Der große Pan

von Andreas Wilink

15. Mai 2016.

Lieber Herbert Fritsch,

Der Duden führt unten den Synonymen für "panisch" auf: angstverzerrt, kopflos, sterbensbang; medizinisch: phobisch; heftig, leidenschaftlich, rasend, ungezügelt; vehement.
Ich will Herbert Fritsch nun keineswegs zum klinischen Fall erklären, allein, auf der Intensivstation befindet er sich schon. Zu der macht er das Theater, nicht erst als Regisseur. Schon der Schauspieler hat die Intensiv-Behandlung Regie führender Medizinmänner erfahren nicht ohne Risiko und Nebenwirkungen – aktivisch-passivisch, leidend und heilsam, unter Bluthochdruck stehend und bei körperlicher Extrem-Symptomatik.

Doch der alte Affe Angst ist bei ihm ein fideler Geselle und ein Gemeinschaftswesen. Und die Paranoia, von der Christoph Schlingensief gelegentlich sprach wie von einem lieben Gewohnheitstier auf seiner Schulter, kuscht und kuschelt bei ihm als halbwegs gezähmte Bestie.

Herbert Fritsch1 Yehuda Swed © Yehuda Swed

Man könnte ihn Herbert Pan nennen. Sein Stammbaum wurzelt bei dem triebversessenen alten Gott und dessen Nachkömmling, dem ewig unschuldig ungehemmten Spielkind aus Nimmerland, das sich dem Erwachsen-Werden verweigert und auf polymorph perverse Weise Eros und Tod weder verleugnen noch ganz wahrhaben will. Herbert Fritsch ist der große Pan und seine Schauspieler sind die in Freiheit entlassenen Bacchanten und Bacchantinnen eines dionysischen Spektakels.

Maßlosigkeit mit Sinn und Form

Herbert Fritsch, der Maßanzüge zu schätzen weiß, ist auf der Bühne scheinbar maßlos. Doch es hat Sinn und Form, unterliegt apollinischer Kontrolle. Ein Künstler bedarf der Ordnung. Äußere und äußerste Ordnung, "um das innere Chaos zu bändigen", wie Thomas Mann antwortete, befragt nach der peniblen Aufgeräumtheit seines Schreibtisches. Geregelte Verhältnisse, Tischmanieren, gestärkte Wäsche. Ich erinnere mich da etwa an feststehende Regeln im Alltagsablauf bei dem wunderbaren Curt Bois, mit dem der entfesselte Fritsch auch künstlerisch einiges an Gemeinsamkeit haben dürfte. Wie auch mit Blick auf eine Stabilität, Loyalität und Heimstatt schenkende Ehefrau, die bei ihm Loredana Fritsch heißt.

Schauspieler haben ihren spezifischen Ausdruck: die melancholische Versteinerung des Buster Keaton, Chaplins scheu entschuldigendes Lachen unter den Kohleaugen, die staunende Ungezogener-Schüler-Miene von Jerry Lewis. Auch die unverschämt herausfordernde Grimasse des Grinsens, die theaterweit berühmte "Fritsch-Fratze" gehört dazu: voilà, Allez Hopp, die Freiheit nehm’ ich mir, da könnt Ihr machen, was ihr wollt, oder zusehen, wo ihr bleibt.

So hat er sich eingeprägt – an diesem Ort hier – mit umgelegter Python in der Schlacht um die Pension Schöller, als Alex in "Clockwork Orange" oder in Ibsens "Frau vom Meer", wenn sein Piepmatz aus dem Trikot heraushängt und er sich einen Fisch draufsteckt. Und so vieles mehr an Züchtigung, Zeitzersetzung, Eskapade und Ekstase. Der Schauspieler als Naturkatastrophe, expressiv wie Conradt Veidt, elastisch wie Spiderman, elektrisch wie ein Zitteraal.

Glückshormone auf dem Jubelperser

Der Regisseur Fritsch macht ernst mit Komödie, Klamotte, Kalauer – und mit der Katastrophe. Er schüttelt dabei Glückshormone aus. Es war um uns geschehen, spätestens seit Fritsch auf dieser Volksbühne den Teppich ausrollte, auf dem dann während des Arnold-und-Bach-Schwanks Die (s)panische Fliege keiner bleibt, sondern das Ensemble wie das HB-Männchen in die Luft geht und von dem "Jubelperser" abhebt. Aber schon vorher, in Oberhausen (als beheimatet an Rhein und Ruhr muss ich das sagen) hat er das Theater von Schwernissen befreit.

Und hat die moralische Anstalt radikal aufgeräumt: in feudalen oder bürgerlichen Salons, im Cabinet des Caligarismus für Ibsens steil gestellte "Nora", in fantastischen (Frau Luna) oder absurden Welten (Physiker und Revisor), bei Purcell, Mozart oder Molière, beim filmexperimentellen Hamlet X-Projekt mit 50 Familienfesten, Helsingör-Tatorten und Shakespeare-Nachstellungen im Minuten-Takt – und vor allem auf den absoluten Freiflächen seines farbfrohen, artistischen Neo-Dadaismus in Murmel Murmel, in Oper Ohne Titel Nr. 1 mit einem Sitzmöbel wie einem Ding aus einer anderen Welt und in der die mann als brillierendem Spiegelkabinett zwischen Grammophon-Trichter und Revue-Showtreppe, also zwischen Sprachinstrument und Bewegungsleiter.

Übrigens, Proben zu einer Fritsch-Inszenierung beizuwohnen, wie mir vor ein paar Tagen geschehen, ist das pure Glück und an Spaß, Einsicht und Fülle intelligenten Instinkts nicht zu überbieten.

Fritsch' Theater als Gegenmodell

1951 in Augsburg geboren, ausgebildet an der Otto-Falckenberg-Schule, war Fritsch unter anderem in Stuttgart, Basel, München und Düsseldorf engagiert, bevor ihn Frank Castorf, für den er schon 1989 in Lessings "Miss Sara Sampson" den lüsternen Mellefont ejakulativ gespielt hatte, nach Berlin holte. Seit 1993 ging es mit ihm am Rosa-Luxemburg-Platz richtig zur Sache, als Mit- und Gegenspieler von Henry Hübchen, Bernhard Schütz, Martin Wuttke, als Partner von Kathrin Angerer, Corinna Harfouch, Astrid Meyerfeldt und Silvia Rieger.

Fritsch ist ein freundlicher Apostat. Nachdenkend darüber, inwiefern das Theater, zumindest sein Theater neben – zwangloser Sinn-Entlastung – ein Gegenmodell sein könne zum Regie-Absolutismus, zum "Angstapparat aus Kalkül", wie Fontane sagte und Fassbinder zu Ende dachte. Und ob dieses Betriebssystem nicht auch Erbe einer wie auch immer gearteten, eingefärbten und rückzudatierenden Ideologisierung ist.

Fritschs Kontrastprogramm heißt Liebe, ohne zum Gefühligen, gar zum Kitsch auszuarten. So wurde er zum kollegialen Alpha-Tier, das zwar sein Ego ausbuchstabiert, aber dessen ABC Anderen ihre eigene Sprache nicht diktiert. Die Charaden und Faxen, Lebensloops, Nervenkriege, Übersprunghandlungen, Alphabetisierungs-Programme und Karlografien des Kaskadeurs lassen sich kaum fassen. Weder bei ihm noch in seinen Ensemble-Abenden. Natürlich weiß Fritsch um die Angst des Komikers vor dem Lachen. Weiß, dass das Thema der Komik der verzweifelte, der scheiternde Mensch ist.

Drôlerie als Widerstand gegen den Tod

Man sieht in seinen Arbeiten im Spannungsverhältnis von produktivem Aufbau und konstruktiver Zerstörung die hohe Empfindlichkeit, erkennt, dass Drôlerie auch Widerstand gegen den Tod und quecksilbrige Ungewissheit und Verunsicherung ist, dass Poesie, Magie und Sympathiezauber helfen können. Fritsch funktioniert wie ein Sensor, der minimale, bisweilen inexistente Schwingungen registriert. Von seiner Disposition ist er der ideale "Eingebildete Kranke" und ab und an hoch auf Cioran’schen Höhen der Umdüsterung. Auf einer Doppelseite des gemeinsam mit seiner Dramaturgin Sabrina Zwach geschaffenen Bilderbuches zum Hamlet X-Opus liegt Herbert Fritsch aus- und niedergestreckt wie Hans Holbeins Christus im Grabe. Wäre es ein Kippbild, würde man ihn vermutlich zwinkern sehen können.

Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas persönlicher werden. Ich staune über Herbert Fritsch, wir kennen uns seit 25 Jahren, wir haben gemeinsam ein neues Leben begrüßt und gemeinsam mehr als einen Toten beklagt. Im Goethe’schen Sinn sollen sich die Dinge des Lebens musterhaft runden – heute steht der Kreislauf bei einem Abend des Feierns und der Freude.
Meinen sehr herzlichen Glückwunsch.

 

Wilink kleinAndreas Wilink war 2016 neben Yvonne Büdenhölzer und Wolfgang Horn Juror des 3sat-Preises. Er gehörte von 2005 bis 2007 sowie von 2014 bis 2016 zur Theatertreffen-Jury. Wilink war 2003 Mitgründer des Kulturmagazins und NRW-Feuilletons K.WEST, dessen Mitherausgeber er bis heute ist. Er lebt in Düsseldorf. 

Kommentare  
Laudatio auf Herbert Fritsch: schöner als ihr Gegenstand
Natürlich möchte man Herbert Fritsch zu diesem unbedingt verdienten Preis gratulieren - hiermit getan! - aber es muss furchtbar sein, sich solche Laudationen anhören zu müssen - da kann man bestimmt dran sterben vor Scham darüber, dass die Laudation schöner sein will als ihr Gegenstand...
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