Der Abgrund der Ent-Solidarisierung

von Tim Tonndorf

13. Januar 2021. Die öffentlichen Kommentare bzw. Reaktionen auf die Proteste gegen die ausufernden "Nichtverlängerungen" (vulgo: Kündigungen) in Osnabrück, Eisenach/Meiningen, Greifswald, etc. zeigen deutlich einen Abgrund, auf den das deutsche Stadttheatersystem zusehends zusteuert: Eine Montagelinie der Zeitgeist-Imitation auf Sparflamme mit einigen teuren, verchromten Edelstücken und einem großen Haufen komplett austauschbarer Zahnräder.

Deutsche Sehnsuchtsfigur: Der Intendant

Das Theater, das stets vom Menschen, durch den Menschen, für den Menschen zu erzählen sucht, vergisst, dass es eben Menschen sind, die sein Herz bedeuten. Die Art und Weise, wie das Schicksal von komplett unverschuldet teilweise in die Existenzbedrohung geworfenen Künstler*innen achselzuckend bis gehässig durchgewunken wird, ist mindestens erschreckend.

Weimar Goethe Schiller Denkmal 2012 560 Andreas Praefcke ccWiki Väter des Geniekults? Das Goethe-Schiller-Denkmal vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar © Andreas Praefcke CC-By - Sa 3.0.  

Ausgerechnet an dem Ort, wo sonst jeden Abend die Fahne der humanistischen Werte geschwungen wird, wo die fiktiven Held*innen, die sich wider Ungerechtigkeit, Autokratie und Willkür erheben, bejubelt und beklatscht werden, von wo aus Intendant*innen, Regisseurinnen und Dramaturg*innen in Interviews gerne die beste aller möglichen Welten in prächtigen Farben malen, und wo auf der Bühne in zeitdiagnostischer Omnipotenz die Verkommenheit der neoliberalen Welt und ihrer Schergen hart gegeißelt wird – an diesem Ort verfallen die Menschen, wenn es um die schnöden Belange von Lohnarbeitenden geht, gerne in den reaktionären, solidaritätsfernen, phantasielosen und obrigkeitshörigen Duktus eines durch und durch Deutschen Michels.

Der Deutsche liebt die Kunst – und er verachtet die Künstler*innen. Es sei denn, sie sind Genies. Oder Führer. Am liebsten beides. Regisseure oder Intendanten zum Beispiel. Sie vereinen des Deutschen Sehnsuchtsfigur: Ein Genie mit starker, autoritärer Hand. Der Genie-Kult beginnt bei Goethe und setzt sich fort über Claus Peymann und Matthias Hartmann bis hin zu Dieter Wedel und all den kleinen Duodezfürsten, die an den Bühnen landauf landab den Schauspieler*innen das Leben schwer machen.

Wenn ein Theater rote Zahlen schreibt, das Publikum fernbleibt, die Presse nurmehr gelangweilte Synopsen bringt und die Erwähnung in der Kritiker*innen-Umfrage der Theater heute in unerreichbarer Ferne liegt, dann setzt die lokale Kulturpolitik auf einen "starken, verdienten Mann", der "frischen Wind bringt", "ordentlich aufräumt", "die Zügel in die Hand nimmt", "das Ruder herumreißt" und das Theater "zukunftsfähig aus der Krise steuert". Und das geht selbstverständlich nur, wenn man zwei Drittel der künstlerischen Belegschaft entlässt – is' ja klar.

Perfekt abgestimmte Pflanzenkulturen

Und so schwafelt der alte weiße Mann, der auf dem Intendanten*innen-Karussell das gelbe Pony reitet, von "Öffnung in die Stadt, Diversität, Haus der Künstler, neuen Sichtweisen" und die Kulturpolitik bekommt erhöhten Speichelfluss: "Sehr gut! Wenn wir das zügig eintüten, dann schaffen wir's noch zur feierlichen Eröffnungsveranstaltung des Winzerfestes: Marschieren und Probieren!"

Der Kämmerer räuspert sich, rückt die Bifokalbrille zurecht und hebt mahnend den Finger. "Kein Problem!" winkt der alte weiße Mann ab, "wir erhöhen die Produktionszahl, specken das Ensemble ab und machen jede Woche einen großen Liederabend, den die Kolleg*innen in ihrer Freizeit selbst vorbereiten dürfen!" Der Kämmerer senkt nickend die Hand, die Kulturpolitik klopft sich anerkennend auf die Schulter. "Wir freuen uns sehr, diesen alten weißen Mann und seine langjährige Erfahrung für unser Haus gewinnen zu können", tönt es bald aus den Gazetten.

Und so geht es weiter und immer weiter, Jahr um Jahr. Diese Art der belegschaftlichen Fruchtfolge verspricht dem "hochverehrten Publikum" (und also immer der Kulturpolitik) sieben fette Jahre: Allerhöchsten künstlerischen Ertrag bei effizientester Nutzung des zu beackernden Bühnenbodens durch perfekt auf einander abgestimmten Pflanzenkulturen.

Pfarrer, Boten, Mägde, Mütter

Die Realität sieht selbstverständlich ganz anders aus. An den großen Häusern werden mit den großen Regie-Namen regelmäßig große Gast-Stars für die großen Rollen verpflichtet (siehe "teure, verchromte Edelstücke"). An den mittleren Häusern wird alles unter 30, was nicht schnell genug sesshaft wird und sich dem gewünschten Spielstil von Intendanz und Haus-Regie anpasst, mindestens alle zwei Jahre gnadenlos ausgetauscht ("Wir haben leider nicht das gefunden, was wir beim Vorsprechen in dir gesehen haben.") oder so lange bei den Regie-Teams angeschwärzt ("Die ist schwierig. Sehr schwierig. Schwierige Kollegin."), bis der hoffnungslos verunsicherte oder komplett unterforderte Nachwuchs von alleine das Feld räumt (vulgo: Platz macht für ein "frisches Gesicht"). Den kleinen Häusern und Landesbühnen, die von Politik, Branche und feuilletonistischer Öffentlichkeit weitgehend ignoriert oder belächelt werden, bleibt ohnehin nichts anderes übrig, als die vom Lesarten-Büffet übrig gebliebenen Zugriffe auf die großen Kassenschlager ("Tschick", "Terror", "Frau Müller muss weg") mit ihrem mageren Budget und der unzweifelhaften Hingabe des Ensembles irgendwie in etwas Lustvolles zu verwandeln.

Das Narrativ von der "künstlerischen Gesamtkonzeption" einer Leitung auf der Basis des Schauspiel-Ensembles ist – größtenteils – ein Mythos. Was sich allein darin beweist, dass Schauspieler*innen als Material angesehen werden. Als unmündige Kinder, die mit Zuckerbrot (Hauptrollen & Solo-Abende) und Peitsche (Pfarrer, Boten, Mägde, Mütter) zu folgsamen und loyalen Aushängeschildern erzogen werden müssen. Als Lego-Steine, die nach Belieben umgebaut, ausgetauscht, zusammengesetzt, auseinandergerissen oder eben in die Schachtel gekloppt werden können. "Gesichter, Stimmen, Körper", heißt es in einem Kommentar auf nachtkritik. Wie viel ent-personalisierter geht es noch?

Freibrief für Verdinglichung

Aber genau das beschreibt das Grundproblem in der Wahrnehmung von Ensemble- Schauspieler*innen sowohl außerhalb als auch ensemble netzwerk 4 280 hochKampagnenbild des ensemble netzwerk für bessere Arbeitsbedingungen an Theatern © Thilo Beu / ensemble netzwerkinnerhalb der Branche. Schauspieler*innen werden im äußersten Fall "groß gemacht" von Regisseuren oder Intendanten. Ansonsten sollen sie bitte während der Probe das Maul halten, auch mit 40 Grad Fieber noch die Vorstellung spielen, sich nicht einmischen, wenn Regie und Dramaturgie sich unterhalten, am 25. Dezember frisch und motiviert auf der Matte stehen, zwei Monate lang 3x täglich Weihnachtsmärchen spielen, sich das mit der Schwangerschaft "gut überlegen", in der Pause noch zur Anprobe, Maskenprobe, Sprechprobe und zum Einzelgespräch gehen, mit ihrem Netto von 1.100 € gefälligst zufrieden sein, und das alles doch bitte mit Herzblut für die Kunst tun.

Und bevor jetzt irgendein*e Klugscheißer*in wieder von Recht & Gesetz anfängt: Der NV Bühne, so sinnvoll er aus künstlerischer Betriebssicht intendiert gewesen sein mag, ist – in Verbindung mit einem zutiefst auf Beziehungen, Belohnung und Bestrafung aufgebauten System – in seiner jetzigen Form ein Freibrief für die Verdinglichung von Schauspieler*innen zu Arbeitsmaterial. Das oben Beschriebene ist die Realität. Und all das – genau wie der rabiate personelle Kahlschlag im Zuge eines Intendanz-Wechsels – wird stets vollmundig mit der "verfassungsrechtlich zugesprochenen Freiheit der Kunst" argumentiert.

Menschenverachtende Automaten

Spätestens jetzt sind wir in meiner persönlichen Dystopie von Theater angekommen: Wo die eiskalte Hand von Autokratie & Neoliberalismus mit dem hirschledernen Handschuh der Kunstfreiheit überzogen wird, damit der auspressende Griff um den Hals der künstlerischen Arbeiter*innen keine Fingerabdrücke hinterlässt. Die Argumente, die FÜR diesen ganzen dysfunktionalen, rückständigen, willkürbehafteten Vorgang ins Feld geführt werden, gehören so gut wie alle zur Gattung Strohmann:


⁃ für jede Nichtverlängerung bekommt jemand anderes Arbeit
⁃ Nichtverlängerung beugt Unkündbarkeit vor
⁃ Nichtverlängerungen halten das Theater lebendig
⁃ neue Schauspieler*innen heben das Niveau des Theaters


Zum einen implizieren sie allesamt das Bild eines defizitären Ensembles, das glanzlos und uninspirierend an seinem "Privileg der Festanstellung" klebt. Zum anderen doktern sie lediglich an den Symptomen eines eigentlich zu überwindenden Systems herum. Statt also Kritik an den Verhältnissen zu üben, werden die Betroffenen gegeneinander ausgespielt. Man könnte meinen, der Bundesverband der Jungen Liberalen hätten die nachtkritik-Kommentarspalte übernommen. Und in dasselbe Horn blasen auch Kulturpolitik und Intendant*innen:


⁃ ein ganz normaler Vorgang
⁃ ein üblicher Vorgang
⁃ ein rechtmäßiger Vorgang


Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Es ist erstaunlich bis grotesk, wie Menschen, die sich selbst als Künstler*innen oder zumindest als Theaterliebende begreifen, dann wenn es um reale arbeitspolitische und sozialethische Fragen geht, plötzlich zu den kleingeistigsten, phantasielosesten, paragraphenreiterischsten – und ja – menschenverachtendsten Automaten veröden. Am schamlosesten hat das der designierte Intendant der Theater Eisenach und Meinigen, Jens Neundorff von Enzberg, im Interview mit der Thüringer Allgemeinen formuliert: "Das ist die Brutalität unseres Jobs. Der ist im wahrsten Sinne des Wortes asozial. Aber alle, die sich darauf einlassen, wissen davon."

Inzestuöses System

Und hier scheiden sich nun die Geister. Die einen (für mich ewig Gestrigen) werden sagen: "Recht hat der Mann. So ist das. So muss das. Kann man nichts machen." Ein bestimmter Kritiker, an dem ich mich einst abarbeitete, würde vielleicht sagen: "Es gibt kaum einen Intendantenwechsel von wirklicher Qualität, bei dem nicht zwei Drittel der künstlerischen Belegschaft entlassen würden. Theater ist kein Ponyhof."

Die anderen (zu denen ich mich zähle) werden sich fragen: Ist das das Theater, wie wir es wollen? Ist das wirklich die Art und Weise, wie wir im 21. Jahrhundert institutionell geförderte Kunst schaffen wollen? Wie wir Theatermachen denken wollen? Nehmen wir wirklich diese ganzen menschengemachten, kontingenten Dinge als unveränderliche Naturgesetze an? Ist das Theater- und Menschenbild, welches – irgendwo zwischen achselzuckendem Fatalismus und kompetitivem Sozialdarwinismus – in Äußerungen wie jenen des Herrn von Enzberg widerhallt, eines, mit dem sich zukünftige Theaterschaffende noch identifizieren können?

Oder kann es ein Theater sein, dass – wie Brecht sagt – "den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren" soll? Seit Jahrzehnten steht für das Gros des institutionalisierten Theaters in Deutschland die Veränderung der Wirklichkeit nicht zur Debatte. Ein inzestuöses System aus Produktionsdruck und heißen Nadeln, eine bis dato schwache Gewerkschaft, eine zuweilen desinformierte und ignorante Politik, sowie die hundert und tausend täglichen kleinen Auswüchse struktureller Diskriminierungen – all das gepaart mit der guten alten German Angst sorgt für die Zementierung des Status quo.

Wertschätzung und Perspektive

Und deshalb wäre es so unendlich wichtig und richtig, dass die mittlerweile essentielle Arbeit des ensemble-netzwerks, seiner Geschwister-Netzwerke und Partner*innen, mit einer GDBA-Präsidentin Lisa Jopt auf die nächste Stufe überführt werden kann. Dort – und nur dort – wird aktuell die strukturelle Veränderung dieses desaströsen Systems ernsthaft gedacht und vorbereitet.
In der Folge "Im Aschenbecher meiner Mutter" des Podcasts Wofür es sich zu looosen lohnt formulieren Lisa Jopt und Johannes Lange drei für mich elementare Wahrheiten zur derzeitigen Situation.

Johannes Lange spricht in Bezug auf das Verhalten der meisten Stadttheater während der Pandemie (besonders gegenüber ihren freischaffenden Gästen) von einer "institutionalisierten Ent-Solidarisierung". Und besser kann man es nicht ausdrücken. Ich habe übrigens den besonderen Umstand der Pandemie bisher nicht erwähnt, weil sich aus meiner Sicht selbst versteht, wie die ohnehin prekäre Situation der betroffenen Künstler*innen dadurch extrem verschlimmert wird. Dass sich manche Kommentator*innen nicht zu schade sind, das "Corona-Argument" als "populistisch" und "perfide" abtun, zeigt, wie weit sich diese Ent-Solidarisierung bereits gesamtgesellschaftlich eingefressen hat.

markus spiske P0klwkGbH M unsplashWas tun gegen die wachsende Ent-Solidarisierung? © Markus Spiske / unsplash

Lisa Jopt beschreibt später im Podcast den signifikanten Unterschied von institutionalisierten Theatern zu Arbeitgebenden anderer Branchen mit einem grundsätzlichen Fehlen von "Wertschätzung und Perspektive". Und das trifft es auf den Punkt. "Wir behandeln Dich wie ein unmündiges Kind in einer Nähfabrik und können Dich jederzeit aus künstlerischen Gründen nicht verlängern, wenn Du nicht tust, wie Dir geheißen." Das! Das ist die Realität.

Frischer Wind, der durchs geöffnete Zeitfenster weht

Und wenn Dinge selbst mit dem All-in-One-Baseballschläger der "künstlerischen Gründe" nicht mehr kaputt zu kriegen sind, dann liegt's zuletzt stets am Geld. Doch Lisa Jopt setzt der vermeintlich allgegenwärtigen Geldknappheit eine andere Theorie entgegen: "Phantasieknappheit". Und das ist die dritte und letzte Wahrheit. Diese phantastische Kulturtechnik, deren gesamte Existenz auf der Entzündung, Befeuerung und Explosion von Phantasie beruht, wird aktuell überwiegend von Menschen geleitet, denen es genau daran gebricht, sobald der Vorhang gefallen, die Stifte eingesteckt, die Mikrofone runtergedreht und die Kameras ausgeschaltet sind. Phantasie. Phantasie und Willen für eine reale Veränderung der Verhältnisse.

Es tut sich hier für das Theater gerade ein historisches Zeitfenster auf. Viele scheinen es nicht zu sehen bzw. zu hoffen, dass es sich möglichst unbemerkt bald wieder schließe. Doch der Wind weht bereits herein und Omas alte Gardinen flattern schon. Die Menschen, die jetzt in dieser Zeit Entscheidungen treffen, sollten sich sehr genau überlegen, auf welcher Seite der Geschichte sie stehen wollen.

 

Tim Tonndorf PortraitTim Tondorf, geboren 1985 in Offenbach, studierte Schauspielregie an der HfS "Ernst Busch" und ist freier Regisseur sowie Gründungsmitglied des Theaterkollektivs Prinzip Gonzo

 

 Mehr zum Thema im Lexikoneintrag Stadttheaterdebatte.

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