Die Eröffnung des Berliner Theatertreffens mit Johan Simons' und Paul Koeks Kasimir und Karoline vom Schauspiel Köln
Theaterschafe im Wolfspelz
von Elena Philipp
Berlin, 7. Mai 2010. Das Theatertreffen feiert die Krise. 2009 war schließlich das erste Jahr, in dem das träge Medium Theater auf die kapitalistische Misere reagieren konnte und dies auch weidlich tat. "Verteufelt oft geht es um Armut und ein aus dem Ökonomischen ins Moralische führendes Elend", bringt Juror Wolfgang Höbel die zehn eingeladenen Inszenierungen im Programmbuch auf einen Nenner. Nur gut, dass "die Lust am Spiel und am Weitermachen die Menschen antreibt. Und ihnen den Aufbruch ermöglicht aus dem Schmodder von Verfall und Depression". Der Jury ist dies Grund für eine frohe Botschaft: "Fürchtet euch nicht!"
Wir fürchten uns also nicht beim Betreten des Hauses der Berliner Festspiele, obwohl auf der Fassade ebenso wie auf allen Drucksachen ein Anzugträger mit Wolfsantlitz die Zähne fletscht. Homo homini lupus, klar. Der Kapitalismus, die reißende Bestie. Der Mensch im Wolfspelz, das wahre Gesicht des Börsianers undsoweiter. Der Wolf prangt in 3D - ohne Unterhaltung ist alles nichts, besonders beim Theatertreffen. Unter Haltung läuft hier nichts.
Nicht an Absatzträgerinnen gedacht
Mit diesen Gedanken ist man schon auf dem Holzweg: Grob gefügte Planken sind im Foyer des Festspielhauses verlegt, dazwischen tückisch Sand und Kies. Mancher Gast gerät ins Wanken. "An Absatzträgerinnen haben sie hier aber nicht gedacht", vernimmt man eine festlich gekleidete Besucherin. Die Durchquerung der Eingangshalle wird wahlweise zur Wackelpartie oder Kurztherapie: Wann kann man schon mal den ganzen Schotter mit Füßen treten? Ausstatterin Kathrin Frosch macht's möglich. Das ist gelungene Subversion!
Vielleicht ist es auch nur ein neues Fernsehformat, denn wer durch den Hindernisparcours aus Planken, Kies und Gästen taumelt, wird garantiert von einer Kamera beobachtet. "Ich bin Publikum - Holt mich hier raus!" Die gleißenden Scheinwerfer helfen beim Promi-Spotting: Bruno Ganz, Jutta Lampe, Thomas Ostermeier, Susanne Wolff und Samuel Finzi! Esther Schweins moderiert auf dem Vorplatz das Theatertreffen weg. Einmal im Jahr ist Theater großes Kino.
Die Krise als assoziatives Accessoire
Joachim Sartorius kokettiert im Vorübergehen mit der Aufregung, die er vor jedem Festival verspürt. Sie scheint auf der Bühne rasch verflogen, wenn der weltläufige Festspiel-Intendant dann "le ministre" Jack Lang ankündigt. Der ehemalige Kultur- und Erziehungsminister Frankreichs freut sich in seiner Rede sehr, die "schöne deutsche Sprache ein wenig malträtieren zu dürfen", und schwärmt vom deutsch-französischen Kulturaustausch.
"Berlin - das war für mich als theaterbegeisterten jungen Mann ein mythischer Ort." Die Freie Volksbühne, Peter Steins Schaubühne, das Berliner Ensemble zählt er auf. "Außer der Arbeit meines Freundes Giorgio Strehler hat das französische Theater in den letzten sechzig Jahren nichts so stark geprägt wie die deutsche Bühnenkunst." Ein Lob für die reiche deutsche Theaterlandschaft! Den Einsparzwängen zum Trotz, von denen man beim Theatertreffen wenig merkt.
Die Krise ist hier assoziatives Accessoire: Bauchladenmädchen Christina Tiedtke hat Plastikgebisse für Blutsauger im Angebot, Allmachtsphantasten verkauft sie weiße Mäuse. Für Unikategeier und abgebrannte Kunstsammler gibt es eine begrenzte Auflage von Postkarten, die ein Schriftzug ziert, der aus der 'Trophäe' für die eingeladenen Häuser und Regisseure ausgestanzt ist - "tt10" im Wolfsfell-Look. Wenn das nicht fette Beute ist.
Vergessen ist bald Horváths rauhe Verzweiflung
Nur auf der Bühne sieht man hinter die Kulissen: Bert Neumann hat für "Kasimir und Karoline" (Schauspiel Köln, Regie: Johan Simons und Paul Koek) ein Gerüst geschraubt, das an die Rückseite eines Fahrgeschäfts erinnert. Ironisch flirrt in meterhohen Lettern der Schriftzug ENJOY über Ödön von Horváths Volksstück zur Weltwirtschaftskrise in den 1930ern. Nach der Vorstellung bleibt der Applaus verhalten, nur einige der Darsteller werden für ihr nuanciertes Spiel belobigt. Gefallen hat vor allem Dem Merkl Franz seine Erna, Lina Beckmann.
Die Festivalaufregung ist der Erschöpfung gewichen, die rasch mit einem Sekt verscheucht wird. "Und, wie fandest Du's?" "Naja..." Und dann den zweiten Sekt oder ein Kölsch für umme. Karoline (Angelika Richter) und ihre mädchenhaft-berechnende Sehnsucht nach einem besseren Leben sind ebenso rasch vergessen wie die raue Verzweiflung des Arbeitslosen Kasimir (Markus John).
Ein lauschiges Lagerfeuer bannt die Kälte des Kapitalismus und die fröstelige Maiennacht. Im Garten der Berliner Festspiele steht der Kastanienbaum in voller Blüte, zwischen den Zweigen leuchten Lampions. Gepflegt perlen die Gespräche.
So lässt sich's mit der Krise leben.
Theatertreffen 2010 Eröffnung
Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Johan Simons, Paul Koek, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Musik: De Veenfabriek - Rik Elstgeest, Bo Koek, Paul Koek, Ton van der Meer, John van Oostrum, Musikalische Leitung: Loy Wesselburg, Dramaturgie: Paul Slangen, Rita Thiele, Licht: Dennis Diels, Michael Frank.
Mit Lina Beckmann, Markus John, Jan-Peter Kampwirth, Anja Laïs, Carlo Ljubek, Annika Olbrich, Angelika Richter, Torsten Peter Schnick, Felix Vörtler, Julia Wieninger, Michael Wittenborn. Musiker: Boris Coppieters, Dan Enderer, Robert Nacken, Loy Wesselburg, Stefan Behrisch.
Schauspiel Köln in Koproduktion mit NT Gent und De Veenfabriek.
www.ntgent.be
www.veenfabriek.nl
www.schauspielkoeln.de
www.berliner-festspiele.de
Wie diese Inszenierung in mehreren Koporoduktionsetappen ihre jetzt gezeigte Gestalt annahm erzählt Regine Müller. Wie sie 2009 aussah, als sie im Rahmen des griechischen Epidaurus Festivals zuerst herausgekommen ist, beschreibt Hartmut Krug.
Mehr zu den zum Theatertreffen gebetenen Inszenierungen? Hier.
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Ansonsten wurde auch an der Holzlatten-Einrichtung und -Deko mächtig gespart. Herr Sartorius hätte ruhig die Bestuhlung schon vorher ausbauen lassen können, um den Zuschauer an der Krise und dem unbedingtem Sparwillen aktiv teilhaben zu lassen. Man hätte sich dann Campingstühle, Picknickkorb und Plastikbesteck von zu Hause mitbringen können, das schafft zusätzlich Gemeinschaft fürs anschließende Würstchengrillen im Hof.
Zum Glück wurde bis jetzt auf der Bühne nicht gespart. Was der einen Aufführung an Glamour fehlt macht sie durch Länge wett und was sie dadurch an Tiefe verliert, kann man bei der anderen an Höhe wiederfinden und wenn es nur ein in unserer Phantasie entschwebender Zeppelin ist. Viel Tamtam und Gesang, wenig wirkliche Krise, aber es gibt bis jetzt einen klaren Zugewinn, ein Lämmchen das alle anderen Schafe und Wölfe in Längen überragt. Dank an Luc Percival für diesen Besetzungscoup, ohne Anette Paulmann liefe man leider Gefahr, dass einem irgendwann, bei diesem endlosen Räderwerk von Glaube, Liebe, Hoffnung, das Kinn auf die Brust fällt. Frenetisch und erlösend zugleich der Applaus auch hier in Berlin, doch Kleiner Mann – was nun?
das passt hier nicht ganz genau her, weil Sie ja das "Nature Theatre of Oklahoma" nicht mehr besprochen haben. Ich fand den Text gerade auf einer Presseaussendung von Kampnagel in Hamburg und fand es doch so komisch, dass ich es mitteilen wollte:
"Liebe Leserinnen und Leser,
Claus Peymann, Theaterurgroßvater und erfolgreicher Gegenrevolutionär der darstellenden Künste, ist am vergangenen Wochenende wieder auffällig geworden. Der cholerische Hausherr des Berliner Ensembles züchtigt nicht nur mit Vorliebe seine Techniker und Schauspieler, sondern hält auch den Rekord im Kurzgucken von Theaterstücken. Peymann drückt seine Missgunst am Theater (außer dem eigenen) durch demonstratives Aufstehen im ersten Teil von Vorstellungen aus, und ist gut gebuchter Gast in Talkshows für die Position "angry old man".
Nun hat sich der Alte beim Berliner Theatertreffen in eine Vorstellung unserer Haustruppe Nature Theater of Oklahoma verirrt - und ist früher als sonst gegangen. Das Besondere diesmal: Er hat Anhänger gefunden. Im Peymannschen Duktus von "Das ist Scheiße" zog eine Meute gegenaufklärerischer Menschen (von denen uns viele eigentlich verbunden sind) über die gebeutelte New Yorker Theater-Truppe her. Der Großteil des Publikums jubelte zwar am Ende der Vorstellung, aber außerhalb stand die Berliner Kultur und schimpfte sich heiser. Nun muss man sich fragen, wie Peymann die Berliner in so kurzer Zeit zur reaktionären Sumpftruppe umerziehen konnte - und ob wir helfen können. (...) So wie er 2007 einem entlassenen RAF-Häftling ein Praktikum angeboten hat, bieten wir Claus Peymann ein Resozialisierungs-Praktikum während unseres LIVE ART FESTIVALS an (...) Peymann wird der Dramaturgie angegliedert und ab Donnerstag zunächst zum Tresendienst ab 22 Uhr in unserer Performance-Bar eingeteilt. Nach zwei Wochen Live Art Festival Programm wird er als neuer Mensch in Berlin an frühe Theater-Erfolge (u.a. an der Uni Hamburg) anknüpfen, und das Hebbel Theater auf der Performance-Spur überholen. Und Berlin wird wieder das sein, was es in den 20er Jahren mal war: ein weltoffener Ort für zeitgenössische Kunst mit guten Schauspielern, rauschenden Festen und einem Live Art Festival am Berliner Ensemble. (...)"
Die Pöbelperser des Herrn Peymann würde ich aber nicht unbedingt mit dem typischen Berliner Theatergänger verwechseln, die sind halt nur neidisch, dass das BE nicht mehr zum Theatertreffen eingeladen wird.