behaupten wollten, möchte man auch jetzt gerne weiter sein obsessives Verhältnis zu Israel pflegen können, den eigenen Antisemitismus nicht weiter reflektieren müssen. Auch hier legt man ja großen Wert auf historische Kontexte. Dabei hat das Wort "Kontext" tatsächlich inzwischen einen toxischen Unterton. Denn es meint weniger Kontext als das Recht auf Ressentiment.
Man muss wahrscheinlich sagen: Weil das so ist, kam es überhaupt zu dieser Antisemitismus-Klausel. Weil in der progressiven Kulturszene eine Selbstverpflichtung gegen Antisemitismus offenbar nicht existiert – sondern vielmehr Antisemitismus Teil dieses progressiven Selbstverständnisses ist. Und den möchte man sich nicht nehmen lassen, so wie Opa auf sein N-Wort und die Theatergruppe auf dem Kreuzfahrtschiff auf Sombrero und Blackfacing beharrt.
Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben
Esther Slevogt
Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?
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https://www.annefrank.org/de/themen/antisemitismus/ist-antisemitismus-eine-form-von-rassismus/
Besser wäre der Vergleich mit der Extremismusklausel vor 10 Jahren, die zur Rechtsextremismus-Prävention eingeführt werden sollte. Aus ideologischen Gründen ("links ist genauso schlimm wie rechts") hat die CDU erzwungen, dass Fördermittelempfänger ein Bekenntnis gegen sowohl Rechts- wie auch Linksextremismus unterschreiben mussten. Der Widerstand richtete sich dagegen, dass die Klausel (so wie Chialos Klausel) beliebig -politisch-interpretierbar war.
Handwerk hin oder her, kurz oder lang, es ist wichtig, gegen den grassierenden Antisemitismus in der Kultur anzustinken.
Interessant, wie schnell ein zunächst interessant erscheinender neuer Kultursenator sich selbst diskreditiert; Höhepunkt war seine "Rechtfertigung", als Senator könne er das einfach so machen. Mehr Arroganz und Entfernung von der Realität geht wohl nicht.
Und mit Verlaub: der Berliner Kultursenator hat etwas getan, was eigentlich selbstverständlich erscheint: Wer menschenverachtende Positionen unterstützt, darf kein Recht auf staatliche Förderung haben. Daher habe ich auch kein Verständnis für #6 NACHGEFRAGT.
und für die Diskutanten, die sich über die Definition des Antisemitismus streiten hier ein Kommentar:
https://www.sueddeutsche.de/kultur/was-ist-antisemitismus-documenta-warnhinweis-1.6306159
wie auch immer, entweder sind die „Juden“ nur eine Teilmenge im weiten Feld des Rassismus oder aber sie sind auch darin ein Sonderfall, wie Sie ihn beschreiben. Nie aber kann man mit ihnen genauso solidarisch sein, wie mit den MigrantenInnen und postmigrantischen Menschen, den POC und vielen anderen Gruppen, immer nehmen sie eine Sonderrolle ein. Selbst im weiten Feld des Rassismus werden sie immer noch ausgegrenzt und diskriminiert. Und auch darin erkenne ich eine spezielle Form des Antisemitismus.
sie konzentrieren sich in Ihrer Kolumne auf die Klausel und den Antisemitismus. Aus der Berliner Freien Szene kommend, möchte ich sagen, dass es erhebliche juristische Probleme mit dieser Klausel gibt.
Wenn ich als künstlerischer Leiter Schauspielende, Musiker:innen etc. auf freiberuflicher Honorarbasis Anfrage, schaue ich natürlich darauf, dass ich keine Menschenfeinde ins Team hole. Es ist mir aber nicht möglich, eine Gesinnungsprüfung durchzuführen.
Wie sollte das aussehen? Wer bezahlt das? Der Berliner Senat? Und wer übernimmt diesen Dienst - Privatdetektive, BND-Mitarbeiter:innen?
Das ist - wie Sie sehen - schwer umsetzbar. Zum Glück.
Also, bürge ich und hafte als Alleinverantwortlicher gegenüber dem Senat für mehrere 100.000 €. Wenn Herr Chialo oder ein Privatdetektiv bemerkt, dass ein Antisemit in der Produktion ist, was ich sehr bedauern würde, muss ich meinen Kopf dafür hinhalten.
Wie alles von Herrn Chialo bisher: schlecht gemacht. Sorry!
Das heißt im Umkehrschluss ein Kampf gegen Antisemiten und Innen ist einfach nicht umsetzbar. Und wie bitte macht es dann das Gorki Theater? Haben die etwa so einen Detektiv?
Es wäre mit Sicherheit umsetzbar, müsste aber dann aber auch strukturell in der Umsetzung von der Kulturpolitik mitgedacht sein.
Das Gorki-Theater arbeitet vorrangig mit Menschen in Anstellung und nicht Honorarkräften, hat also Einstellungsgespräche, einen Personalrat und ähnliches. Sie wollen jetzt nicht strukturell Äpfel mit Birnen vergleichen, oder?
auweia! Dann führen Sie doch auch einfach sinnvolle Einstellungsgespräche und führen ähnliche Strukturen ein. Zudem arbeitet das Gorki auch mit einer Vielzahl von Gästen…
Man sollte als Nicht-Betroffener daher sensibilisiert sein. Damit Betroffene nicht auch noch die ganze Aufklärungsarbeit leisten müssen - für ein Problem, das - wie gesagt - gar nicht ihres ist; das nur von Antisemit*innen und Rassist*innen dazu gemacht wird. Und damit wird es wiederum zum Problem der gesamten Gesellschaft, denn es stiftet Unfrieden.
Daher empfiehlt es sich, die Unruhestifter*innen zu kennen - und was sie so ausstreuen an toxischen Geschichten. Und da gibt es eben unterschiedliche "Genres". Das "Narrativ" (nennen wir es mal so) von Antisemit*innen erweist sich dabei als erstaunlich flexibel. Wenn es als "Israelkritik" auftaucht wird es leider zu oft nicht erkannt. Das sollte sich ändern.
nur zur Korrektur. Ich habe den Begriff lediglich von einem Vorredner aufgegriffen. Ich selbst käme nie auf eine solche Idee und reagiere da genauso empfindlich wie sie…