Das Berliner Theatertreffen 2018 von außen betrachtet - Gastautorin Paula Irmschler über Frank Castorfs siebenstündigen "Faust"-Trip
Das Star Wars der Theaterleute
von Paula Irmschler
Berlin, 5. Mai 2018. Ich war wirklich fest entschlossen, gegen alles zu sein. Theater in Berlin, Berlin im Theater, das klingt nach einem dieser Tagalbträume, die ich manchmal habe und in denen ich mir vorstelle, mich dreckig, wie ich bin, in einem hochkulturellen Szenario aufhalten zu müssen und alle gucken auf meine schwierigen Schuhe und zerrissenen Leggins und irgendwo habe ich immer einen Fleck, meistens mitten auf der Stirn. Theater, Theater. Das weckt einige Ressentiments in mir, die relativ langweilig, weil abgedroschen sind: arrogante Schauspieler, affektiertes Getue, vollkommen verrückte Handlungen, unverständliche Wendungen, ständiges Geficke, Rumgebrülle, Zuschauer, die "Oh" machen und an den falschen Stellen lachen, riesige Schals und Ponchos, viele Fragen, keine Antworten.
Bei der "Faust"-Inszenierung von Frank Castorf im Rahmen des Theatertreffens im Haus der Berliner Festspiele gibt es das alles wirklich. Ich hatte nur nicht geahnt, wie gut ich es finden würde. Ich weiß über dieses Stück nur, was auf meinem Ticket steht. Ich kenne den Typen nicht, den Ort auch nicht, weiß nicht um die historische Bedeutung. Ich fühle mich absolut unwürdig, irgendjemandem nehme ich hier bestimmt einen wertvollen Platz weg. Als ich ankomme, trinken schon alle bedeutungsvoll Weißwein im Foyer, ich komme schwitzend angerannt, bestelle mir eine Cola, die ich vor lauter Aufregung stehen lasse. Als ich sie doch noch holen will, sehe ich gerade, wie eine Frau sie einfach stiehlt. Geil! Ich liebe diese Frau. Diebstahl, das ist meine Welt. Sie gibt sie mir zurück und wir lachen darüber.
Weitestgehend normschön
Ich latsche selbstbewusst mit dem Getränk in den Saal und raffe erst am Platz, dass man gar keine offenen Getränke mit reinnehmen darf. Die nächsten zwanzig Minuten verbringe ich also damit, die Cola zu verstecken und dann doch noch heimlich zu trinken. Währenddessen sehe ich mich neugierig um. Vom Alter ist das Publikum gut gemischt, aber es ist doch sehr weiß. Naja, ich bin es ja auch. Es ist halt eine elitäre Welt, auch wenn draußen im Foyer viel mit Diversity-Flyern geworben wird und man sogar vorsichtig über #metoo spricht. Die Schauspieler sind weitestgehend normschön, die Frauen jung, schlank und rasiert, die Männer wie immer alles Mögliche. Es geht also los. Die Frau links neben mir scheint genau so nervös wie ich, das heißt, sie ist auch die ganze Zeit am Zappeln. Außerdem schreibt sie wohl auch etwas über das Stück und ist permanent am Notieren und ich frage mich, ob ich jetzt nicht vielleicht auch mal etwas aufschreiben sollte.
Stattdessen ist auf meinem Block nur eines zu lesen: "ER" und dann einige Herzen, die während der Aufführung entstanden sind und verschiedene Verben, die ich lieber für mich behalte. Mit ER ist Alexander Scheer gemeint, in den ich schon seit geraumer Zeit verknallt bin, und nun hat uns das Schicksal hier endlich zusammengeführt: Ich, die ungebildete, aber doch lebensschlaue, natürliche Überlebenskünstlerin, er, der unfassbar gute, kultivierte und doch normal gebliebene, witzige Schauspielheini. Der Abend ist gerettet. Ich will, dass es nie endet. Die gute Nachricht: Es endet auch nie. Die Aufführung dauert etwa 37 Stunden.
Die drei großen Probleme bei langen Dingen
Die drei großen Probleme von langen Dingen (Konzerte, Zugfahrten, Schule, Krankenhaus, Theater) stellen sich nun ein, man vergisst sie, bis es soweit ist. Es handelt sich um das Toilettenproblem, das Arschwehproblem und das Rauchproblem. Ich bekämpfe das erste, in dem ich einfach gar nichts mehr trinke (wenn man es mit Trinken schafft, nennt man das die Theaterblase, aber ich bin Anfängerin), das zweite durch bereits erwähntes, nervöses Bewegen und das dritte gar nicht, es macht mich wahnsinnig. Die Schauspieler scheinen wohl alle gesagt zu haben: "Jo, Castorf, ich spiele in deinem irren Stück mit, aber nur wenn ich ständig rauchen darf". Dann dreht ER sich auch noch eine Zigarette und ich bin kurz davor, die Bühne zu entern.
Stattdessen lerne ich einiges über die Mechanismen des Theaterpublikums. Gelacht wird bei folgenden Dingen: Wenn zwei Männer sich küssen. Wenn Dicke rennen. Bei modernen Dingen (Taxi, HipHop, lockere Sprache, Dildos). Und über den guten, alten "Du hast deine Seife verloren"-Vergewaltigungswitz. Irgendwann komme ich aber dahinter, dass es wohl eher eine Satire auf Männlichkeit sein könnte (bitte), und dass das Publikum Fips-Asmussen-mäßig lacht, ist halt des Publikums Schuld.
Die Bingewatcher
Sonst ist alles großartig. Ich habe nicht mal das Bedürfnis, heimlich auf mein Handy zu gucken, was etwas heißen mag. Die Uhrzeit ist mir egal, mein Körper zunehmend auch. Das Stück nimmt mich völlig ein. Ich verstehe nicht so richtig, worum es geht, aber es ist auch egal, alles ist krass. Irgendwas halt mit Faust (kenn ich noch aus der Schule), Frankreich (auch), Algerien (ja), Kolonialismus (genau) und ganz guter Männlichkeitskritik. Diese unglaublichen Schauspielerinnen, die Stimmen, der Gesang, das Geschrei, die Wandlungsfähigkeit, diese Filmsequenzen, überhaupt die Bühne, die Ausdauer, die Brüche, die vielen Metaebenen, die Selbstironie – es ist ein richtiger Trip. Geiler Moment auch, als der "Osterspaziergang" rezitiert wird, ich wusste nicht mehr, dass ich es noch auswendig kann, aber ich kann!
Die Frau rechts von mir, die das Stück nicht zum ersten Mal sieht, nennt es "sehr kulinarisch". Was auch immer das bedeuten mag. Alle Menschen dort sagen immer wieder, dass sie das Stück schon mal gesehen haben. Wow. Es ist das Star Wars der Theaterleute. Sie bingewatchen den krassesten Kulturkram einfach so weg. Erst ein paar Stunden später, als ich immer noch total aufgeregt unter den Eindrücken im Bett liege, fügt sich dann alles zusammen und ich verstehe. Noch schnell zwei Liter Wasser reingekübelt, dann schlafe ich selig mit der Erinnerung daran ein, wie ER im Cowboyhut über die Bühne schlendert. Herz.
Paula Irmschler wurde 1989 in Dresden geboren, hat in Chemnitz Politikwissenschaft studiert und lebt nun in Köln, wo sie nachts in der Gastro arbeitet und tagsüber für Neues Deutschland, Intro, Musikexpress, Titanic und Facebook über alles, was es auf der Welt so gibt, aber meistens über Feminismus und Musik, schreibt.
Hier die Nachtkritik zur Premiere der "Faust"-Inszenierung an der Berliner Volksbühne im März 2017.
Alles Weitere rund ums Berliner Theatertreffen 2018 gibt's im Liveblog.
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Hier ein paar Hinweise, was Sie zu übersehen haben scheinen, wenn es um Rollenbilder geht:
- Faust: sabbert, tattert, mümmelt, humpelt hinterher, wenn andere galoppieren
- Mephisto: vögelt auf's Unkontrollierteste alles, was ihm vor die Lunte kommt; Margarete (in Gestalt von Thelma Buabeng) gebietet ihm Einhalt, indem sie ihm zuvorkommt mit der Frage, ob er Seife verkaufe
- Faust erwähnt in einem der ruhigsten Momente, wie man "die frechen Mörder lobt", der er nach eigenem Bekennen selbst auch ist
- an anderer, ebenso leiser Stelle reflektiert Martin Wuttke (nach Fanon?) über den Frankreich, dessen Name mal der eines Landes gewesen sei und der einer Neurose werden könne
- Frankreich ("La Grande Nation") kommt als Rollstuhl daher
- Mephisto ist General Salan
- Faust kommt am Ende kaum anders voran als auf einem Dreirad
- Gretchen ist Helena ist Nana -- die Rollenanlage ist "potenter"/breiter als die von des Slapstick-Duo infernale Faust und Mephisto
- Nana beherrscht Paris ("setzte ihren Fuß auf Paris" sagt Thelma Buabeng) und die Männer, nicht andersherum
- die große Szene der vier Frauen im Surpreme-Klamottenladen, in der sie ihre Gewalterfahrungen schildern
- Fausts "Arm und Geleit" sind ein einziger Witz, Gretchen wehrt sich effektiv und souverän mit "Im Übrigen möchte ich von Ihnen nicht angesprochen werden"
- Gretchen zieht die Notbremse, Faust und Mephisto bleiben zurück, sie ist aktiv/handlungsmächtig, die Herren schauen zu
- der Gummipimmel ist mal sowas von nicht hart, und das ganze 15 Minuten lang
- Gretchen/Helena antwortet auf das finale "Nous sommes immortelles" (nb: keckerweise zuletzt von Marc Hosemann um "Fume tue" ergänzt) mit einem Augenzwinkern; sie hat das letzte Wort, sie hatte auch das erste ("Ne me quitte pas")
- Rois' Leierkastenmann: "Wunderlicher Alter" = Faust = Tod.
- die Nackheit Tscheplanowas ist die Nanas auf der Bühne des Théâtre des Variétés, nicht eine x-beliebige
- Faust-Adept Wagner bringt einen Homunculus zustande, ein Kunstwesen, das seine größte Leistung ist, aber das außerhalb "umschloss'nen Raumes" nicht zu existieren vermag
- die Frauen sind es, die Widerstand leisten in Algier, sie schleusen die Bomben, sie schneiden sich die Haare ab, blondieren sich, sie erbringen Opfer, sie tunneln die Sicherheitssperren der Kolonialherren[sic!]
- das Ganze beginnt und endet in "L'enfer" (=die Hölle)
(Ich könnte hier noch länger fortsetzen, aber dies soll für den Moment genügen, damit Sie sich die Arbeit machen, etwas genauer hinzuschauen und statt ewig gleicher Kurzschlussreaktionen.)
Kann man all dies als Ausweis einer Glorifizierung männlicher Vernichtungsgewalt, Eroberungssucht, Unterdrückung lesen? Ist hier die Frau eine dumme, schwache, objektifizierte Gestalt? Ist der Mann der Held, der Genius, die reine herrschende Potenz? WOHL KAUM.
Es tut mir aufrichtig leid. Aber ich kann ein Gezetere nicht mehr hören, das blind ist für die Feinheiten eines Textes und einer Bühnenarbeit. Immer wieder kommt es (siehe auch Lilith Stangenberg, wie sie in "Der Haarige Affe" nackt Kohlen schaufelt) und immer wieder wird dabei die bildnerische, dialektische (so Nanas Nichtloslassenkönnen nachdem sie geschlagen wurde, so Valery Tscheplanowas "Der Tod und das Mädchen"), extrem humorvolle Klugheit eines ganzen Theaterabends qua einzeiligem Sexismusvorwurf negiert. Sorry, aber das ist unter aller Kanone. Können wir bitte bitte weiterkommen?
Ein Feminismus, der sich daran erschöpft, die Anzahl nackter Brüste mit der Anzahl nackter Schwänze zu vergleichen, hat schon verloren.
Auf Ihre Kommentare wäre nur mit Alexander Scheers flämischer Zeile "Dieses Theater ist so latent frauenfeindlich" zu antworten.
PS/Randnotiz: Es geht im Übrigen nicht primär um Frauen und Männer. Es geht um das Weibliche und das Männliche. Beide Dimensionen sind eben nicht vollends deckungsgleich, wenn auch historisch korreliert(er gewesen). Es geht um Gewalt, es geht um Kolonien.
PPS: Wie übergriffig ist eigentlich Ihre implizite Unterstellung, dass die exorbitant grandiose Valery Tscheplanowa Ihre Bühnenbarbusigkeit nicht hinterfragen könnte? Sie spielt es ja. Und alle anderen Ensemblemitglieder spielen mit (Ihrer Ansicht nach offenbar: unreflektiert und duckmäuserisch). Oder meinen Sie, sie wäre nicht in der Lage, diese Setzung zu hinterfragen? Das Kostümbild verantwortete Adriana Braga. Auch die hätte Ihrer Meinung nach gegenüber Bösewicht Castorf nichts zu sagen, ist bedingungslos hörig? Wie kommt es, dass Sie dieses Kostümbild als realaffirmativ deuten?
PPPS: Auch ich bin in Scheer verliebt. Wer nicht? Er ist ein Göttersohn in jeder Hinsicht.
Was ist das für ein Theater.Hingegen der Faust..
und ich soll Bilder aussuchen die ein Geschäft darstellen..
Ein schwieriger Moment ist, als Alexander Scheer mit seiner Dercon-Parodie inklusive Bierdusche noch mal nachtritt. Diese Szene war natürlich auch schon bei der Premiere enthalten, wirkt aber nach den sich überschlagenden Ereignissen der vergangenen Monate deplatziert.
Das Publikum wird aber auch mit Glanzleistungen von Stars verwöhnt, die man gerne wieder häufiger in Berlin sehen würde. Sophie Rois hat ein paar viel zu kurze Szenen als Hexe. Daniel Zillmann tobt als Theaterdirektor cholerisch über die Drehbühne. Lilith Stangenberg gibt dem Abend als Meerkatze eine ätherisch-schwebende Note. Vor allem ragen aber Valery Tscheplanowa als Gretchen und Martin Wuttke als ihr Faust aus dem Ensemble heraus.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/05/06/castorfs-faust-reloaded-achterbahnfahrt-beim-theatertreffen-2018/
Warum ist alles, was an Dercon erinnert, deplatziert und "Nachtreten"? Scheer kommentiert die Szene selbst, damit hat sie den richtigen Rahmen.
Wie werten Sie Dercons Auftritt in London bei der Konferenz zur "Krise des europäischen Theaters"? Dort präsentierte er sich als Opfer in der Angelegenheit. Keine Einsicht, kein Lernen.
Die Lüge am Start, Ensemble und Repertoire zugunsten eines mit blumigen Worten verkauften Sammelsuriums unter einer "Dachmarke" zu ersetzen, wirkt fort. Der Spielplan löchrig, das Ensemble überallhin zerstreut, der Intendant im Exil. Ich habe größte Bewunderung für Oberenders Mut, diesen Faust wiederauferstehen zu lassen. Das Beste wäre aber überhaupt, wenn das nicht nur ein Projekt bliebe, sondern Kräfte freisetzen könnte, um Gerechtigkeit wiederherzustellen. Wie gesagt, die Lüge wirkt fort.
Umso erstaunlicher, dass bei der zwischenzeitlich bekannt gewordenen Beweisführung Laudenbach/Goetz - und sie haben den aktenkundigen Beweis für etwas erbracht, was gemässigte Kommentare u.a. hier nüchtern und personal wertfrei hervorgebracht haben als Beschreibung ihrer bloßen fachkundigen Wahrnehmung der realen VB-Situation schon 2015 - ausgerechnet das Goethe-Institut DIESEM Auftritt zu DIESEM Thema in London Raum gibt. Wäre sein Auftritt zum Thema der Krise der Kunst-Präsentation und Kunst-Sammlungs-Kultur nicht plazierter und angemessener gewesen?
Ansonsten: Vielen herzlichen Dank, Herr Zisch! Können Sie das eben für andere Castorf-Inszenierungen auch einmal so schön kurz-schließen? Meine persönlichen L5/S1 wären Ihnen sehr verbunden.
Ich wüsste keine Gelegenheit für die Frauen, mit denen ich Umgang pflege, in einem solchen Outfit zu reüssieren und irgendwie sollen die Figuren ja heutig sein, wenn Wuttke schon Iggy Pop ähnelt. Aber auch für solche Umbrüche hält die Doktorarbeit sicherlich eine Erklärung bereit. Nur sinnlich ist all dies schwer zu erklären. Und wird ein Nacktauftritt wirklich dadurch richtiger, weil er einvernehmlich mit der Regie geschieht? Das ist doch eine Selbstverständlichkeit, von der man ausgehen darf. Oder erwartet irgendjemand, dass Valery Tscheplanowa nun Castorf anklagt, er hätte sie genötigt?!
Die Sinnlichkeit dieser Aufführung ist beklagenswert, denn sie bedient sich stetig wiederholender Abziehbilder von Etwas, dass längst gewusst wird und hat in seinem Beharren etwas Schädliches für neue Rollenbilder. Alle werden immer und immer wieder in die alten Kostüme zurück gestopft. Wie öde.
Im Galileo gibt es eigentlich kein Bordell, aber ich ahne jetzt schon, Castorf wird eines hineinbauen in das Stück, wenn er es demnächst am BE inszeniert und wir werden wieder die selben leicht bekleideten Damen unmotiviert um einen sabbernden Gelehrten herum schweifen sehen und belustigt oder endgültig abgestoßen beobachten, wie der große Zampano wieder den alten Leierkasten des Geschlechtlichen quälend in Gang setzt und es leierte und leiert und leiert weitere sieben Stunden lang, das Castorf Karussell.
Ja, auch 2018 in Zeiten von Youporn und Co. provoziert Nacktheit - sieht man ja an dieser Diskussion. Und was is mit Frank Büttner? Der is im Faust auch nur in Unterhose. Übrigens gibt es andere Inszenierungen von Castorf wo auch die Männer sexistische Outfits tragen (z. Bsp.: Aurel Manthei in "Baal"). Das Problem ist aus meiner Sicht, dass man sich so an eine bestimmte diffamierende Sicht auf ein "sexy" Kostüm gewöhnt hat, das man es gar nicht mehr mitkriegt, wenn so ein Kostüm auch noch eine andere Ebene bedient, bzw. das Gegenteil des ihm zugeschriebenen bewirkt. Das Problem liegt nicht bei Valerys nackten Brüsten, sondern "wie" man diese anschaut. Der Blick diffamiert, nicht der Glitzerbikini von Lilith. Und diesen gelernten Blick gilt es aufzubrechen. Das gelingt Castorf famos. Denkt hier wirklich irgendjemand, dass diese tollen, intelligenten Schauspielerinnen das Zeug wirklich anziehen würden, wenn sie sich dadurch erniedrigt sehen würden? Wohl kaum. Castorfs Inszenierungen sind nicht Germanys Next Topmodel.
Es geht auch nicht darum, ob sich Lilith Stangenberg oder Valery Tscheplanowa beim Tragen dieser Kostüme erniedrigt sehen, wie gesagt, ich gehe davon aus, dass die Umstände, wie es zu solchen Kostümen kommt, intern vollständig geklärt sind, und kein Zuschauer, ähnlich wie Freier bei Sexarbeiterinnen, sich moralisch selbst befragen müssen, ob die Darsteller*innen dies denn nun auch freiwillig tragen, denn ich befinde mich in einem öffentlichen Theater; es geht darum, wie ich mich, wie die Zuschauer sich dabei fühlen und sehen.
Ich fühle mich dabei belästigt und genötigt, geradezu vergiftet von einer zwanghaften apokalyptischen Sicht, die keinen wirklichen oppositionellen Kern mehr in sich trägt. Rechne ich noch Ihren therapeutischen Ansatz hinzu, sollte ich mich wahrscheinlich sogar erniedrigt fühlen, denn ich werde ja nicht als ein vollwertiger Mensch behandelt, sondern als jemand der behandelt werden muss. Verstehen Sie, ich will die Brüste von Frau Tscheplanowa nicht sehen! Ich habe keinerlei Interesse daran! Eben weil die Grenze zwischen performativer Zurschaustellung und einer Darstellung einer genau umrissenen Rolle nicht genau gezogen werden, bin ich genötigt die Brüste von Frau Tscheplanova in Momenten, die man keiner Rolle zuordnen kann, sondern nur einer persönlichen, eventuell therapeutischen oder auch privaten Performance, zu betrachten. Und ich habe keine Lust zu solch intimen Momenten mit einem Menschen, zu dessem Beiandersein ich mich nicht bewusst entschlossen habe, auf dessen Nacktheit ich nicht freiwillig eingewilligt habe und der das Machtgefälle zwischen Bühne und Zuschauerraum dazu nutzt, um, wie Sie es sagen, bei mir versteckte, diffamierende Blicke aufzubrechen. So etwas empfinde ich als missbräuchlich, genauso, wie ich nie vor hatte Mette Ingvartsen im öffentlichen Raum, nackt auf einer Bühne stehend, urinieren zu sehen.
Solche Betrachtungen erzielen bei mir keinen emotionalen Mehrwert, sondern ich fühle mich genauso belästigt, wie von der Flut von Tops und Bikinis in der Werbung oder der sinnlosen Aneinanderreihung von weiblichen Geschlechtsteilen in der Pornographie. Der Unterschied ist lediglich graduell. Kurz gesagt, es ödet mich an, es ist nach 25zig Jahren langweilig und dumm und sexistisch und verkehrt sich auch nicht in eine Negation. Es bleibt der immer selbe Mist. Da unten sitzt keiner mehr, der diese Therapie noch benötigt. Es ist alles hinlänglich bekannt. Auf zu neuen Ufern und Stilmitteln.
Ich bin Zuschauer*In, genau wie Sie. Bitte unterlassen Sie andere Zuschreibungen, Sie haben keine Ahnung von mir. Und wenn es seit 25 Jahren derselbe Mist ist, bin ich geneigt mich zu Fragen, warum Sie sich das dann noch antun? Man kann auch nicht in ein veganes Restaurant gehen und dann enttäuscht sein, dass man dort kein T-Bone Steak bekommt, es sei denn man möchte eigentlich gar kein Steak, sondern lieber wieder enttäuscht werden, um sich dann darüber beklagen zu können. Wenn man als Zuschauer im Theater in seinen Befindlichkeiten gepampert werden möchte, ist man bei Castorf schlicht an der falschen Adresse. Ich denke tatsächlich nicht, dass diese Art von Theater sich dafür interessiert, wie sich sein Publikum, oder Sie speziell, fühlt, beziehungsweise etwas bedienen will, damit es (oder Sie) sich gut fühlen. Vielleicht kann man das ein Anspruchsmissverständnis nennen. Auf die Vielfältigkeit des Publikums!
Einem "Faust"-Regisseur wegen einem barbusigen Gretchen 2018 mit der "Sexismus"-Keule zu kommen, ist mit Verlaub feministischer Blödsinn. Wir sind in Berlin und nicht in Teheran. Was ich an Castorfs Inszenierung fragwürdig fand ist jedoch die Altbackenheit seiner Stilmittel in gerade diesem Punkt. Einige Beiträge haben zurecht darauf hingewiesen, das wir inzwischen im Zeitalter von "youporn" u.ä. unterwegs sind. Und da ziehe ich bei einer Inszenierung, die die Videotechnik als beherrschendes Stilmittel der theatralischen Gesamtdarbietung heranzieht, schon in Zweifel, ob ein Gretchen, im "Crazy Horse"-Fummel an die Bühnenrampe gestellt, noch zeitgemäß genannt werden kann oder doch nur allzu harmlos, niedlich und provinziell.