Wie DER FAUST aufs Auge

von Frank-Patrick Steckel

Berlin, 5. Dezember 2010. Man war gewarnt. Bereits 2006 hatte der Präsident des Deutschen Bundestages das 'Fernsehformat' der ersten FAUST-Verleihung bemängelt – nur massive Verständigungsprobleme könnten uns den neuerlichen Zank zwischen ihm und dem Deutschen Bühnenverein plausibel machen. Das ungebremst enthemmte Buhlen um ein staatstragendes Gepräge der Verleihung seitens der bunt gemischten Veranstalter- und Förderergruppe geriet unvermeidlicher Weise neuerlich mit dem ebenso hemmungslosen Drang der Veranstalter nach TV-wirksamer 'Publicity' übers Kreuz. Norbert Lammert schreibt in seinem diesjährigen Offenen Brief an den Deutschen Bühnenverein entrüstet, man habe ihm versichert, "das Konzept sei weiterentwickelt worden". Diese Entwicklung hat er – zu Recht – nicht erkennen können und die 'Gala' nach ca. anderthalb Stunden in Rage verlassen.

"Unser Hauptanliegen ist, dass die nominierten Künstler ihre Arbeit positiv gewürdigt sehen, und dass die Zuschauer am Verleihungsabend die Breite und die Bedeutung unserer Theaterlandschaft erleben" – so hatte der Deutsche Bühnenverein seine Ambition im Vorhinein umschrieben. "Auf diesen fast selbstverständlichen Anspruch", replizierte der ergrimmte Bundestagspräsident, "passte das Hollywood-Format wie die Faust aufs Auge."

 

In der Tat. Es kommt der Quadratur des Kreises gleich, einen im Kern bedeutungslosen Vorgang wie die Verleihung des Deutschen Theaterpreises zu einem 'Event' aufzublasen. Das Setzen auf die Teilnahme 'hochrangiger Politiker' kann daran ebenso wenig etwas ändern wie die Vergabe der Regie des Abends an routinierte Fernsehfritzen privater TV-Produktionsfirmen, denen "die Breite und Bedeutung unserer Theaterlandschaft" so interessant ist wie die erdabgewandte Seite des Mondes. Die Bodenlosigkeit der auf diesem Wege erwirtschafteten Fehlleistungen beschämt das Theater, erniedrigt die "nominierten Künstler" wie die Zuschauer und stellt einen weiteren Schritt auf der via dolorosa der Bühnenkunst in die Marginalisierung vor. Jeder der eingespielten Filmschnipsel ("Film ab!") dementierte umgehend die Preiswürdigkeit der gezeigten Kunstbemühung – es ist nämlich nicht leicht, gutes Theater so aufzunehmen, dass man nicht vermeint, einen schlechten Film zu sehen.

 

Die signifikante Geste des Abends verdanken wir Wilfried Minks: Er vergaß seinen Lebenswerk-Preis einfach auf dem Rednerpult – und sein Laudator Thomas Oberender ("Wilfried, Dein Preis!" ), der betont hatte, dass es sich um den ersten Preis im Leben des Künstlers handele, musste ihn ein zweites Mal überreichen.

Während mit Minks deutsche Theatergeschichte als ein nicht nur von verstockten, halb dementen Theaterrentnern phantasiertes, sondern als ein tatsächlich stattgehabtes Phänomen ein allerletztes Mal in Sicht kam, lagen die renommierten Pausenclowns des Abends, Samuel Finzi und Wolfram Koch, wie zwei von ihren Zeitgeiststrippen befreite Marionetten im rückwärtigen Teil der öden Opernbühne, welche, der Disposition des viel zu großen Aalto Theaters sei Dank, als Dekor der Zeremonie herhalten musste.

Die Penner, als die Finzi und Koch Oberenders Bemühung um eine Würdigung des Schaffens von Wilfried Minks verpassten, stellen nicht nur eine wüste Entgleisung des satirischen Vermögens ("Nimm ihn in den Mund, den Intendantenpenis!") dieser beiden 'wunderbaren Schauspieler' (Zehelein/Bolwin in ihrer Antwort auf Lammert) dar, nicht nur eine unüberbietbare Respektlosigkeit gegenüber dem Geehrten, nicht nur eine Verirrung der Verantwortlichen, nicht nur eine Herabwürdigung des Ansehens der Kulturstiftung, des Bühnenvereins und der Frankfurter Akademie der Darstellenden Künste: Die erschöpften Entertainer signalisierten unmissverständlich den Stand der Dinge - unser selbstbezogenes Gegenwartstheater verfällt, steht seine Genese, seine Vergangenheit und somit seine Bedingtheit in Rede, vorsorglich in Tiefschlaf, sein Schnarchen lässt sich vernehmen als just der Applaus, der Minks in einer 'Standing Ovation' zuteil wurde.

 

Zuvor hatte Bundestagspräsident Lammert in seiner Eröffnungsansprache eine Kunst postuliert, der der Staat "egal" sein könne. Gemeint war, der Zusammenhang legt es nahe, die Theaterkunst.

Es steht zu vermuten, dass hier mehr als nur Wunschdenken am Werk ist. Der Schöngeist leugnet, im Glauben, uns Künstlern aus der Seele zu sprechen, den verzweiflungsvollen vitalen Konnex des Theaters mit der (es fördernden) Polis. Er proklamiert geradezu die Amnesie der Theaterkantine in Bezug auf die Ursprünge des in ihr beheimateten Kunstgewerbes. Und höre da: ein heftiger Applaus der solcherart von sich selbst Erlösten belohnt ihn.

Damit das nun nicht in den verrammelten Himmel wächst werden gleich darauf die Besucherzahlen der Theater mit denen der öffentlichen Bäder verglichen – letztere sind mehr als fünfmal so hoch. Und um der ausgesuchten Brutalität des Vergleichs die Aura des gehoben Geistvollen zu geben, wird auf den aus dieser Differenz zu gewinnenden "Aufschluss über die hygienischen und die ästhetischen Bedürfnisse der Kulturnation Deutschland" lächelnd verwiesen.

 

Hier spätestens waren Präsident Zehelein, Direktor Bolwin und sämtliche weiteren Vertreter der veranstaltenden theaternahen Institute ihrerseits berechtigt, den Saal zu verlassen.

Man sollte die Hallenbäder noch schneller schließen, als es augenblicklich geschieht - schneller jedenfalls als die Theater. Auf diese Weise wird der Lammertschen Form der 'Kulturkritik' dauerhaft der Boden entzogen.

Überhaupt "die Kultur"! Der vielfach geschundene Begriff führt in der Geisterbahn des nach ihm benannten Betriebs das Dasein des allerkläglichsten, bemitleidenswertesten Hausgespensts. Es wäre vermessen, hier mit dem Schindluder, der landauf, landab mit dem Terminus 'Kultur' getrieben wird, aufräumen zu wollen. Wer vermag 'Gesellschaft' von ‚'Zivilisation' zu unterscheiden, 'Zivilisation' von 'Kultur' und 'Kultur' von 'Kunst'? Ein Theater ist ein Kulturphänomen, aber ein Bordell ist es auch. Ein Museum ist ein Kulturphänomen, aber eine Abwässerkläranlage und ein Gefängnis sind es auch. Ein Symphonieorchester ist ein Kulturphänomen, aber die Müllabfuhr und die Börse und ein Altersheim sind es auch. Die Verteilung von Reichtum und Armut ist in erster Linie eine kulturelle Frage. Die Phrase von der 'Kulturnation" – als einem Etikett einer Nation gehobener Ansprüche – ist, vor allem hierzulande, dumpfer Unfug.

 

Wenn eine Theaterakademie, wenn ein Bühnenverein, wenn eine 'Kulturstiftung' (sic!)
meinen, zum Zwecke der Rettung ihres vom abendländischen Untergang bedrohten Bestands Preise, quasi als 'Kulturschwimmwesten', austeilen zu müssen, ist dies das Eine.

Ein Anderes ist es, die Durchführung der Maßnahme in die Hände von Leuten zu legen, die, fern vom Theater, aus dem sicheren Port ihrer eingebildeten massenmedialen Avanciertheit, mit Geringschätzung, bestenfalls mit Gleichgültigkeit, auf das Desaster blicken.

Wenn man obendrein der Mitinhaberin der beauftragten Produktionsfirma Kobalt TV, einer gewissen Isabel Habsburg-Lothringen-Kyburg, gebürtige Katharina Isabel Gräfin von Hardenberg, eine Laudatio überlässt, dann muss man zwangsläufig darauf gefasst sein, Sätze zu Ohren zu bekommen wie den, dass der – preisgekrönte – Container der Kölner Inszenierung nach dem Film von Ettore Scola der "Beweis dafür (ist), dass Bühnenbild, Kostüm und Spiel die Sprache überflüssig machen können".

Die auf eiskalte Fernsehmaßstäbe geeichte Adelsdame mit der eigentlich doch sehr verdienstvollen Ahnenreihe verkehrt, die Bataillone ihres "TV-Publikums" im Rücken, die intendierte Rettungstat der Veranstalter in einen Nackenschlag für das strauchelnde Medium Theater ("Ich weiß, dass das einige hier nicht gerne hören.")

Armer Novalis.

 

Es ist in der Aufzeichnung der tüchtigen Firma Kobalt leider nicht zu erkennen, wann Norbert Lammert die Biege gemacht hat – die 'Fernsehprofis' haben sich da eindeutig (und absichtsvoll?) etwas entgehen lassen.

Irgendwann war der Sessel neben Frau Ministerpräsidentin Kraft (die sich an diesem Abend übrigens als stolze Erfinderin eines NRW-Kulturrucksacks präsentierte) schlicht geräumt.

Zu erleben ist freilich, wie die gekürten Kölner Ausstattungskünstler, statt reumütig und betreten die Stuhlreihen zu zerkleinern, freudestrahlend einen Preis entgegennehmen, der, mit derartiger Begleitmusik versehen, eine Verhöhnung ihres Berufs darstellt.

Dass Herrn Lammert diese Form der neuerlichen Ent-Täuschung kränken konnte, ist nachvollziehbar, wie er sich so täuschen (lassen) konnte, weniger. Er möge sich nur nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch er uns – erwartungsgemäß – enttäuscht hat.

Er scheint doch wahrhaftig zu glauben, unsereiner wäre getröstet, wenn, wie in seiner Rede geschehen, die "Systemrelevanz" der Theater mit der "von Banken und Parlamenten" – sprich von Wirtschaftsverbrechern und Konzernlobbyisten – gleichgesetzt wird: Scharfer Protest wäre an diesem Punkt, aus national wie weltweit zureichend belegten Gründen, angezeigt – stattdessen klatscht die provinzielle Assemblée des deutschen Theaters un- bzw. desinformiert, wie sie ist oder zu sein scheint oder immer noch sein zu dürfen meint, ihren systemkonformen Enthirntenbeifall. Und selbst wenn – werden die den Banken vergleichbar systemrelevanten Theater vielleicht mit einem vergleichbaren Aufwand herausgepaukt? Mitnichten – sie leben, der Redner spricht es aus, "in Zeiten knapper Kassen".

 

Und die Laudatoren? Mehr oder weniger würdelos nutzten sie, mäßig prominent wie sie für das 'TV-Publikum' nun einmal sind, ihren Auftritt, um sich selbst in Szene zu setzen. Die Aporie, der unauflösliche innere Widerspruch des derzeitigen FAUST-Unternehmens offenbart sich hier besonders krass und besonders peinigend.

 

Genug. Den unverbesserlichen FAUST-Preisverleihern ist zu empfehlen, die fragwürdigen Modalitäten ihrer Betriebsamkeit gründlich zu überdenken. Sie waren gewarnt, sie sind es erneut. Diese zweite Erneuerungschance zu verspielen, hieße, die von ihnen vertretenen Einrichtungen endgültig zu diskreditieren.

Die Mitglieder dieser Einrichtungen sind dringend aufgerufen, ihren Chefs auf die Finger zu sehen.

Den künftigen Preisträgern sei geraten, sich, sollte sich nichts ändern, beizeiten Begründungen dafür zu zurechtzulegen, dass sie es Wilfried Minks nachtun und ihre Preise auf dem Rednerpult vergessen werden.

Sofern sie es nicht vorziehen, dieselben gleich in ihrem schicken Regal verstauben zu lassen.

 

Frank-Patrick Steckel, geboren 1943, ist Regisseur. Er war Oberspielleiter am Schauspiel in Bremen und Intendant des Bochumer Schauspielhauses. Seit 1995 arbeitet er als freier Regisseur, zuletzt inszenierte er im Oktober 2010 am Theaterlabor Bremen Rein theoretisch.

 

mehr debatten