Rückschau mit Kinderaugenalt

von Simone Kaempf

Berlin, 10. Mai 2012. Die Idee ist noch jung, und doch wirkt es schon wie Tradition, dass der Stückemarkt des Theatertreffens mit einem Impulsreferat eröffnet wird. Im letzten Jahr sprach der britische Dramatiker Simon Stephens darüber, was er für gutes und starkes Schreiben hält. Dieses Mal hält die Rede wieder ein Brite, Dennis Kelly. Man erinnert sich angesichts dieser Dramatiker sofort daran, dass in Großbritannien zeitgenössische Texte entstehen, die radikaler als anderswo verdeutlichen, wie sich die gesellschaftliche Veränderungen auf das private Zusammenleben auswirken. Und Kelly legte in seiner Rede auch einen Schlenker auf einen weiteren Briten ein, Edward Bond, wie ihn dessen Blick auf Gerechtigkeit nachhaltig beeindruckt habe, eine Gerichtssaal-Gerechtigkeit jenseits einer juristischen Gerechtigkeit wie sie auch das Theater kennt.

Die Wahrheit ist eine verzwickte Sache 

Kelly konnte nicht nach Berlin kommen, er wurde via Skype auf einer Filmleinwand zugeschaltet. Der Wirkung seines Auftritts tat das keinen Abbruch. Da spricht ein absolut authentischer Typ, ein wenig angry young man, der aber das Räderwerk des Theaters genau kennt und zu ganz anderen Ergebnissen kommt als der Kulturkonsens so gerne hätte und im Titel seiner Rede verkündet: "Why political theatre is a complete waste of time". Natürlich ist das ironisch gemeint, aber doch mit wahrem Kern, entlang erzählt an seinen Anfängen als er angesichts des "war on terror" seine ersten Stücke schrieb und daraufhin erwartete, dass der Rückzug aus dem Irak begänne und dass sich sowieso die Welt ändern würde, wenn er nur die Wahrheit sagt.

Hat sie nicht, was nur zum Teil an der Welt liegt. Auch an der Wahrheit selbst, die, so Kelly, eine verzwickte Sache sei. "Sie sieht sich selbst manchmal gar nicht ähnlich und versteckt sich sehr gern. Ich glaube, dass niemand weiß, ob er gerade die Wahrheit sagt." Womit er auch bei der eigentlichen Botschaft war: dass ein Autor tasten und suchen müsse, und zwar nach der Wahrheit. Ihr zumindest nahe kommen müsse, wie schwer das auch sein mag. Und dass das die Zuschauer wohl nicht dazu bringe, auf die Barrikaden zu stürmen. Theater wirke subtiler, und jede Erwartung an eine direkte Wirkung von Theater sei einfach unfair.

pamela carter 280 simon moorePamela Carter. Foto: Simon Moore

Skåne

In diese Vorgabe passte zumindest einer der ersten beiden für den Stückemarkt ausgewählten Texte: "Skåne" von Pamela Carter, 1970 in Kendal, Großbritannien geboren. Skåne meint die südschwedische Region Schonen. Zwei Reiseführer-Werbesprüche sind dem Text vorgespannt, einmal, dass sich die Region Schonen durch weite Felder auszeichnet, dann heißt es, dass die Landschaft flach und gleichförmig sei.

Nach ähnlichem Prinzip erzählt Carter nun von dem Seitensprung zwischen Chris und Siri, der damit endet, dass beide zu ihren jeweiligen Familien zurückkehren.

Dass die Handlung rückwärts läuft und vom Umgang der Familienmitglieder mit der Affäre erzählt in den Tagen, bevor es zur Versöhnung kommt, ist ein geschickter Kniff. Interessanter ist jedoch der Kontrast zwischen den Eltern, die Liebe und Ehe inhaltlich kaum zu benennen wissen, und den heranwachsenden Jugendlichen, die scheinbar schon ihre eigene Wahrheit kennen und kein Blatt vor den Mund nehmen über das, was man Liebe nennt.

Die von Karin Neuhäuser eingerichtete Szenische Lesung betonte diesen Kontrast, zeigte allerdings auch, dass das Rückwärtserzählen schnell an Spannung verliert. Man weiß bald, was passiert ist und der frische Eindruck, den das Stück beim Lesen macht, schwindet.

wolfram hoell 280 batrice devnes uWolfram Höll. Foto: Batrice Devnes

Und dann

Die Kindheitsperspektive wählt auch Wolfram Höll in seinem Stück "Und dann", das in einer Plattenbausiedlung spielt zu einer Zeit, als sich die lange Straße von der "Panzerparadenstraße" zur "Altwestwagenparade" verwandelt und sich in der kindlichen Wahrnehmung mit dem Ende der DDR nicht viel ändert, außer, dass die Russen nicht mehr unten vor dem Haus sitzen. Dieser auf einzelne Fetzen reduzierte Blickwinkel eignet sich bestens, um einen atmosphärischen Stillstand zu beschreiben.

Allerdings wirkt hier mit Höll auch ein Autor, der aus vielen Wortschöpfungen und –wiederholungen seinen Text formt. Formal ist das genau durchdacht, Erinnerungsschichten stecken in diesem Textfluss. Alles liegt weit zurück in der Vergangenheit, man erfährt nur vage von den Verlusten – der Kindheit, der anscheinende abwesenden Mutter – trotzdem erhalten sie eine eigentümliche Präsenz. Die Familienmitglieder sind mit "er", "sie", "du" als Sprechfiguren kaum zu orten, auch das Drama kommt ohne dramatische Form aus. Was eigentlich geschieht, lässt sich nicht mehr eben mal erzählen.

Welche Form dieses Stück auf einer Bühne annehmen könnte, auf diese Frage gab die Szenische Lesung in Berlin, eingerichtet von Alexander Riemenschneider keine Antwort. Aufgeteilt auf die Schauspieler Daniel Hövels, Hans Löw, Helmut Mooshammer zerfaserte der Text, blieb der Resonanzkörper des Stückes ungenutzt.

Fazit: Am Ende vermochte weder der eine noch der andere Text zu überzeugen. Am authentischsten war Dennis Kellys Rede, selbst ein Spiel damit, wie man so etwas wie Wahrheit am besten unterläuft und umkreist, um sie wirksam zu machen. Aber der Stückemarkt geht ja noch weiter. Und als Favoriten für den Hörspielpreis, der neben den beiden anderen Stückemarkt-Preisen ausgelobt ist, darf man "Und dann" auf jeden Fall betrachten.

 

Skåne
von Pamela Carter, aus dem Englischen von Hannes Becker
Szenische Einrichtung: Karin Neuhäuser.
Mit: Thomas Bading, Jule Böwe, Johannes Däscher, Wanda Fritzsche, Lenz Lengers, Jenny Schily, Samuel Weiss.

Und dann
von Wolfram Höll
Szenische Einrichtung: Alexander Riemenschneider, Ausstattung: Heike Schuppelius.
Mit: Daniel Hövels, Hans Löw, Helmut Mooshammer.

www.berlinerfestspiele.de

 

Mehr zu Wolfram Hölls Stück: beim Heidelberger Stückemarkt wurde „Und dann“ mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet. Und Christian Rakow stellte Hölls "Und dann" ausführlich vor.

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