Tauberbach - Shorty zu Alain Platels Gastspiel beim Berliner Theatertreffen 2014
Wilde Flugbahnen
von Mounia Meiborg
Berlin, 10. Mai 2014. Sollen wir mit dem Sex anfangen oder mit den Standing Ovations? Beginnen wir mit dem Ende. Nachdem allen klar war, dass das Stück aus ist – die Tänzer und Schauspieler standen reglos auf der Bühne und reagierten nicht auf zaghafte Applausversuche – ging es los. Jubel, die ersten standen auf, dann immer mehr, eine Welle ging durchs Parkett.
Warum der Jubel? Klar, wunderschöne Bilder waren es, die wir in "Tauberbach" (hier die Nachtkritik aus den Münchner Kammerspielen) eineinhalb Stunden lang anschauen durften. Aber das allein ist es natürlich nicht. Vielleicht beschreibt es die Szene mit der Fliege am besten. Ein Tänzer steht am Mikrofon, das von der Decke baumelt, und summt wie eine Fliege, die den Ausgang ins Freie nicht findet. Hektisch zeigt er mal hierhin, mal dorthin, lässt wilde Flugbahnen entstehen und wird immer panischer. Sequenzartig schraubt sich das Summen in die Höhe, ein verzweifeltes Accelerando, das in einen Todeskampf mündet.
Tanz auf der Müllhalde: "Tauberbach" von Alain Platel und Les Ballets C de la B © Julian Röder
Alain Platel, dieser Gedanke kommt einem in den Sinn, muss ein riesiges Herz haben. Ein Herz, so groß, das nicht nur ausgestoßene Menschen und versehrte Körper hineinpassen. Sondern auch eine Fliege, die fünf Minuten lang die Bühne der Berliner Festspiele beherrscht.
Würde ist das Thema dieses Abends. Wir sehen – in Gestalt von fünf Tänzern und einer Schauspielerin – einsame Menschen, verrückte Gestalten, komische Vögel. Sie waten durch den Müll und das, was vom Leben übrig bleibt. Aber sie gehen nicht zugrunde. Elsie de Brauw steht einmal an der Rampe und sagt mit kindlichem Trotz: "I'm perfect, didn't you notice?" Sie spielt eine schizophrene Frau, die auf einer Müllhalde lebt.
Natürlich suchen hier alle nach Nähe. Und so mündet diese Suche in einer unglaublichen Sex-Szene, die mit abgeschleckten Bäuchen, Mündern, Genitalien nur unzureichend beschrieben ist und wohl deshalb in den meisten Kritiken schamhaft verschwiegen wurde.
Einmal schaut ein Zeh vorsichtig aus dem Kleiderhaufen heraus, der den Bühnenboden bedeckt. Dazu läuft Bachs Air Suite. Rein ist diese Musik und so schön, dass sie uns über ihre Traurigkeit hinweg tröstet. Alain Platel mag bestimmt keine Superlative. Aber das ist der vielleicht schönste Moment dieses Theatertreffens.
Die Nachtkritik der Premiere an den Münchner Kammerspielen von Tauberbach im Januar 2014.
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Siehe: www.theatertreffen-blog.de/tt14/sight-und-tauberbach-eine-geschichte-von-kuenstlerischer-urheberschaft-und-kolonialen-fortschreibungen/