Theatertreffen 2010
Theatertreffen 2010 – Abschlussdiskussion der Jury
Misstrauen gegen den Text
von Esther Slevogt
Berlin, 24. Mai 2010. Wie antwortet Kunst auf die Krise? Hat das Theater noch Antworten auf die Fragen dieser Zeit, auf die selbst Politiker keine Antworten mehr geben können? Die Schlussdebatte des Theatertreffens war schnell bei den letzten Dingen angelangt. Bei der Frage, inwieweit das Theater den Zeitgenossen Zuflucht, Trost zubieten hat, ob es die klaffenden Sinnlöcher schließen, den zerrupften, vom Kapitalismus verdinglichten Subjekten wieder neues Leben oder gar eine Seele einhauchen, oder sie am Ende gar von dem Schicksal zu erlösen vermag, als zersplittertes Subjekt nur noch im Kollektiv zu einem Restindividuum sich aufrappeln zu können.
Abwesend: große Texte
Nur saßen auf dem Podium keine Gurus oder Geistliche, nicht einmal Künstler oder anderweitig im Seligkeits- und Sinnbusiness Aktive - lediglich sieben Theaterkritiker versuchten, unter der Leitung von Moderatorin Barbara Burckhardt die Auswahl des diesjährigen Theatertreffens zu verteidigen, für die sie als Juror_innen die Verantwortung hatten: eine Auswahl, die im Wesentlichen Stücke über die gegenwärtige Systemkrise des Kapitalismus präsentierte, die für manche aber auch eine Krise des Theaters ist. Denn wo sind sie geblieben, die großen Texte, die Klassiker? Und die großen Schauspieler erst recht?
Der Alleinjuror des Alfred-Kerr-Darstellerpreises, der traditionell kurz vor der Schlussdebatte im Rahmen des Theatertreffens verliehen wird, Bruno Ganz, hatte den Preis an den einzigen Schauspieler vergeben, der ihm im Rahmen des Wettbewerbs überhaupt aufgefallen war: an Paul Herwig, den Darsteller des Pinneberg in Luk Percevals Münchner Fallada-Inszenierung Kleiner Mann - Was nun? Der Rest sei Comedy, Chor oder Kabarett gewesen.
Aber diese Steilvorlage des zum Zeitpunkt der Schlussdebatte längst verschwundenen Jurors wollte in der Debatte keiner so recht aufnehmen, obschon Moderatorin Barbara Burckhardt noch einmal das "Zurückweichen des Textes in den Inszenierungen" konstatierte. Und die Tatsache, dass der klassischste Klassiker des Treffens Horváths Kasimir und Karoline gewesen sei, ansonsten die Musik die dramaturgische Funktion des Textes übernommen habe und das Individuum höchstens im Kollektiv noch zu sich selber finde.
Berührend oder bedeppert
Das Misstrauen gegen den Text, versuchte es Juror Stefan Keim sich und dem Publikum zu erklären, komme vielleicht daher, dass die Regiegeneration zuvor, also Peter Stein, Peymann und andere, sich ein wenig zu exzessiv mit dem Text befasst habe und nun Wege zu sinnlicheren Erzählformen gesucht würden, was ja sehr zu begrüßen sei. Dies aber stellte die drängenden Sinnsucher nicht wirklich zufrieden, die nicht satt geworden sind in diesem Jahr, und die die Debatte schnell in zwei Lager spalteten: die einen, die sich einzig von Percevals Fallada-Abend existenziell berührt fühlten, die in dieser existenziellen Berührung den Sinn des Theaters auch jenseits des konkreten Bühnenereignisses sehen, wie es mit beinahe religiöser Emphase eine Dame im Publikum ausdrückte.
Auf der anderen Seite diejenigen, die Percevals Ansatz und auch die Gefühle, die seine Arbeit beim empathischen Zuschauer auslöst, einfach bloß regressiv fanden, die Arbeit selber oberflächlich, stecken geblieben im Effekt. Theater als Opium des Volkes sozusagen, wo doch Antworten und Erklärungen gefordert waren. Hier wurde dann Nicolas Stemanns Jelinek-Inszenierung Die Kontrakte des Kaufmanns von manchen als beispielhaft angeführt. Sie habe es als Befreiung empfunden, dass hier einmal nicht nur die Opfer abgebildet, sondern auch die Verursacher der Krise thematisiert worden seien, sagte Barbara Burckhardt, und eben auch Wut über die Verhältnisse zum Ausdruck gekommen sei.
Unterschicht oder Schauspielergarderobe
Dem wiederum widersprach Juror Andres Müry, der Jelinek lediglich Ironie, aber keine Wut zugestehen wollte, und ansonsten befand, das sei resignativer linker Stammtisch, was in diesem Drama verhandelt werde. Wut sei ja auch weit und breit nirgends vorhanden. Wer gehe denn auf die Straße und protestiere?, fragte Wolfgang Höbel, und nannte mit Falk Richters Stück Trust eine diskutierte Inszenierung, die gerade diese Abwesenheit der Wut thematisiere, die man aber letztlich wegen des "schwachsinnigen" Textes doch nicht ausgesucht habe.
Sehr gestritten wurde auch über Karin Beiers Aufführung Die Schmutzigen, Hässlichen und Gemeinen, die bei vielen als "Sozialporno" große Aggressionen provozierte, von der Jury aber vehement verteidigt wurde, weil dieser Abend zur Aufgabe der verlogenen bürgerlichen Einfühlung zwinge und die unüberbrückbare Distanz des Bürgertums zur Unterschicht aufzeige, womit sich Karin Beier sozusagen diametral Luk Percevals Ansatz entgegen setze, wie Wolfgang Höbel fand. Worauf Andres Müry süffisant hinzusetzte: er verstehe die Aufregung nicht. Hier würde doch gar nicht die Unterschicht, die sogenannte ausgestellt. Wer je eine Schauspielergarderobe von innen gesehen habe, der wisse, dass der Abend nichts anderes als die aufrichtige Selbstbeschreibung eines Berufsstandes sei.
In der Berliner Zeitung (25.5.2010) jubelt Dirk Pilz zum Abschluss des Theatertreffens über "Die Kontrakte des Kaufmanns": Jelineks Text und Stemanns Regie ergäben ein "beeindruckend organisches Wuchergebilde aus Gleichzeitigkeiten und Widersprüchen". Es handele sich um "Theater als Dauerüberforderung", ein "wildes Assoziationsgewitter", um einen "riesigen Diskursstrudel, der so viele Sinnes- und Sprachreize aussendet, bis man nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht". Stemann sei auf "der Höhe seiner verzwirbelten Theater-Theaterkunst angelangt". Gegen das Jelinek-Massiv wirkte Roland Schimmelpfennigs "Der Goldene Drache" auf Pilz bloß wie ein Theatertextlein, eine Kurzweiligkeit, die in "belangloses Achselzucken" münde. Womit die Inszenierung durch den Autor selbst gut in den diesjährigen Theatertreffenjahrgang passe. Die Auswahl 2010 stelle ein "schönes Bekenntnis zur Beliebigkeit" dar, für fast alle "Theatergeschmäcker" sei etwas dabei gewesen.
Allein fünf von zehn eingeladenen Stücke fügten sich für Katrin Bettina Müller, sie schreibt in der taz (25.5.2010), "zu einem Panorama der Finanzkrise und ihrer Verlierer". Darüber könne man "beinahe" die "Selbstbezüglichkeit" und "mangelnde Relevanz" des Theaters vergessen. Dass nichts mehr überschaubar sei, in den Stücken sei das der "allgemeine Nenner, die neue Verbindlichkeit, die an die Stelle von Glauben, Ethos oder Verantwortung gerückt ist". In Marthalers "Riesenbutzbach" glaube man "die Möbel und die Mauern selbst weinen zu hören über ihre Verwaisung". Roland Schimmelpfennigs "Der Goldene Drache" sei "verblüffend", weil er für die "tragische Geschichte von Opfern der Globalisierung" eine "Sprachform" gefunden habe, "die nicht behauptet, aus der authentischen Perspektive der Migranten zu reden", sondern immer die "Arbeit der Vorstellungskraft" vorzeige, sich in diese hineinzuversetzen. Mit "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen" stoße Karin Beier gar in neues Gelände vor. Es handele sich um eine "Überhöhung des Mimetischen", die dem "postdramatischen Misstrauen in die Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle" einen "Stinkefinger" zeige.
Im Berliner Tagesspiegel (25.5.2010) schreibt Rüdiger Schaper: Die Jury hätte ausgewählt, was ihr ins Konzept gepasst habe. Einigung auf den kleinsten gemeinsamen, den Krisen-Nenner. Welches Menschenbild etwa in Marthalers "Riesenbutzbach" behauptet würde, selbst bei ihm nerve die "ewige Verblödungs- und Verödungsmasche", Figuren, die "bemüht schlaff und maulfaul und lächerlich gekleidet ihre und unsere Zeit totschlagen". Wer sollte diese Typen denn schlagen? Die wahre Krise des Theaters sei es, "bloß noch Typen vorzuführen und in letzter Konsequenz zu denunzieren". Und dem Zuschauer werde unterstellt, er interessiere sich nicht "für soziales Elend". Wirkliche Menschenkunst gebe es nur bei "Kleiner Mann - was nun". Es rühre an "ein Wunder", wie Luk Perceval und das Ensemble den Roman von 1932 als "Antidotum zur Theaterkrise" offerierten. "Der Arbeitslose einmal nicht als der Seelenlose." Der Abend mache sich frei "von Moden und Zwängen und jeder Betriebswurstigkeit". Ein "Triumph".
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Auch die thematische Konzentration auf das Thema Krise ist durchaus folgerichtig, spiegelt es doch den wesentlichen Trend dieser Spielzeit wieder (und genau das will das tt doch sein, ein Querschnitt aktuellen Theaterschaffens). Und es zeigt die Vielfalt, mit der mit diesem Thema umgegangen werden kann und auch wird. Das ist nicht immer erfolgreich, die eine oder andfere Nuance dieser Auseinandersetzung fehlt auch (Trust), das ist aber alles andere als tot. Ich persönlich empfand das diesjährige tt als keinen der schlechteren Jahrgänge, auch weil esden Mut hatte, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, mit allen Risiken, die das beinhaltet.
Gehört mittlerweile schon Mut dazu, sich im Theater mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen? Das wird jetzt anscheinend als völlig neuartiges Phänomen gefeiert, als seien zuvor nur metaphysische Themen oder mit Emotionen beladene Privatreservate behandelt worden. Na also, jetzt haben wir eine Art Betroffenheitstheater angesichts heikler realer Probleme und Risiken werden dabei auch eingegangen. Das sind wohl psychische Risiken und keine juristischen. Offensichtlich ist die Transpiration groß und etwas Inspiration ist auch dabei.
Bruno Ganz hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die „superpräsenten“ Regisseure das Identifikatorische scheuen. Mit wem kann man noch ein identifikatorisches Bündnis eingehen? Wir haben eine Menge von Bühnenartisten und dadurch eben viel „Comedy, Chor und Kabarett“. Und wir haben die Wiedergabe psychischer Kollektivphänomene. Vielleicht ist das das Theater der Zukunft: artistisch ansprechende Ensemble-Leistungen mit raffinierten Einsprengseln unter Auslöschung des solitären Individuums.
das nur höre: "90 % Transpiration, 10 % Inspiration", dann ist bei mir dasjenige Unterfutter (sentimentaler Background) aktiviert, meine Liebe angesprochen: "Geraubte Küsse" von Truffaut !!
Es war bei mir nämlich gerade bezüglich "Die Frau vom Meer" so gegangen, und zwar in der Folge der Inszenierungsplan-Präsentation "Vor Ort" (ich schrieb im Kiel-Thread dazu), daß ich auch an Truffaut denken mußte ! Frau Pullen hatte im Kern formuliert, es ginge ihr vor allem darum, Ellida als eine Frau zwischen zwei einander ausschließenden Lebensentwürfen, von denen keiner denunziert wurde ..., zu entwickeln; zudem stünde Ellida auch als
Person da, von der auf alle umgebenden Personen im Stück ein unwiderruflicher Sog ausgehe (und eigentlich nicht recht ging...).
Tatsächlich sah ich mich nun an jene Truffautsachen erinnert, die dergleichen "Beziehungsdreiecke" filmisch umgesetzt haben ("Jules und Jim" und "Zwei Frauen aus Wales und ihre Liebe zum Kontinent"),
auch wenn Frau Pullens Darstellung dann schon fast wieder mehr (ihre) Wedekind-Lulu ins Spiel brachte ("Jules und Jim": Jeanne Moreau); warum ich das hier anführe ?
Was mich eigentlich interessierte, war das individuell-persönliche
Leben; das, was Frau Pullen zunächst eben aufstieß:
die Offenheit, (frei nach Entweder/Oder) A und B, die angeblich
ausschließenden Lebensentwürfe, zusammenzudenken, ganz nach dem
Bild des Truffautschen Insellebens in "Zwei Frauen aus Wales...":
Leben wir, das Etikett kleben wir später drauf !!
Eine gewisse Sehnsucht danach, dergleichen einmal auf der Bühne -auch wag-
halsig- wirklich ausgetragen zu sehen, ich erwähnte nicht ganz umsonst hin und wieder Musils "Schwärmer" und sah desletzt im Wiener-Heidelbergvorgängerthread, daß "Flohbär" schon einige Zeit vor mir auf dieses Stück hingewiesen hat (das, glaube ich, durchaus
als "in der Luft liegend" bezeichnet werden darf und in Bochum wohl kaum zufällig versucht wurde !), habe ich allerdings: und das
hängt für mich zentral mit dem Begriff "Personalität" zusammen.
Nicht umsonst sprach "I S" desletzt vom "Prozeß" statt von der "Person", sie sieht ebendiesen Konflikt, denke ich, jedoch schon irgendwie als "unumkehrbar", obschon sie Umkehrung gerade zu fürchten scheint, nicht umsonst an ganz anderer Stelle, im attac-
Thread seinerzeit die gereizte Reaktion gegenüber dem Begriff der
Atomisierung (der Gesellschaft) -aber waren es nicht gerade "Atome", die more geometrico Verfassungen (Hobbes: Schutz für Gehorsam ...) gemacht haben und unseren Gesellschaften fundamental eingeschrieben sind, bedingen ein gewisser pragmatischer Atomismus und "Konstruktivität" nicht letztlich einander ??-.
Ich sehe den Menschen keineswegs als "Durchlauferhitzer der Welt
der Ereignisse" (Prozeß ...), ich sehe immernoch den sprichwörtlichen Kafka-Menschen: Sie haben einen Prozeß !
Pinneberg und Marion aus Pinneberg, ähnlich zwischen zwei einander
auszuschließen scheinenden Arten zu inszenieren wie Ellida zwischen ihren Männern: das scheint mir allemal das Signum dieser
Spielzeit in etwa zu sein.
In Kiel wurde der Sontag-Ibsen "reromantisiert" wie der Nachtkritiker schrieb, in Leipzig wurden in der "Skala-Spielstätte"
meineserachtens "personalere" Auslegungen eines an Pollesch orientierten Theaters versucht: ich denke, daß dies Beispiele für eine gewisse Tendenz im heutigen Theaterland Deutschland sind, daß
Theater ohnehin diejenige Kunstform ist, in der sich das, was Dieter Sturma ein "Projekt zur Philosophie der Person" nennt, um, Stefan, einmal einen Philosophen zu nennen, der mit Ihren Einwürfen zur Philosophenkaste nischt zu tun hat !!, immernoch in
der größten sinnlich-phänomenologischen Vielfalt zum Ausdruck gelangt, währenddessen die politische Großwetterlage viel Verwandtschaft zu dem zu haben scheint, was 1989/1990 seinerzeit lediglich die BRD-Krise war.
Ja, wäre der Fremde nur so aufgetreten in Kiel wie in der Doinell-
Reihe Truffauts jener unbekannte Mann im Park, der Doinells Lebenspartnerin (die Geigenlehrerin) beschattet und am Ende des Films verkündet: "Ich bin endgültig ..., ich liebe Sie ... !!"
Ja, wäre nur etwas zu spüren gewesen von jenem:
Ich wäre auch gern Deine Frau gewesen ... !!
Was ist tatsächlich passiert? Es waren sehr ereignisreiche Tage in Berlin. Wir durften 10 ausgewählte Theaterstücke erleben, die fast alle einen unmittelbaren Bezug in die Gegenwart haben oder sogar direkt davon erzählten. So etwas hat es noch nicht gegeben, in den letzten Jahren waren es 2, 3 oder höchsten 4 der Inszenierungen. Und etwas fehlte tatsächlich der große Einzelschauspieler a la Bruno Ganz und so dürfte es dem Altmeister auch wirklich schwer gefallen sein, seinen Preis los zu werden. Er ist dann zwangsläufig beim einzigen Stück fündig geworden, was eine erkennbare Hauptfigur und einen ihm angemessen Plot besitzt, dem Kleinen Mann von Hans Fallada. Aber auch einer anderen Jury ging es ähnlich, da wurden die Schauspielensemble schmählich ignoriert und sogar versucht sie gänzlich weg zu diskutieren. Das dabei die schönste, dem Gemeinsinn geradezu frönende Inszenierung des Theatertreffens, Die Kontrakte des Kaufmanns, einem faulen Kompromiss zum Opfer gefallen ist, ist die Tragik eines ansonsten erfrischenden Jahrgangs, wenn man von einigen Ausrutschern absieht, die man nie verhindern kann und die auch zur Herausstellung des wirklich Bemerkenswerten dazu gehören.
Die Wiederentdeckung des politischen Theaters wurde angeblich gefeiert. Meiner Meinung nach fehlt dazu noch einiges, aber es muss ja auch nicht zwangsläufig im Agitprop enden. Ein wenig störend finde ich jedoch, das ständige Unken über die Ausstellung von Unterschichten, Aquariengucken und das ewige Darstellen angeblich in unseren Köpfen existierender Klischees. Diese Klischees gehören einfach dazu, es kommt auch keiner auf die Idee der sogenannten Unterschicht ihre Klischees über den Bildungsbürger vor zu spielen. Ich glaube, der geübte Zuschauer kann sehr wohl die Wirklichkeit vom Spielen mit vorhanden Vorurteilen unterscheiden.
Und noch etwas ist mir aufgefallen, die klammheimliche Rückkehr des so verpönten Bühnenbildes in viele der Inszenierungen, sei es Riesenbutzbach, Kasimir und Karoline, Der Kleine Mann, Diebe oder Die Schmutzigen, Hässlichen und Gemeinen. So unterschiedliche Bühnenaufbauten hat man lange nicht gesehen und selbst in den Kontrakten des Kaufmanns existiert so etwas ähnliches wie ein Bühnenbild, wenn es auch im Laufe des Spiels sehr leiden muss und schließlich wie ein Kartenhaus der Träume in sich zusammenfällt und gnadenlos vom begnadeten Ensemble zerschrotet wird.
Am Rande durften wir noch Auszeichnungen für zwei verdiente Damen der Schauspielkunst in Berlin erleben, eine im Osten, gefeiert von den eher jungen Theaterleuten und eine im Westen, benutzt für den Versuch einer Reconquista der alten Garde, allen voran Botho Strauß, flankiert von einer Rede eines bekannten Theaterkritikers zu einer merkwürdigen Fahrt in die brandenburgische Provinz.
Das muss man alles erst mal verarbeiten, bevor man wieder zum zur Zeit eher trüben Berliner Theateralltag übergeht. Aber nach dem Theatertreffen ist vor dem Theatertreffen und vielleicht erkennen dann doch noch bis dahin einige, die Liebe im Theater und den Einzelnen im Ensemble vieler, die diese Theaterliebe teilen und täglich leben. Also dann, in diesem Sinne, bis zum nächsten Mal.
http:// stage-and-screen.blogspot.com/
Das freut mich, dass Ihnen meine kleine Zusammenfassung gefallen hat. Sie bringen es auch noch mal auf den Punkt, worum es mir geht. Das Theater in seiner jetzigen Vielfalt lebt und befindet sich auf einem vielversprechenden Weg. Die so vom Festival propagierte Liebe ist aber vor allem in den Ensembleleistungen der Schauspieler direkt auf der Bühne zu finden und nicht als allein glücklich machende Lösung aller Probleme und das hätte ich mir als Überschrift gewünscht und nicht die etwas spaßig formulierte Zwangskollektivierung.
Übrigens, es soll nicht der Eindruck entstehen, dass ich alle Stücke direkt beim Festival gesehen habe. Es waren dort nur 4, andere kannte ich bereits oder hatte sie in Fernesehaufführungen gesehen. Liebe und Geld schaue ich mir auch erst im Juni an und komme damit auf 8 der 10 Inszenierungen. So viele hatte ich bisher auch noch nie geschafft.
Muss man nicht auf das Paradox verweisen, dass wir hier nicht in Schaufenster einer Shoppingmall, sondern in Schau-Fenster mit menschlichen Subjekten schauen, welche ansonsten aus dem Gesichtskreis der bürgerlichen Mittelschichten weitestgehend ausgeschlossen sind?
Umgekehrt liegt ein weiteres Paradox darin, dass "die Unterschicht" dieselben Produkte (zum Beispiel den Flachbildschirm-Fernseher) wie die bürgerlichen Mittelschichten konsumiert und eben gerade nicht die proletarische Revolution ausruft.
Was hier also möglicherweise zum Vorschein kommt, ist das Konsumieren als Produktionsform quer durch alle Schichten: "Konsum von Stil und Kultur hat eine ebenso wichtige Bedeutung für die Bearbeitung und Veränderung der äußeren Lebenswelt wie für die Selbstbearbeitung der Innenwelt der Subjekte [...]." (Robert Misik, "Das Kult-Buch")
Indem Karin Beier "die Unterschicht" nun in ein Schau-Fenster setzt, wird auf unser medial vermitteltes Big Brother-Bild und möglicherweise auch das darüber konstruierte Selbstbild des "Unterchics" verwiesen. Damit wird aber die Ungleichheit in den materiellen Lebensverhältnissen (und damit einhergehende Bildungschancen, Teilnahme am kulturellen Leben usw.) völlig aussen vor gelassen. Wir sind nicht alle gleich, aber der consumer capitalism macht uns alle gleich. Zitat Misik:
"für Pasolini hat das westlich-hedonistische Kulturmodell die Menschen gleichsam ummontiert, bis ihre gesamte 'körperlich-mimetische Sprache' lautete: 'Die herrschende Macht hat beschlossen, dass wir alle gleich sein sollen.'"
Puh, wo soll ich denn da jetzt wieder ansetzen? Sie werfen mir da wieder ein paar Zitate an den Kopf, die mit dem was ich meine, gar nichts zu tun haben. Klar, fliessen die Grenzen zwischen den Schichten, jeder hat einen gewissen Zugang zu Konsumprodukten (billig, billiger, …) aber auch die Möglichkeit sich etwas Bildung anzueignen. Was man letztendlich wählt und wo die Reise hingeht, das kann man auch bei einem Mittelschichtler nicht vorhersagen. Nur geht es eben beim sogenannten Prekariat im weitesten Sinne schon in erster Linie um die Existenz und dann vielleicht noch um andere Sachen (Erst kommt das Fressen…). Ist das jetzt schon ein Klischee? Ich denke nicht. Und das zu zeigen, hat nichts mit erzwungenem Voyeurismus zu tun. Und bitte wo sind diese Leute aus unserem Blickfeld ausgeschlossen? Wo leben Sie denn, in Zehlendorf, im Grunewald oder wo? Wer das für Kuckkastentheater hält, sollte sich schleunigst besser informieren, oder einmal über den Alex laufen und nicht immer nur am Kudamm oder in der Friedrichstraße shoppen.
Entschuldigung, das regt mich aber echt auf. Karin Beiers Inszenierung hat nichts vordergründig Politisches, es zeigt einfach, sicher etwas überspitzt, ein paar klassische Wahrheiten. Wenn Ihnen das nicht gefällt, dann denken Sie sich doch selbst in den Glaskasten, aber so viel Phantasie hat der Mittel- und Oberschichtler nicht und schreit gleich nach seelenlosem Klischee oder zitiert irgendwelche Philosophen.
Im aktuellen Kontext muss man den Begriff des Subproletariats bzw. des "planetarischen Kleinbürgers" (Agamben) meines Erachtens noch einmal vom Begriff des Prekariats trennen. Das Leben des kreativen Prekariats - gerade auch in Bezug auf das Theater/Freie Szene/den Schauspielerberuf - sieht so wie hier sicher nicht aus. Und ich würde auch nicht sagen, dass es dem kreativen Prekariat zuerst um - wie Sie behaupten - "das Fressen" geht. Im Gegenteil, da wird lieber am Essen gespart, um GEMEINSAM gestaltete Kunstprojekte finanzieren zu können.
Schließlich, natürlich kann man das Subproletariat zum Beispiel auf dem Alexanderplatz sehen, aber das heisst eben noch lange nicht, dass wir deren Leben kennen. Und darum gehts hier. Dieser Glaskasten ist sicher nicht ohne Grund als ein schalldichter gewählt, da kommen keine Worte, da kommt keine Sprache hindurch. Aber es ist eben die Sprache, die dialogische Auseinandersetzung, über welche sich eine politische Gemeinschaft allererst konstruiert. Ohne die Sprache bleibt alles bloß Bild, auch im Sinne eines vorurteilsbehafteten Bildes. Die Sprache/ein hörbarer Text dagegen würde eine differenziertere Reflexionsebene eröffnen, was hier aber nicht geschieht. Hier geht es um den mitleidslosen Blick auf "die Schmutzigen, Hässlichen und Gemeinen" und nicht um eine falsche Vorspiegelung von Mitleid bzw. eines geteilten Sinnes zwischen der (dargestellten) Unterschicht und den bürgerlichen Mittelschichten im Zuschauerraum.
Wie weit wollen Sie denn das Proletariat noch versuben? Ich versuche da nicht zu viele künstliche Unterscheidungen rein zu bringen. Wie schon gesagt, die Grenzen sind heute fließend. Sie haben sicher Recht, die These von dem Volk aufs Maul geschaut greift nicht mehr, aber einfach den Ton abdrehen hilft auch nicht weiter. Da gibt es eben keine Patentlösung, deshalb ist die Baier-Inszenierung auch so schön widersprüchlich und das sollte sie meiner Meinung nach auch bleiben.
Sie haben in einem anderen Thread Schapers Fazit des Theatertreffens moniert. Warum?
Ich glaube vielmehr, Schaper hat sich endlich einmal zu ungeahnten Höhen seines Denkens aufgeschwungen. Im Grunde ist seine Hauptaussage, dass das Theater (des Treffens) all seine künstlerischen Mittel aufwendet, nur um Typen abzubilden. Typen, aber keine Individuen.
"Wenn Theater keine Menschenkunst mehr ist, sondern ein Kaninchenstall, hat es sich selbst aufgegeben." Statt Inszenierungen werden den Zuschauern lediglich Installationen angeboten, die Wirklichkeit wird nur noch imitiert und nicht spielerisch bewältigt. Richtige Worte, ohne Zweifel. Nun benötigt man zu dieser Feststellung keine geschärfte Sensibilität oder ein besonderes Rezeptionsvermögen, es ist vor allem wichtig, dass er dies unverblümt niedergeschrieben hat, ohne sich von einem Harmoniebedürfnis Pilzscher Provenienz leiten zu lassen. Denn was tut der Kollege Pilz? Der Beschönigungskritiker großen Stils verbreitet eine Stimmung, dass alles gut sei, und seine Hauptkritik richtet sich gegen die Kritiker des Theatertreffens und des Theaters im Allgemeinen. Eine neue Spezies der Kritik ist offenkundig im Vormarsch – sie hat massive Selbstabschaffungspläne im Gepäck. Das ist eine Kritik, die einen Überschuss an Kritik kritisiert, Restaurationsversuche der vitalen Elemente von früher ebenso ablehnt wie neue Impulse mit dem schlichten Hinweis auf die Selbstheilungskräfte des Theaters. Kurz, das ist eine Kritik, die die eigenen Berufsgrundlagen in Frage stellt.
Das ist mir ein Schaper lieber, der konstatiert, dass die Ökonomie und ihre entfesselten Kräfte längst einen Triumph gefeiert haben – einen Triumph über "die Kunst und ihre gesellschaftlichen Mittel". Wenn ich ins Theater gehe, will ich keine Imitation der Wirklichkeit. Sofern mir danach ist, brauche ich bloß das Haus zu verlassen. Ich will den spielerischen Umgang mit der Wirklichkeit, den Triumph der Kunst.
Immerhin hat Schaper ja noch eine kleine Perle gefunden, in Percevals Fallada-Inszenierung. Zugegeben, ich hätte gern Pilz' relativ unprätentiöse Kunsterwartung, seine einem Sozialarbeiter vergleichbare Toleranz, sein amor fati in Bezug auf das Theater – dann hätte ich es einfacher.
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Die Unterscheidung von Proletariat und Subproletariat ist eine m.E. durchaus notwendige. Ein entscheidendes Merkmal des Proletariats ist ja, dass es sich im Arbeitsprozess befindet, während das Subproletariat diesem entzogen ist bzw. sich diesem selbst entzogen hat. Das Proletariat hat eine produktive gesellschaftliche Funktion und, folgt man dem Marxismus, zumindest das Potenzial, die Gesellschaft zu beeinflussen. Das Subproletariat hat beides nicht mehr.
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Was hat denn Schaper so Essentielles gesagt. Er ist wie die Furie über die Inszenierungen hergefallen und hat Sie in Bauch und Boden abgekanzelt. Dass da sicher einiges Beliebiges dabei war, ohne Frage. Aber da bekommt man als Leser des Tagesspiegels doch ein völlig falsches Bild, wenn man hier nicht auch noch ein paar andere Stimmen dazu hört.
Hier noch mal O-Ton Herr Schaper:
"Mit ihrer Agenda 2010 ist die Jury auf dem kleinsten gemeinsten Nenner gelandet. Hier ein schockgefrorener Horváth mit Depressionsopfern, dort die volle Proll-Dröhnung der 'Schmutzigen, Hässlichen und Gemeinen'. Hier die miesen Alltagsmonster, die zwischen 'Liebe und Geld' nicht mehr unterscheiden können, dort die Lemuren aus 'Riesenbutzbach'. Hier die aufgezogenen amerikanischen Androiden aus 'Life and Times – Episode 1', dort die wortschwalligen 'Kontrakte des Kaufmanns' der Elfriede Jelinek. Als ob die Theater in Köln und Wien, Hamburg und Berlin bloß noch die fiese Krise auf dem Spielplan hätten!"
Was wäre denn die Alternative gewesen? Trust und Die dritte Generation fällt ihm ein. Na ja, darauf könnte man sich sicher noch einigen. Aber wieso hat die Wirtschaftskrise auf der Bühne nichts zu suchen. Was wäre denn noch so relevant heute? Man schreit immer, das Theater ist nicht aktuell an den Problemen der Leute dran, es wird immer nur hinterher gehechelt und jetzt hat man ein überaktuelles Stück der Frau Jelinek und es ist wieder nicht das Richtige. Verstehe das wer will, ich jedenfalls nicht. Alles keine echten Menschen, nur Typen etc. etc. Was wäre denn, wenn die Menschen auf der Bühne so echt wären, das es schon dokumentarisch wird, das wäre auch wieder keine Kunst in den Augen des Herrn Schaper. Performance mit echten Menschen à la Marina Abramovic, die sich im Wiener MUMOK an einen Tisch vor die Besucher gesetzt hat, das findet er gut. Wie funktioniert das denn im Theater? Ich kann mich erinnern, dass so etwas Ähnliches in der Schaubühne stattgefunden hat. Stücke für jeden einzeln nach Wunsch zusammengestellt in Kabinen. Pollesch hat ein Gesellschaftsspiel in der Volksbühne organisiert. Wäre das etwas für Herrn Schaper?
Schlecht gespieltes Elend, ja wie sieht denn gut gespieltes aus? Elend ist Elend. Dann kommt er mit Franz Xaver Kroetz, Klasse, aber wo ist die passende Inszenierung dazu, her damit.
Dann hat er ja wenigstens noch 2 Stücke nicht verrissen. Schimmelpfennigs Goldener Drachen bekommt eine lobende Erwähnung, wegen Ansätzen von Leichtigkeit, was auch immer er da leichtes gesehen haben mag und der "Solitär" ist der Kleine Mann, na wer hätte das gedacht. Das Stück mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den man sich einigen kann in diesem Jahrgang, wie schon eine Jury im Fernsehen. Und das ist dann der Volltreffer? Halt mich fest.
So, ich habe fertig. Jetzt können andere auch mal und ich gehe an die frische Luft.
Übrigens hat mir die Jelinek-Inszenierumg, die bei manchem vielleicht eine Überflutung des Wahrnehmungsapparats auslöste, recht gut gefallen. Kein Anrainer zwar, hätte ich zur Aufführung hinlaufen können, ich zog aber den Fernseher vor. (In diesem Wilmersdorfer Viertel wohnen übrigens, anders als IS sich das vorstellt, nicht nur Wohlstandsbürger. Hier ist eher Oma-Charme gefragt - wegen meines manchmal rustikalen Charmes ziehe ich deshalb bald um).
Stemanns Inszenierung war aber eine reine Kollektiv-Leistung, so wie man in den 70er-Jahren davon geträumt hat, etwas gemeinsam zu machen. Die Figuren haben nicht einmal Namen, keine Entwicklung, sie sind Typen, keine Individuen. Es werden in Jelinekscher Kalauer-Manier Thesen aufeinandergetürmt und präsentiert. Wie gesagt, das Ergebnis ist durchaus respektabel, zuweilen sogar ingeniös und selten langweilig. Aber das große schillernde Indviduum, nach dem sich nicht nur Schaper, sondern auch ein Bruno Ganz sehnt, fehlt völlig. Hier triumphiert die in Personen zersplitterte Ökonomie, das Verkünden von (Hiob-)Botschaften verdrängt die Kunst, die Gefahr läuft, zum Transportmittel von Thesen zu werden.
Ein kleines Beispiel, da hier auch über Ostermeier diskutiert wird: ich halte "Nora" mit Anne Tismer in der Hauptrolle für ein Meisterwerk, da hier eindeutig eine individuelle Figurenzeichnung mit allen seelischen Ingredienzen gezeigt wird.
Fakt ist doch, dass die Realitätswahrnehmung an den Fortschritt der technologischen Entwicklung historischer Gesellschaften gekoppelt ist, wodurch sich auch unsere Wahrnehmung "des Menschen" bzw. von Selbst und Welt entscheidend verändert hat. Gegenüber den neuen Bild- und Informationsmedien kann das Theater einen ganz eigenen Blick eröffnen, indem es mit der Spektakelhaftigkeit der (Krisen-) Bilder spielt. Stemann hat das mit seiner Bearbeitung des Jelinek-Textes meines Erachtens auf eine äusserst intelligente Weise umgesetzt. Da musste auch ich meine Position als Zuschauer permanent hinterfragen, wohingegen ich bei Luk Percevals "Kleiner Mann - was nun?" im Grunde bloß eingelullt wurde von "der Liebe", die alles überwindet. Schön wäre das zwar, natürlich, aber eine solch melancholisch-sentimental verkleisternde Sicht auf die historische Gewordenheit unserer Gegenwart und Zukunft wird dann leider doch sehr schnell schal und unglaubwürdig.
Ausserdem wird in meiner Perspektive auf die "Kontrakte des Kaufmanns" der ökonomistische Diskurs mitnichten bloß re-produziert, sondern in eine Differenz zu anderen (auch historischen) Wirklichkeiten gesetzt und damit in seiner mantrahaften Ritualhaftigkeit bzw. Religiosität vorgeführt. In durchaus selbstkritischer Absicht führt Stemann vor, wie sehr auch die Kunst bereits vom Profitdenken durchzogen ist, wie das Prinzip des Branding auch und gerade im Theater funktioniert. Und zwar so: Man markiert das Bühnenprodukt mit einem Image, Werten, Tugenden, Sehnsüchten. Etwa mit Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe, Pflicht usw., das heisst, mit irgendeinem 'Anderen' des Kapitalismus, mit dem Gegenteil von berechnender Geschäftstüchtigkeit. Letztlich aber schmeisst man sich damit doch wieder nur dem bösen Wolf des Kulturkapitalismus an den Hals.
Solche Widersprüche aufzuzeigen, das lässt noch Tage nach einer Aufführung meinen assoziativen Gedankenstrom nicht abreissen. Als die Bühne brannte, kam mir ein erhellendes Zitat von Jean-Luc Godard in den Sinn: "L'art est comme l'incendie, il naît de ce qu'il brûle."
Ich finde das Aquarium auch nicht toll, und ich würde sagen, dass auch Karin Beier das mit Sicherheit nicht affirmiert. Aber das ist realistisch und genau darin ist es politisch. Dass man sich fragt, in welcher Form "die Unterschicht" im Theater heute noch darstellbar ist, ohne dass man in diese anarcho-pseudo-revolutionäre oder in diese pathetische Mitleidsschiene gerät, in diese Behauptung einer authentischen "Begegnung", welche ausserhalb des Theaterraums eben doch nicht wirklich stattfindet.
Und da liegt für mich der Widerspruch begraben. Kann es nicht sein, dass wir "das Elend" auf der Bühne nur sehen wollen, um uns genau darüber wieder in unserer sicheren Position der Nicht-Betroffenen zu bestätigen? Genau das wird durch Karin Beiers Setzung des Glaskastens meines Erachtens hinterfragt. Die wechselseitige Nicht-Verantwortung, jenseits aller gut gemeinten Solidarität. Bei Lösch wird doch auch nur behauptet, dass da eine Gemeinschaft entsteht. Aber vielleicht wird da auch nur Geld gemacht, auf dem Rücken der Ex-Strafgefangenen und Hartz IV-ler. Das ist für mich der tatsächlich wahre oder die Ware Voyeurismus. Könnte das nicht auch sein? Ist nur eine Frage.
Elfriede Jelinek benutzt selten genaue Figuren in ihren Stücken, das macht Sie aber nicht erst seit heute so und was ist auch falsch daran, das was sie behandelt betrifft tatsächlich fast immer alle. Warum das dann nicht auch im Kollektiv darstellen. Wir sind schließlich alle über den Nuckel gezogen worden und nicht nur wer Schrott-Anleien oder Ähnliches gekauft hat, sondern wir haften auch kollektiv für die Folgen. Wir stehen da jemandem gegenüber, den wir meist auch nicht namentlich greifen können, da es ein Bankengebilde ist oder die Politiker, die gesamte Infrastrukturen an dubiosen Finanzmärkten verzockt haben. Diese Ohnmacht stellt das Stück dar und es wird ja zum Schluss auch persönlich, im Einzelschicksal einer Familie, das für diesen Wahnsinn sogar mit dem Leben bezahlen muss, da es bestimmte Leute nicht ertragen können, gesellschaftlich erledigt zu sein.