Der Blinde-Flecken-Sucher
Video von Sascha Ehlert
Berlin, 17. Mai 2016. nachtkritik.de begleitet die zehn fürs Theatertreffen nominierten Inszenierungen mit kurzen Videoblogs. Stolpersteine Staatstheater von Hans-Werner Kroesinger erzählt von vier jüdischen Mitarbeitern des Badischen Staatstheaters Karlsruhe und ihrem Schicksal im Nationalsozialismus. Mit am großen Seminartisch hat Sophie Diesselhorst gesessen und findet trotz Faktenoverkill: endlich mal ein Kroesinger beim Theatertreffen.
Zur Theatertreffen-Festivalübersicht mit allen Videoblogs, Nachtkritiken, Kritikenrundschauen. Der nachtkritik-Liveblog fängt außerdem das auf, was bei der großen Betriebssause auf den Haupt- und Nebenschauplätzen so los ist – Gerüchte, Applausstürme, Buhrufe und mehr.
Kritiken zum Gastspiel der Inszenierung beim Berliner Theatertreffen 2016
"Während Kroesinger-Abende zu tagesaktuelleren Sujets häufig widerstreitende Perspektiven so lange klug gegeneinanderhalten, bis sich auch die letzte vorschnelle Scheingewissheit aufgelöst hat", sei "Stolpersteine Staatstheater" in erster Linie eine erhellende Analyse über die opportunistische Entlastungsfunktion bürokratischer Doktrinen, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (18.5.2016). Wie etwa der um Fassung ringende Ton Emma Grandeits wieder und wieder und wieder mit jener schikanösen Bürokratiemaschine kollidiert, ist tatsächlich nicht leicht auszuhalten. "Der Abend, der sich darüber hinaus auf die (Arbeits-)Biografien zweier Schauspieler und einer Sängerin konzentriert, hat auch äußerlich eine adäquate Form gefunden."
Kroesingers Einladung zum Theatertreffen war überfällig, so Harald Asel auf rbb Inforadio (17.5.2016) "Auch wenn die Produktion im Vergleich zu anderen auf diesem Festival eher klein proportioniert daher kommt, zeigt sie eine aktuelle Tendenz auf deutschen Bühnen: weniger Kunstwollen, eher ein stadtgesellschaftlicher Debattenbeitrag. Der aber gelingt hier erstaunlich unthesenhaft."
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Bleibt als Kern wie so oft bei Kroesinger, der sachliche, nüchterne, trockene Ton der Fakten. So sehr sich der Zuschauer mehr theatrale Komplexität wünscht, so wirkungsvoll sind doch die Materialien, die festgehaltene Erinnerung, die dem Publikum nach Ende der Vorstellung in einer Art improvisiertem Lesesaal zugänglich gemacht werde, so sehr entsteigen die Schicksale, die ebenso individuell wie exemplarisch sind, den vergilbten Seiten der Ordner und Aktenmappen, so sehr emanzipieren sie sich von der Bürokratie der Vernichtung. Die Gegenwartsbezüge, etwa die skandierten Hassrufe des Pegida-Ablegers Kargida, sind ein wenig plakativ, die Texte der Darsteller*innen zu ihren Erfahrungen mit den Stolpersteinen nehmen reichlich dramaturgische Luft heraus. Doch schnell sind wir wieder bei Lily und Emma und Hermann und Paul. Und der Leere, die sie hinterlassen und die uns auch eine Lehre sein soll. Ganz nebenbei erfahren wir, dass das Badische Staatstheater seinen Namen im April 1933 bekam. Und hören am Ende einer Kollegin der Herausgejagten zu, die nach vielen Sympathiebekundungen über einen jungen Korrepetitor, der den Rauswurf der jüdischen Dirigenten als Karrieresprungbrett zu nutzen wusste, sagt: “Man muss im Leben auch mal Glücksfälle haben.” Und plötzlich, ganz am Schluss, steht die Tür zwischen Vergangenheit und Gegenwart ganz weit offen. Durchgehen muss der Zuschauer allein.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/05/18/der-boden-unter-den-fusen/