Redaktionsblog - Im Falle von Volker Löschs Lulu
Böser Mann setzt selber Klassengesellschaft fort
17. Dezember 2010. Noch vor vier Tagen hatte sich der Berliner Theaterkritiker Peter Laudenbach sehr angetan vom Chor der Frauen in Lulu - Die Nuttenrepublik gezeigt, als er in der Süddeutschen Zeitung Volker Löschs Inszenierung an der Schaubühne rezensierte. Er schrieb von "Feinheit der Form" und "empfindlichen Tönen" von "vielschichtigen, reflektierten, ehrlichen" Texten, die sich "klischierten Opferzuschreibungen" entzögen. Den fünfzehn Frauen des Chores hatte Laudenbach "gespannt, wach und voller Respekt" zugehört.
Und jetzt das! Alles bloß ein PR-Gag, die Sexarbeiterinnen sind ja gar nicht echt. "Einige Tage nach der Premiere", schreibt Laudenbach heute in der Süddeutschen Zeitung (17.12.2010), "musste die Schaubühne auf Nachfrage bestätigen, dass vier der fünfzehn Chor-Frauen ganz normale Jungschauspielerinnen sind." Was nicht weiter ehrenrührig wäre, findet der 46jährige Kritiker, hätte nicht die Dramaturgie des Hauses diesen Umstand verschweigen wollen. Dabei sei doch, so Laudenbach, das "Authentizitätsversprechen" das einzig "Interessante" an Löschs "lautstarken Inszenierungen". Falle dies weg "bleibt außer aggressiven Parolen wenig übrig".
Wie war das doch gleich mit den ""vielschichtigen, reflektierten, ehrlichen" Texten, denen er gerade noch Respekt gezollt und gerne wach und gespannt zugehört hatte?
Und weiter greift Laudenbach einen zweiten Missstand auf. Er kritisiert die dem Vernehmen nach schlechte Bezahlung der Chordamen: "Für sechs Wochen Probenzeit sollen sie nur einige hundert Euro erhalten haben. Die Abendgage für die anstrengende Show beträgt bescheidene 80 Euro." Und vermutet munter fort: "Löschs Regie-Gage dürfte nicht unter 25000 Euro liegen." - "Sollen", "dürfte" - Genaues weiß Laudenbach nicht. Das hält ihn allerdings nicht davon ab, anstatt zu recherchieren, ein ebenso moralisch gewisses wie vernichtendes Urteil zu fällen: "So setzt sich die von Lösch gerne attackierte Klassengesellschaft auf der Bühne und in den von ihm selbst geschaffenen Arbeitsbedingungen fort. In anderen Branchen nennt man so eine Bezahlung: sittenwidrig."
In anderen Branchen nennt man derartige perfide Strategien, die aus Unterstellungen Tatsachenurteile schmieden - ja, genau.
(jnm)
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
meldungen >
- 28. März 2023 Wolfgang Schivelbusch gestorben
- 23. März 2023 NRW: Studie über Wünsche und Erwartungen an Theater
- 23. März 2023 Preis der Leipziger Buchmesse: die Nominierten 2023
- 23. März 2023 Dieter Hallervorden erhält Preis des Berliner Theaterclubs
- 21. März 2023 Die Auswahl der Mülheimer Theatertage 2023
- 20. März 2023 Metropoltheater München setzt "Vögel" endgültig ab
- 19. März 2023 Leipziger Schauspieler Gert Gütschow verstorben
Ich persönlich finde es eine grosse Leistung, nicht nur Gesicht zu zeigen, sondern sich mit der eigenen Biographie zu konfrontieren und zugleich die Öffentlichkeit mit ihrer eigenen Doppelmoral; dass man mit der Suche nach dem Authentischen diese ganze Arbeit, das Stück selbst in Frage stellt, leuchtet mir nicht ein. Was für mich interessant ist, ist die Beobachtung, daß viele Enttäuschten ihre Projektionen nicht wiederfinden und jene, die Klischees meinen ausmachen zu können, offenbar ein ganz anderes Stück gesehen haben, weil das Stück diese schlechterdings nicht aufführt. Auch der zum Erbrechen wiederholte und voneinander abgeschriebene Agitprop Vorwurf, der alle Stücke von Lösch begleitet, wird dem Stück keineswegs gerecht, wenngleich ich persönlich Agitprop nicht als Beleidigung empfinde. Wenn man die Arbeitsweise von Lösch und seinem Team kennt, frage ich mich, warum manche Kulinariker, die in den Sphären der vermeintlichen Hochkultur schweben, überhaupt in seine Stücke gehen.
Die sehr differenziert eingebrachten und aufgeführten, auch privaten Erfahrungen der Chorfrauen kommen auf der Bühne zu ihrem Recht und sind m.E. klug in die Handlung eingewoben und fächern die Figur Lulu weiter auf, auch ihren zunehmend erfolglosen Kampf, sich den Projektionen ihrer wechselnden Gefährten zu entziehen. Ich denke, Wedekind hätte es gefallen, schliesslich war er es, der männliche Verhaltensweisen typisiert hat. Es scheint sich in hundert Jahren offenbar nicht viel getan zu haben. Weshalb auch im Schlussmanifest eine Hoffnung durchlugt, jene nach einem partnerschaftlichen Umgang zwischen Mann und Frau, Kunden und Sexarbeiterin, die sich respektvoll und oft zärtlich begegnen.
zuerst einmal:
ich habe großen respekt vor ihrem mut.
ihrer privatheit auf der bühne..
doch einige fragen muß ich mir dann doch auch noch stellen:
warum müssen die betroffenen ihre privaten texte sprechen..schon herr pohl hat in wartesaal deutschland authentische interviews auf die bühne gestellt, die aber von schauspielern gesprochen und dargestellt werden..warum muß herr lösch sich des reißerischen vorgangs bedienen und gleich die betroffenen selbst - laienhaft - sich hinstellen lassen..keine distanz zum text..ohne dies in einer bildzeitungsartigen sensationsgier ausarten lassen zu wollen und diesen - klatschsüchtig -mensnchlichen - effekt für seine --zwecke (sensationsgier der zuschauer) zu mißbrauchen...? wenn er einen wirklichen therapeutischen effekt bei ihnnen persönlich erlangen wollte..hätte er das nicht gebraucht...oder gleich NUR theater mit laien gemacht (siehe die ratten der volksbühne oder das jugendthesater unter druck, mit süchtigen betroffenen)...dies hätte aber nicht solche hochkulturellen wellen nach sich gezogen ..und herrn lösch in seiner karriere nichts genützt...--wage ich mal zu behaupten..- er wäre dann utner dem aspekt theaterpädagogisches laienthester gefallen, ich glaube nicht, daß er dann an der schaubühne inszenieren hätte dürfen...--
dann...
warum muß man für sex bezahlen? wenn es mit zärtlichkeit bestückt ist..warum ist es, wenn es anscheinend so "leicht" und "natürlich" ist, vermischt mit einer sehnsucht nach einer gleichberechtigten begegnung zwischen mann und frau, so schwierig, sich mit der eigenen biographie auseinander zu setzen nach dieser arbeit..wenn ich z.b. als kellnerin oder putzfrau, altenpflegerin..oder auch sex-therapeutin gearbeitet habe, also auch dienstleistungen, die manchmal von einem devoten und zärtlichen handeln bestückt und dafür bezahlt werden, ist es z-b- meines erachtens nicht so schwierig, sich später damit auseinander zu setzen...warum gibt es diese gesellschaftlichen doppelmoral...wenn es nicht so heikel wäre, es künstlerisch auf die bühne zu bringen? warum fand herr lösch keine sechzehn banker, die mit dieser schlechten bezahlung ihre - oft auch zwielichtigen aktiengeschäfte aus dem dunkelbereich ihrer biographie zu zerren bereit waren?..warum wurden die chordamen überhaupt so schlecht bezahlt, wenn sie so wahnsinnig wichtig für das stück waren? warum hat er die schauspielerische arbeit mit den anderen künstlern (den schauspielern) so streng vernachlässigt, daß es oft nur chargen wurden und nicht gleich ein therapeutisches stück auschließlich mit den betroffenen gemacht? ....
ich kann mir gut vorstellen, daß diese debatte hier für sie und ihre kolleginnen zermürbend ist..und ihre arbeit nicht genug gewürdigt wurde...hier wird aber nicht die arbeit und der therapeutische effekt (vielleicht auch für sie und auch den zugegeben sehr bewundernswerten umgang mit ihrer konfrontation ihrer biopgraphie und den daraus resultierenden gesellschaftlichen mut) kritisiert...sondern die künstlerische , theatralische arbeit und der in meinen augen dubiose umgang herrn löschs anhand dieser inszenierung..der vielleicht gut gemeint war..aber noch lange nicht künstlerisch und gesellschaftlich plausibel sein muß...-wenn er denn einen solchen anspruch hat...hat er den??-
p.s.:
außerdem würde ich die süddeutsche zeitung nicht abbestellen, nur weil darin ein artikel eines einzelnen theaterkritikers vorkommt...die restliche redaktion kann ja da nichts dafür...herr laudenbach ist auch nur - EIN - mensch..und, vergessen sie nicht:...ein mann .-)...liebe grüße und einen schönen tag noch!
Ich habe in diesem Jahr zum ersten Mal eine rein biographische Arbeit abgeschlossen, die sich um Misshandlung und Missbrauch dreht und durfte so eine, wie sagt man "komplexe posttraumatische Belastungsstörung" erleben. Grauenhaft.
Aber wenn Sie nun mit einer solch "abgespaltenen und instrumentalisierten Sexualität" einen Kunden "bedienen", beschädigen Sie ihn nicht auch?
Ich sah in der Sendung "Foyer" eine Frau aus dem Chor, die für sich in Anspruch nahm dicken und häßlichen Männern die Zärtlichkeit und Zuwendung zu geben, die sie bei ihren Frauen nicht bekämen. Ich fand dies ein wenig naiv, wirklich zu meinen durch Sexarbeit echte Zuwendung ersetzen zu können. Mag sein, dass sich einige Männer dieser Illusion hingeben. Glaubwürdig ist der Vorgang in sich nicht.
@666. Hören sie doch auf immer den selben Gaul zu reiten.
Welcher Befehlston? Wovon reden sie? Bitte keine Unterstellungen.
Was soll ich Ihnen befohlen haben ?! Ganz konkret !
"Das ist die Fratze des moralinsauren Bürgers, der sich betrogen fühlt, um ein bisschen Authentizität."
Nun, wenn das Theater nichts anderes mehr zu bieten hat außer ein bisschen "Authentizität", dann sollte wenigstens das noch hinhauen. Das kann ja wohl nicht so schwer sein.
Und ist der Bürger wirklich moralinsauer, wenn er so einfache Dinge fordert wie: Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht lügen?