Hunger Games im Förderdschungel

4. Juli 2023. Wer frei Kunst produzieren will, muss alljährlich ins Unterholz kriechen: also in die Böhmischen Wälder der Förderanträge und Juryprozeduren. Ein Prozess, bei dem man allen auf jeder Seite nur gutes Werkzeug wünschen kann. Oder Aufwüchse.

Von Atif Mohammed Nour Hussein

4. Juni 2023. Ach, Herrjeh, deutscher Wald! Jedes Jahr wirst Du regelmäßig durchforstet. Das Wörterbuch kennt dafür einiges an Synonymen – ausdünnen, ausholzen, lichten oder auch absuchen, durchsehen, durchsuchen, durchwühlen. Baumbestände müssen planmäßig ausgeholzt, von minderwertigen Stämmen befreit werden. In weiten Teilen dieses reichen Landes geschieht das zweimal jährlich – im Frühling und Herbst. Nur in Bayern (war ja klar!) und in Berlin (war auch klar!) leisten sich die Landesregierungen lediglich eine einmalige Durchsicht des Unterholzes. Im Sommer!

"Nein, nein", behaupten manche, "es geht doch nur darum, das alles mal auf etwas Bestimmtes hin kritisch durchzusehen, Überflüssiges zu entfernen, verstehen Sie?! Alte Vorschriften und dieses System von Vergünstigungen, dass …" Danke, hab verstanden!

Wie der Wald so die freie Kunst

Selbstverständlich geht es nicht um unseren stolzen deutschen Wald, sondern unsere nicht minder (sehr berechtigt) stolze Freie Darstellende Kunstszene – wunderbarerweise nicht ganz so "deutsch"!

Immer wiederkehrend jährlich tagen bald nicht mehr zählbare Jurys, Beiräte, Gremien und Verwaltungen auf kommunaler und Landesebene, und seltsam präsidial darüber noch der Bund, ausgestattet mit ausdifferenziertesten Förderinstrumenten, und wählen aus, wer für was denn nun die Kohle bekommen soll.
Kürzlich, während der Pandemie, wurde sogar aufgeforstet, erhöhte sich der Aufwand, all das (jetzt wieder bedrohte) Liebenswerte zu schützen, zu hegen und zu pflegen.

Am Ende regnet es zart Konfetti

Simpel betrachtet haben diese komplexen Vorgänge etwas von "The Hunger Games". Ohne Tote selbstverständlich. Und leider auch ohne diese fancy Mentor*innen, Designer*innen – einmal von Lenny Kravitz style verpasst bekommen, das wäre es ja irgendwie …

Wochenlang bereiten Einzelkünstler*innen, Compagnien und Kollektive ausgefeilte Konzeptanträge vor, versuchen Gedanken, mitunter Emotionen, Vages und Dezidiertes textlich zu erfassen. Wie persönlich ist das Ganze zu vermitteln? Wann wird aus einem portfolio eine eitle Selbstdarstellung? Müssen wir nicht doch etwas zeitgeistiger sein? Man* liest, wertet, verwirft, formuliert um. Sitzt nachts mit rauchendem Kopf und glühendem Herzen vor dem Laptop. Klingelt Kolleg*innen aus dem Bett, aus Proben oder Konferenzen, in der Hoffnung, sie hätten den einen zündenden, vielleicht rettenden Gedanken … Und nebenbei muss der Hund auf die Straße und das Kind hat schlecht geträumt … oder umgekehrt.

So viele Hoffnungen und Selbstzweifel an die Wahrnehmung der eigenen berechtigten Interessen – lang bevor überhaupt in die eigentliche künstlerische Arbeit eingestiegen werden kann – gibt es selten. Übrigens, kein Stadt- und Staatstheater, deren Budgets erstmal bewilligt sind, betreibt diesen Aufwand – hab lang genug da gearbeitet. Und sicher, frei zu arbeiten, sich nicht zu institutionalisieren, bringt neue Zwänge mit sich – aber das ist eine andere Geschichte …

Letztlich, weil gut trainiert, gelingt es, sich durchs Verfahren zu meistern. Auf der Website der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt heißt es dann sehr technisch: "Ihre Daten wurden elektronisch an die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt übertragen." Belohnt wird man* mit einem zarten virtuellen Regen aus Konfetti. Allein dafür war's den Aufwand, aus etwas verdrehtem Blickwinkel, wert …

Aus dem Inneren der Jury-Arbeit

Pünktlich also, unmittelbar nach diesem Stichtag – in Berlin ist das der 30. Juni – beginnt die Arbeit der Verwaltungen. Etwa 14 Tage später, aufbereitet und vorsortiert, gehen sämtliche Antragskonvolute für Einstiegs- Einzelprojekt- und einjährige Produktionsorteförderung an die Jury raus. Diesen wattierten Umschlag mit dem kleinen stick voller Datensätze mit leicht flatternden Händen zu öffnen, ist dann doch nicht so cool wie Weihnachten – ich habe das dreimal gemacht.

Gesondert kommt dann noch das Passwort. Ungefähr 340 – 360 Anträge, hochgerechnet etwas mehr oder weniger als 7.000 Din-A4-Seiten – ausgedruckt und dicht aneinandergelegt – ein papierner Weg von der Senatsverwaltung bis zur Pfaueninsel. Let's start the run … Etwa zwei Monate Zeit wird gegeben, nach dem "Förderwürdigen" zu fahnden. Respektiert man* die Arbeit der Antragssteller*innen – und das machen alle Jurymitglieder mit denen ich arbeiten durfte – wären das locker 14 Stunden Lesezeit pro Tag!

Also heißt es clevere Taktiken zu entwickeln, um nicht schon vor Beginn der beratenden Sitzungen tot vor dem Computer zusammenzuklappen oder irgendetwas in die Luft zu jagen. Finanzpläne und Dokumentationen erst einmal skippen, den Bereich zu dem man* die meiste Expertise hat, vorziehen, querlesen, Unterordner anlegen, priorisieren … und immer wieder hängt man* fest: plötzlich steht da Katniss Everdeen im Flammenkleid, breitet ihre Flügel aus und man* kann den Blick nicht lösen. Es gibt Anträge, die sind so fein gearbeitet und originell, das Vorhaben so vielversprechend, dass man* nicht anders kann als deren Sponsor zu werden. Also gute, treffende Argumente vorbereiten, um in den Beratungen zu punkten …

Spar deine Munition auf!

Am schönsten ist dann der Moment, wenn während einer Feuer- und Flamme-Rede eines Jurymitglieds sechs andere Augenpaare signalisieren: Ja, eh klar. Sehen wir genauso. Spar deine Munition. Abstimmung. Sieben Hände gehen hoch. Fröhlichkeit. Nächster Antrag, Nummer 143 … Entgegen anderslautenden Gerüchten kann ich hier versichern, kaum empathischere Beratungsrunden erlebt zu haben. Klar gibt es sich entgegenstehende Vorlieben und Abneigungen, aber die werden immer professionell begründet. Und auch klar, gibt es extrem emotionale, vielleicht auch ungute Momente – die lassen sich nicht vermeiden und dienen, wenn alle beherzt bleiben, der Sache, nicht der eigenen Profilierung.

Der härteste Tag ist der letzte. Frage an die Verwaltung, deren Angestellte stundenlang, tagelang aufmerksam protokollieren, ordnen, durchrechnen, immer wieder mahnend auf die Uhr schauen: Wie ist denn der Stand? – Vierfach über'm finanziellen Rahmen! Time to kill your Darlings …

Vieles wird ausgeholzt

Hier liegt meines Erachtens der systemische Fehler, denn das finanzielle Volumen orientiert sich nicht am Bedarf, nicht am künstlerischen Potential und im Übrigen auch nicht an der Expertise der Jurys, sondern scheint sehr willkürlich festgelegt. Das heißt in der Konsequenz: Vieles, was da wächst und grünt in diesem Wald, muss ausgeholzt werden. Wird kategorisiert in verwertbar und minderwertig, plan- und machbar … Sicher, die Verantwortung tragen die künstlerisch Schaffenden, in diesem Rahmen jedoch zu ihrem Nachteil. Denn ohne den entsprechenden Raum wird das nichts. So wie wir mit dem Wald umgehen, so gehen wir auch mit uns um.
Bundesweit, auf allen administrativen Ebenen, liegen die Ausgaben für Kunst und Kultur bei jährlich 2,7 bis 2,9% des Gesamtetats. 10 bis 15% der Gesellschaft nutzen die Angebote … Warum dann nicht die Ausgaben auch rauf auf diese Höhe?!

Ja, ich höre die Rufe: Kindergrundsicherung! Reallöhne! Tatsächliche Obdachlosenhilfe! Klimaschutz! Alles richtig, alles überfällig. Doch solange alle die absurden, nur Partikularinteressen nutzenden Subventionen und Investitionen mitzufinanzieren haben, weiche ich von dieser Forderung nicht ab.

Habermas fand einmal für alles, was nicht quantifizierbar ist und eine Optimierung des Menschen bis hin zur absoluten Dienlichkeit und Dinglichkeit verlangt, eine Handlungsmaxime in dem Begriff "Gattungsethik" – sperrig, aber treffend.

(An die Jurys: May the forest be with you! Den anderen: Happy Hunger Games!)

 

Kolumne: Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein ist Regisseur und Puppenbauer. In seiner Kolumne stöbert er zwischen Verschobenem und Ablagerungen im Überbau.

Kommentare  
Kolumne Hussein: Werdet Förster!
Gibt es denn für Jury-Arbeit wenigstens Geld? Dann könnte in diesem Förder-System doch das Motto lauten: alles dafür, dass man in so eine Jury kommt! - Aus Anpassungen an Förder-Erfolgswahrscheinlichkeiten raus und rein in die relative Sicherheit der Forst-Wirte! - Dann kommt garantiert Kunst raus! - Den Vorschlag des Kolumnisten nach Habermas finde ich gut. Ich selbst habe mal vorgeschlagen, dass jeder Absolvent eines Kunststudiums (darstellende und bildende sowie Musik) für drei Jahre ein bedingungsloses Staatsgehalt bekommt. Das sollte ihm die Freiheit der Etablierung im Betrieb mit seinem individuellen Ausdruckswillen und seiner individuellen Arbeitsmethodik sichern. - Gut beschrieben: Im Förderdschungel gewinnt, wer den Umgang mit ihm geübt hat und dafür routiniert genug ist. Was aber ist mit denen, die neu ungeübt sich in das eingewohnte Bürokratiemonster-Wagnis stürzen? Hier wird er Segen der Digitalisierung m.E. zum Kontroll-Wahnsinn - aber gut, wenn man dafür Kohle kriegt...
Kolumne Hussein: Falscher Vergleich
Sehr launig grschriebener Artikel, der mir die Augen geöffnet hat für den unglaublich großen Zeitaufwand, um an erforderliche Gelder zu kommen.
Nichtsdestotrotz haben die beiden Prozentwerte so gar nichts miteinander zu tun und es macht keinen Sinn, sie gemeinsam zu nutzen.

Die Aufwendungen für Kultur sind ein Teil der Gesamtaufführungen der öffentlichen Hand für die Daseinsfürsorge (Sozialleistungen, Infrastruktur, Gehälter und tausend Dinge mehr).

Sie werden von 10-15% der Menschen für einzelne Stunden genutzt, aber nicht für 24 Stunden am Tag. Also passt der Vergleich leider nicht, so schön er auch klingt.
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