Theatertreffen 2015 - Castorf kehrt mit Baal und ohne Brecht heim ins Frank-Reich
Apropos Chicks Now
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 17. Mai 2015. Bei der Abschlussdebatte der Theatertreffen-Jury war man sich am Sonntagnachmittag auf dem Podium einig, dass wir "in schlimmen Zeiten" leben. Und dass die eingeladenen Inszenierungen das widerspiegeln. Nur: Was meinen die Juroren mit "schlimme Zeiten"? Meinen sie den Krieg im Nahen Osten, meinen sie den Krieg in der Ukraine, meinen sie die Menschen, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrinken, meinen sie die Gentrifizierung in Berlin-Kreuzberg, das Zeitungssterben? Wie lokal oder global war das eigentlich gemeint?
Es ist Krieg und wir gehen hin
Frank Castorfs "Baal", der das Theatertreffen mit seiner erzwungenen Derniere am Sonntagabend abschloss, positioniert sich ähnlich diffus zur Weltlage und kann aber das Recht der Kunst für sich reklamieren. Es ist Krieg, aber es ist auch lustig und glamourös. Es ist dunkel und unübersichtlich auf der Bühne von Aleksandar Denic, aber das erleuchtete Auge der Live-Kamera findet immer wieder animierte Schauspielergesichter oder sich darbietende Frauenschöße, in denen es zum Trost verweilen kann.
Es ist nicht genug Brecht für die Brecht-Erben, aber es ist eigentlich doch erstaunlich viel Brecht. Auch wenn Baals expressive Aufwallungen immer wieder genussvoll durch den Kakao gezogen werden (und die Schauspieler ein paarmal witzelnd auf die nach Ansicht der Brecht-Erben übermäßige Fremdtext-Verwendung anspielten), als Energiestifter funktionieren sie ganz gut und strukturieren die Inszenierung, die allerdings nur im Mittelteil ein Tempo findet, in dem Castorfs Ästhetik nicht gerinnt oder Blasen schlägt. Da werden vor allem lange Teile von Apocalypse Now nachgespielt; die Schauspieler stehen vor einem Blue Screen mit dem laufenden Film vor der Bühnen-Kamera und haben immer ein bisschen Vorsprung, so dass es die Originaldialoge sind, die nachhallen. Und es öffnete sich ein im besten Sinne historischer Assoziationsraum, der in seiner Weite das meiste, was sonst so bei diesem Theatertreffen geboten wurde, klein aussehen ließ.
Schon nackt zur Probe?
Aber dieses Erlebnis lässt mich die Frage nicht vergessen, die vor allem die erste Dreiviertelstunde – mal wieder – bei mir aufkommen ließ: Wie ist das eigentlich? Kommen Castorfs Schauspielerinnen schon nackt zur Probe und werden je nach Fundusbestand mit Glitzer- oder Spitzenschlüpfer eingekleidet. Oder kommen sie angezogen und strippen dann, um das Team in Stimmung zu bringen? Also, warum, lieber Frank Castorf, müssen die Frauen bei Ihnen immer halb bis fast/ganz nackt sein und auf Stöckelschuhen balancieren? Weil sie das so gut können? Weil sie es so wollen? Weil es so ungeheuer sexy ist, wenn sie dann auch noch intelligent und furios daherreden?
Nach so einer Castorfschen Wahrnehmungs-Dekonstruktion kann es schon mal passieren, dass man an Einzelheiten hängenbleibt. Zum Beispiel eben an diesen Frauen, die bestimmt keine Frauenquote brauchen und auch nicht wollen. Was wohl Brecht himself dazu sagen würde?
Mehr zum großen Frank Castorf-Baal-Hype:
- Lexikon-Eintrag Frank Castorf
- Nachtkritik von Michael Stadler vom 15. Jänner 2015
- Alles zum Urheberrechtsstreit um Baal
- Rupprecht Podszuns Genealogie "Nach Baal: Dürfen Regisseure remixen? Urheberrecht und Regietheater"
- Festivalübersicht Berliner Theatertreffen 2015
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Was den Sexismus angeht: in diesem konkreten Fall finde ich das ein etwas problematisches Argument. Nicht nur, weil die Männer genauso zur Schau gestellt werden, wie die Frauen (Aurel Mantheis erster Auftritt findet doch gleich mit entblößtem Schmerbauch und in der knappen Unterhose statt -- siehe auch das Poster). Sondern auch, weil Brechts Text auf so interessante Weise verteilt wurde, dass Baal jetzt von allen gesprochen wird. Und sich daraus für mich eine Situation ergab, in der sowohl die Verrohung als auch die paradoxe sexuelle Anziehungskraft auf und über alle verteilt. Da sind nicht mehr, wie bei Brecht, die Frauen alle mehr oder weniger hilflos dem Baal verfallende Wesen, sondern da verfallen eigentlich alle allen, und alle haben ähnlichen Zugang zu diesem Baalschen Magnetismus. Und das hebelt den Sexismus, den man dem Text wohl schon vorhalten kann, doch irgendwie aus. Oder nicht?
Falls sich jemand ohne ausreichende Sprachkenntnisse in diese Menschentraube verirrt haben sollte und vor lauter “Karte, Karte, Karte” nur noch Bahnhof versteht: es ging “nur” um eine Theater-Aufführung von Frank Castorf. Ein Berliner Theatermacher, von dem man ähnliche Arbeiten einige Kilometer weiter östlich in seinem Stammhaus am Rosa-Luxemburg-Platz ganz stressfrei ohne die ganze “Suche Karte”-Hysterie erleben kann. Wenn man sich statt für seine aktuellste Arbeit Baal für seine vorletzte Produktion Kaputt entscheidet, kann man es sich in einem halbleeren Auditorium richtig gemütlich machen.
Wenn der zufällig in den Trubel geratene Besucher sich nun fragt, was ihn bei einem Castorf-Abend erwartet, können wir ihn guten Gewissens an das Theatertreffen-Blog verweisen. Genau, das sind die mit der allerallerletzten versteigerten Karte. Auf Englisch erklärten sie dort, woran man einen Castorf-Abend erkennt.
Wenn man sich mit dieser Checkliste in die Aufführung setzt, kann man fleißig die Punkte abhaken: es gibt wieder viele Live-Videos, es wird viel geschrien, die Schauspielerinnen und Schauspieler rennen leichtbekleidet über die Bühne und beschimpfen sich: “Hier geht man nicht halbnackt auf die Bühne!” – “Idiot!” Und das Ganze dauert wieder deutlich mehr als vier Stunden.
Brechts “Baal” wurde mit viel Fremdtext zu den Themen Krieg und Kolonialismus angereichert, dazu coole Beats, etwas Tarantino-Style und ein Hubschrauber.
Die Quintessenz: “Das Leben ist eine Farce, die wir spielen müssen.”
Also alles wie immer bei Castorf. Kein Grund zur Aufregung.
http://kulturblog.e-politik.de/archives/24999-castorfs-umstrittene-verbotene-baal-inszenierung-zum-abschluss-des-berliner-theatertreffens-2015.html
Was ich irritierend finde ist, dass Typen gesucht werden, die einen ziemlich stark an VoBü Stammspieler (K. Angerer) erinnern und die doch nur in der Kopie hängenbleiben (eine gute Kopie, aber trotzdem Kopie). In diesem Zusammenhang geht für mich dann auch manchmal die Haltung verloren. Das Ergebnis sieht man an obiger Fragestellung. Castorf hat etwas geschafft, dass heute tatsächlich selten ist - Er ist nicht austauschbar und so ist es auch mit seinen Schauspielern.
einen schmerbauch hat aber diese sexismusdebatte im kleinen.
schade, dass baal nun vorbei ist, ich hatte das glück die letzte münchen vorstellung sehen zu können, ein dunkles wildes spektakel. apocalypse now bbaal! danke castorf, danke brecht, danke coppola... war ein grandioser mmix vom mixmaster fränk
@Sexismus: plumper Versuch eines Debattenanstoßes. Nachtkritik, bitte nicht! Oder war es Anbiederung an Brechts Erben: Castorf, Du darfst inszenieren, aber bitte ohne nackte Frauen (und natürlich ohne Fremdtexte)!? Ich bin dankbar, dass die Kommentaristi hierauf nicht reingefallen sind und sich eher lustig machen. Und jetzt: ohne Cognac, keine Lyrik.
Das ist jetzt aber ein anderer Film mit den Brüsten, und der ist tatsächlich von einer Frau. Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass ich Sie Chick nennen würde? Kenne wir uns näher? Und außerdem habe ich nur die Bezeichnung aus der Überschrift übernommen. Aber vielleicht ist es hier ja genauso wie auf der Bühne. Frauen machen die Texte und Männer die Headlines. So kommt zum strukturellen Rassimus auch noch der alltägliche Chauvinismus. Und dafür bzw. dagegen opfere ich gerne mal einen Schlüpfer. Ansonsten, Mut zur Lücke, liebe Inga.
Castorf wurde zu Recht gefeiert.
Standing Ovations am Ende.
Männer hatten keinen Bauch, sie waren ebenso erotisch wie die Frauen.
Und politisch wurde es auch.
Wenige gingen in der Pause. Keine Buhs am Ende.
Inga muss wieder schreiben gegen Brecht und gegen Castorf, gegen nicht gezeigte Busen. Hat sie die homoerotische Komponente des Stückes verpasst? War sie anwesend?
Klar, immer wieder schön der Ablauf auf Highheels.
So viele Menschn, die am Ende weit mehr Beifall gaben als zu all den anderen sehr guten Inszenierungen des TT 15 (Ich haben 9 gesehen) können nicht irren.
Am Ende bleibt bei mir die Frage, ist solch ein Abend genial, der so viel zusammenbringt, Fragen aufwirft und mit klugen Zitaten antwortet? Man muss Castorf zuhören, um diesen Gewinn zu spüren. Man darf nicht blind in seinen eigenen Strukturen haften, man muss offen sein. Dann bleibt ein großer, nachhaltiger Gewinn nach solch einem Abend. Dann spürt man die Menschlichkeit und ehrlich, es geht doch wirklich nicht um Nacktheit, Geilheit und männliche Vorlieben. Wer das so einfach sieht, hat einfach nicht zugesehen oder versucht zu verstehen.
Solche Abende brauchen die Qual der 5 Stunden. Am Ende hat man aber ein wenig Welt verstanden.
Sehr kluge Dinge sind ja schon gesagt worden hier (v.a. #4 und #8!). Deswegen ist es vielleicht kleinlich und auch recht pedantisch, trotzdem mal darauf hinzuweisen, dass zwar alle Schauspieler mehr oder weniger spärlich bekleidet agierten, aber eigentlich niemand nackt war. Und das macht schon einen gewissen Unterschied, eben besonders wegen der theoretischen/politischen Perspektive, die #4 & 8 der Diskussion gegeben haben. Castorf lässt seine Spieler zwar eine sexistische Logik demonstrieren, tänzelt aber um die Falle, diese Logik damit einfach wieder zu reproduzieren, herum in dem er seine Frauen (und zum Grossteil auch die Männer) dann eben doch nicht einfach zu Schauobjekten macht. Da muss man sich allein anschauen, wie Bibi Beglau (hier noch weniger als noch bei Reise ans Ende der Nacht) die grösste körperliche Stärke von allen vorzeigen darf, um zu erkennen, dass es hier nicht darum geht, gängige Geschlechterstereotypen auf die Bühne zu bringen.
Die andere Frage ist die der Erotik. Und da muss ich schon sagen, dass ich diesen Abend ganz extrem (und ganz gewollt) unerotisch fand. Das musste aber auch so sein -- alles andere fände ich doch ziemlich problematisch und im totalen Widerspruch zur politischen Linie der Inszenierung.
Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/05/19/schweine-und-windmuhlen/
Brecht-Boykott bis 2027 !!!