Mehr Mordsdramatik!

26. September 2023. Warum gelten Krimis eigentlich als minderwertig für heutige Theaterbühnen? Warum überlässt man das Format dem Film- und Fernsehschaffen? Wo doch Ödipus und Hamlet einst als wahre Kriminalisten starteten? Ein Plädoyer für die Wiederentdeckung des Genres.

Von Atif Mohammed Nour Hussein

26. September 2023. Im Londoner West End am St. Martins Theatre gibt es zum Ende jeder Vorstellung ein liebevolles Ritual. Ein Schauspieler tritt nach dem Applaus aus der Reihe an die Rampe und bittet das Publikum, das Geheimnis des Stückes nicht zu verraten und im Herzen nach Hause zu tragen. Ende der neunziger Jahre hatte ich die Gelegenheit dabei zu sein und folge dieser Bitte gern. Gegeben wurde Agatha Christies "Die Mausefalle". Seit 1952 wird es (die Covid-Auszeit ausgenommen) ununterbrochen in London gespielt.

Verbrechen und Totschlag, vielverwendete Trope im Kanon der dramatischen Weltliteratur, meist als ultimative Zuspitzung menschlicher Konflikte. Mord als Taktik zum Erringen der Macht, als Rachefanal, aus purer Verzweiflung oder Fehlleitung. Gerade kürzlich erst gab es hier auf nachtkritik.de am Fall "Woyzeck" eine Wiederaufnahme der wichtigen Debatte zum Thema Bühnenmord – explizit: Mord an Frauen (Femizid). Und diese Debatte wird, muss weiterlaufen, berührt sie doch eine wesentliche erzählerische Fehlstellung.

Anders jedoch der pure Krimi, der auf Verbrechen als Auslöser des Geschehens und auf dessen Aufklärung als erzählerischem Selbstzweck nicht verzichten kann – ein auf den meisten Bühnen eher selten bedientes Genre.
Rund heraus: Das ist schade. Denn gute Krimis sind raffiniert, kompliziert und bieten ein endloses Arsenal komplexer Charaktere. Und Krimis kommen vielfältig daher: Thriller, Komödie, psychologisches Kammerspiel – und es muss nicht zwingend Tote geben. Dafür können wir auf dem Drahtseil über unseren eigenen Abgründen balancieren (oder es zumindest versuchen), können schamlos moralisieren oder über unsere eigene Erbärmlichkeit lachen und am Ende gibt es irritierenderweise oft etwas Tröstliches. Und es gibt sie aus allen geschlechterspezifischen und -unspezifischen Perspektiven erzählt, es gibt sie straight, es gibt sie queer, es gibt sie Schwarz und weiß, von gestern, heute, morgen.

Dressed to be killed

Januar 1996. Erfurt. Zum Ende meines Studiums hatte ich die einmalige Gelegenheit, in einem Kriminalstück zu spielen – und es war fun as hell. Hartmut Lorenz, damals der leitende Professor des Fachbereichs Puppenspielkunst an der Ernst Busch, nahm eine Kommilitonin und mich mit ans Theater Waidspeicher – zu der Zeit eines der führenden Ensemble-Puppentheater. Auf dem Plan stand "Die Mausefalle" von Agatha Christie. Bevor die Proben begannen, bat er uns jeweils zwei Rollen zu benennen, die wir gerne spielen wollen. Meine Auswahl – Christopher Wren und Major Metcalf – bekam ich nicht. Dafür Mr. Paravicini – den red herring im Stück, und Mrs. Boyle, meine erste (aber nicht letzte) drag-Rolle, besser dressed as a lady, und wie sich herausstellte: dressed to be killed. Über hundert Vorstellungen, selbstverständlich nicht konkurrenzfähig zur Londoner Erstinszenierung mit über 30.000 Vorstellungen, bis heute. World record.

Große Bühnen bringen mit viel Aufwand Verspieltes, Unterhaltsames heraus – doch offenbar bleibt da so ein verschämter Rest: Es musste mal was fürs "breite Publikum" gemacht werden. Damit tun die Häuser sich und ihren Gästen möglicherweise Unrecht an.

Atif Mohammed Nour Hussein

Vielleicht passen Puppenspiel und Krimi ganz gut zusammen. Einerseits eint sie das Abseitigere in der weiten deutschsprachigen Theaterlandschaft (einige spezialisierte Schauspielbühnen halten sich kriminell ziemlich tapfer), andererseits ermöglicht offenbar der formalästhetische Abstand zwischen Mensch und Puppe, die Differenz der Wirklichkeitsebenen klarer zu erkennen. In der typischen Fernseh-Film-Serien-Eröffnungssequenz werden sie ja gemeinhin verwischt: Frau, wahlweise aus offenen Wunden blutend, im zerrissenen Unterkleid oder gänzlich nackt, stolpert fliehend durch dunklen Wald, über nasse Asphaltstraßen oder anonyme Bauruinen. Das ist nicht nur inszenatorisch faul, sondern beutet tatsächliche Opfer und Überlebende für ein paar Minuten oft grausam überästhetisiertem Thrill erneut aus. Meist um dann einem Mann die Chance zu geben, den Aufklärer oder Retter zu spielen. Nun denn …

Sicher, es ist nicht so, dass es nicht hier und da Krimis auf die große Bühne etablierter Schauspielhäuser schaffen – Staatstheater Darmstadt, Theater Chemnitz, Osnabrück, Rostock, Bremerhaven, das Gorki (geleitet von Petras) – brachten mit "Die neununddreißig Stufen", "Das Versprechen" oder "Mord im Orientexpress" mit viel Aufwand Verspieltes, Unterhaltsames heraus – doch offenbar bleibt da so ein verschämter Rest: Es musste mal was fürs "breite Publikum" gemacht werden. Damit tun die Häuser sich und ihren Gästen möglicherweise Unrecht an. Und das überregionale Feuilleton druckst auch ein bisschen rum.

Das Spiel der Argumente

Wie wäre es denn, anstatt Ferdinand von Schirach die Bretter zu überlassen (No offence!), sich noch einmal näher mit "12 Angry Men" ("Die zwölf Geschworenen") von Reginald Rose und Sidney Lumet zu befassen. Setting und Konflikt sind doch prädestiniert für die Bühne und verhandelt werden komplexe Themen: Vorurteil und Vorverurteilung, Zugehörigkeit und Identität, Moral und Verantwortung. Auch wenn das Ende vorhersehbar scheint, so ist das Ringen der Figuren mit sich selbst und miteinander, das für und wider der Argumente, das Spiel um Gerechtigkeit und Recht jede Minute fesselnd – nicht nur für ein Publikum.

Nicht von ungefähr ist eines der ersten erhaltenen europäischen Theaterstücke im Kern auch solch ein veritabler Krimi: "König Ödipus" – detektivische Spurensuche und Gerichtsdrama zugleich, mit dem Titelhelden als Täter, Staatsanwalt, Richter und Verurteiltem in einer Figur.

Und noch ein Beispiel mag zeigen, dass wir dem Kriminalistischen in der Theaterkunst schon lang sehr nahe stehen: Einer der ersten Detektive der dramatischen Literatur, wenn nicht gar der erste überhaupt, ist vermutlich Horatio – der fast immer anwesende, beobachtende, beglaubigende, stets loyale Freund Hamlets. Sein auf ratio basierendes Urteil und die Bereitschaft, dies auch zu verkünden – ora –, bestimmen Charakter und Funktion im Stück.

"Bemerk ihn recht,
Ich will an sein Gesicht mein Auge klammern,
Und wir vereinen unser Urteil dann
Zur Prüfung seines Aussehns."

So schwört Hamlet unmittelbar vor Beginn des von ihm inszenierten Schauspiels "The Murder of Gonzago" Horatio ein. Klarer investigativer Auftrag. Claudius gegenüber behauptet Hamlet, das Stück heiße "The Mouse-Trap". Daher lieh sich Agatha Christie den Titel für ihr Stück – auf Anraten ihres Schwiegersohns, weiß Janet P. Morgan in ihrer Agatha-Christie-Biographie zu berichten. Dazwischen liegen fast dreihundertfünfzig Jahre Theatergeschichte. Ein spätes, weit entferntes Echo findet Hamlets Figur übrigens in Lieutenant Horatio [hərɛ́jʃɪjəw] Caine, im Serien-spinoff "CSI:Miami" – auch er gibt nie auf, die Wahrheit zu finden und zu verkünden. Sein Credo: "We never close."

Brechts Krimibibliothek

Und an die Theaterleute da draußen, es ist bekannt, dass ihr Krimis liebt. Von Brecht jedenfalls wissen wir's. Er notierte leicht verzweifelt – wieder einmal musste er fliehen: "Meine beiden Produktionsmittel, die Zigarren und die Kriminalromane, gehen aus und müssen rationalisiert werden." Wie viele Krimis er "verloren" hat, ist nicht bekannt – zweihundertneunzig stehen jetzt wieder in seiner Nachlassbibliothek.

Noch zwei schöne Anmerkungen zum Schluss: Das Puppentheater Halle wird im Oktober "Mord im Orientexpress" zu Premiere bringen – yes! Puppe und Mensch! Und, höchstwahrscheinlich werden wir nie eine von Kenneth Branagh verantwortete Filmadaption von "Die Mausefalle" zu sehen bekommen. Eine Verfügung erlaubt eine Verfilmung erst nach Ablauf von sechs Monaten nach der letzten Vorstellung im Londoner West End. Mögen sie noch siebzig weitere Jahre ein Dauerbrenner bleiben.

 

Kolumne: Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein ist Regisseur und Puppenbauer. In seiner Kolumne stöbert er zwischen Verschobenem und Ablagerungen im Überbau.

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Kolumne Hussein: Hinweis
Unsere ganze Spielzeit wird ein Krimi:

„Im Taumel des Zorns“ erzählt in 7 Episoden die Geschichte eines Medizinskandals mit Apothekeneinbruch gleich in Episode 1. Aus der Feder von sieben Autor*innen/Kreativteams fesseln wir unser Publikum von Cliffhanger zu Cliffhanger. Schauen Sie rein, Kolleg*innen! Am 7.10. gehts los!

https://www.zimmertheater-tuebingen.de/programm/
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