2. April 2011. Nachts am Brüsseler Platz in Köln. Vor der katholischen Pfarrkirche St. Michael sind Bierbänke aufgebaut. Es sitzt kaum jemand. Man steht. Der Platz ist menschenvoll, lautes, Bier trinkendes, aufgekratztes Volk. Man feiert, dass gefeiert wird. Es braucht keinen weiteren Grund. Es ist Wochenende, es ist die erste warme Nacht. Man hat sich zur knallfröhlichen Demonstration des unbedingten Willens zum Vergnügen eingefunden. Das ist Deutschland im April 2011.

Sie haben "Der Dritte Weg" aus Jena nach Köln geholt. Der Dritte Weg ist Dokumentartheater von Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder, basierend auf Interviews mit Jenenser Demonstranten im Herbst 89, herausgekommen im Jubiläumsjahr 2009.

Die Mitschuldigen

Das spielte in Jena an Originalschauplätzen, es war ein Wiedererinnerungsparcours durch die Stadt, eine Befragung des Damals mit Blick auf das Heute. In Köln beginnt dieses Theater in der Antoniterkirche in der Schildergasse, das ist die Einkaufsstraße. Wir hören Stimmen, die sich der Revolutionswochen besinnen: "Man wollte das ja auch genießen damals." Danach geht's ins Rathaus.

Man hockt um einen Tisch, es wird die Gefühlsgedankengemengelage eines einstigen SED-Studenten ausgebreitet: "Für mich war Kuba und Wladiwostok immer näher als West-Berlin." Im "Rathausglöckchen" im Seidmacherinnengäßchen steht vor einer Frau ein Kölsch, sie erzählt vom Sohn in DDR-U-Haft. An der Kneipenwand ein Flachbildschirm, N24 zeigt eine Fischereidokumentation. Dann wieder im Rathaus, im historischen diesmal. An der Wand hängt ein Gemälde von Gerhard Richter, es zeigt Fritz Schramma in Schlips und Schnauzbart. Schramma war Kölner Oberbürgermeister, als das Archiv einstürzte. Er könne sich nicht entschuldigen, hat er gesagt, dazu müsse es erst einen Schuldigen geben.

Am Panzer der Gegenwart abgeperlt

Ein Kapuzenmann fragt uns hier: "Wie werden heutzutage eigentlich Diktaturen entsorgt? Das ist ein offenes Kapitel." Das ist es. Die meisten im Osten täten so, als seien sie schon immer Widerständler gewesen, als hätten sie nichts mit Partei, Staat und DDR am Hut gehabt. Das war nicht so.

Es ist 1989 nicht das Volk auf die Straße gegangen, es war eine Minderheit. Die meisten waren es, gemessen an der Einwohnerzahl, am 7. Oktober 1989 im sächsischen Plauen: mehr als zwanzig Prozent. In Leipzig, zwei Tage später, waren es 13 Prozent. Aber jeder fünfte Erwachsene in der DDR war parteilich gebunden. Über 90 Prozent der 6- bis 16-Jährigen waren Mitglieder der Pionier- und FDJ-Organisationen. Das sagt der Kapuzenmann nicht, aber das meint er: dieses ostdeutsche Zurechtlügen der eigenen DDR-Vergangenheit. Wie geht heutzutage Erinnerung?

In Köln stellt "Der Dritte Weg" die richtigen Fragen, aber es wirkt, als wäre man im Erinnerungszoo, als streife man durch eine verwunschene Vergangenheitslandschaft. Es ist nicht einfach so, dass sich solches Theater schlecht umpflanzen lässt. Es ist offenbar auch so, dass die damaligen Erfahrungen am Panzer der Gegenwart abperlen, hüben wie drüben, wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen. Darin ist das Land vereint. (Dirk Pilz)

 

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Kommentare  
Heimspielblog 3. Weg: integrationsunwillige Ossis?
Lieber Dirk Pilz,
es ist interessant, dass Ihnen gerade bei einem Besuch im Westen Ihr Artikel vom 12.11.10 in der Berliner Zeitung wieder einfällt, aber gut, dass Sie das hier noch mal aufgreifen. „Das war eben so“ ist ein schöne Floskel, aber auch ein Ausdruck der Anpassung an ein neues System, das auch nie wirklich nach ein Warum gefragt hat. Die meisten Menschen haben genau wie früher im Osten einfach versucht weiter zu leben. Eine Zeit zur Aufarbeitung hat es für den normalen DDR-Bürger nie gegeben. Integriere dich oder lebe in deiner Parallelwelt des ewig Gestrigen. So entstanden die von Ihnen beschriebenen Ostalgiker oder Ostverächter. Die anfängliche Neugier des Westens ist einem ungeduldigem Desinteresse gewichen. Nach 20 Jahren immer noch Probleme mit der Integration? Nicht umsonst werden die Ossis mittlerweile mit integrationsunwilligen Ausländern verglichen. Der einfache Ostbürger kommt in der Erinnerungskultur der vereinten Bundesrepublik nicht vor. Er hat, genau wie Sie es beschreiben, entweder Widerständler zu sein oder war Täter, dazwischen gibt es nichts, da nicht erklärbar. Sie führen Zahlen auf, wie viel Prozent waren in der SED, FDJ etc., wie viele sind 1989 auf die Straße gegangen, damit nehmen sie genau die Haltung der musealen Gedenkstätten- und Erinnerungswissenschaftler ein. Der Widerstand in der DDR ist nicht prozentual hoch zu rechnen, genauso wie der Widerstand gegen die Nazis sich nicht im 20. Juli erschöpft hat. Es ist richtig, dass Sie den Finger in die Wunde legen, indem Sie nach der Haltung des, ich sage mal Otto-Normal-DDR-Bürgers fragen. Nur einfach zu behaupten, dass der Großteil einfach nur mitgemacht hat, ist zu einfach. Wie entstehen, wie halten sich Diktaturen und wie leben Menschen in diesen Systemen, das sind viel diskutierte Fragen, die sich nicht einfach nur mit der These, das alle mitgemacht haben erklären lassen. Genau wie es im Nationalsozialismus nicht nur ein Phänomen des Wegschauens war, muss man in der DDR-Aufarbeitung tiefer einsteigen, um die Grenze zwischen Mitmachen und passivem Dulden bzw. Widerstand ziehen zu können. Den Reaktionen auf Ihren Artikel, konnten Sie entnehmen, dass es sehr wohl einen Widerspruch zwischen offizieller Erinnerungskultur und persönlichem Empfinden der tatsächlich Betroffenen gibt. Diesen Widerspruch gilt es zu diskutieren, lösen wird man ihn wohl nicht können. Aber eine Versuch wäre es wert, leider fehlt dazu wie immer an genügend einflussreichen Vorreitern. Die DDR einzig als ein System von Unrecht zu sehen, ist genau so kontraproduktiv, wie die Zeit des real existierenden Sozialismus zu verklären, leider verhärten sich zusehends die gegensätzlichen Positionen, anstatt sich zu entspannen. Es ist auch kein Politiker wirklich an einer Lösung interessiert, da sich das Thema wahlkampftechnisch immer ausschlachten lässt. Daher bleibt es an jedem Einzelnen für sich zu beantworten, wie er sich in der Zeit der DDR sieht und wie er damit im vereinten Deutschland leben kann. Ein Problem, das sich übrigens nicht nur der Ossi zu stellen hat, denn auch der Wessi ist nicht frei von Opportunismus, den die demokratische und kapitalistische Gesellschaft genauso befördert wie eine diktatorische. Wäre jetzt, da wir uns ja in einem Theater-Forum befinden, noch die Frage zu klären, wie sich die Kunst zu dem Thema stellt, und da sieht es eigentlich genauso finster aus, wie in den sonstigen Bereichen. Sie schreiben: „In bemerkenswerter Einmütigkeit arbeiten die Medien, die Politik und die Menschen damit an einer Erinnerungsenteignung zum Zwecke gelingender Wiedervereinigungsgeschichte: Differenziertes Erinnern, ungemütliches Nachfragen ist dabei weder vorgesehen noch erwünscht.“ Ich möchte dazu mit einer Betrachtung zur Geschichtsschreibung von Walter Benjamin schließen. Es ist nach ihm immer eine Geschichtsschreibung der Sieger. „Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie es immer üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als Kulturgüter.“ Und da sind wohl einige vergessen worden in diesem Triumphzug, die sich nun nicht mehr als Sieger der Geschichte fühlen.
Heimspielblog 3. Weg: die einzige Erinnerung?
Ich frage mich jetzt, ob 1989 als eben so eine Beute anzusehen ist. Immerhin scheint dieses Jahr die einzige Erinnerung an die DDR zu sein. Und es mag sein, dass sich viele Ostdeutsche die Vergangenheit zurecht lügen, aber ich glaube kaum, dass man der Wahrheit mit Statistiken über 6 bis 16-Jährige näherkommt. Wie politisch kann den ein 6-Jähriger sein?
Heimspielblog 3. Weg: Schleef über Uniformierungszwang
@ Dienstleistungswürfel - erstmal: toller Name. Und zweitens: Zustimmung. Seien wir realistisch, wie politisch können 6-Jährige sein? Ab wann beginnt die eigenständige politische Positionierung? Tatsächlich wohl kaum bereits im Grundschulalter. Vielmehr beginnt die Abgrenzung bzw. herkunftskritische Identitätsbildung des Heranwachsenden gemeinhin erst ab dem Zeitpunkt der Pubertät. Kritik am "Uniformierungswahn" der Elterngeneration lässt sich beispielsweise bei Einar Schleef finden:
"Für mich unverständlich bleibt, warum meine Mutter, mit ihr viele Frauen, so an Uniformen hing, an der Naziuniform, möchte man vorschnell sagen, aber das stimmt nur bedingt, die meisten hingen an der Uniformierung, die zunächst keinen Unterschied zwischen Thälmann, Hitler und Hölz machte."
(aus: "Droge, Faust, Parsifal")
Heimspielblog 3. Weg: Wofür sind Jena und Weimar bekannt?
Aber was ist dann der "Uniformierungswahn" heute? Das alle so tun müssen als seien Sie Widerständler gewesen im Herbst 1989...davor, danach, egal...

Auch wenn ich "Der Dritte Weg" nicht gesehen habe, verwundert es mich ein bisschen, dass jemand den Widerstand in Jena auf der Straße sucht. Sind die Städte Jena oder auch Weimar wirklich nur für ihre demonstrierende Einwohnerschaft bekannt.
Heimspielblog 3. Weg: die Draufsetzer und Wolf-Skins
@ 4
"Sind die Städte Jena oder auch Weimar wirklich nur für ihre demonstrierende Einwohnerschaft bekannt." ?

Glücklicherweise: Nein !.

"Ach, wie ist das peinlich": fast der Kernsatz der heutigen Uniform, das beharrliche Warten auf den Versprecher des Gegenüber,
daß da noch jemand "blöder" ist als man selbst: die Grundlage der
Mario Barths und Der TV-Totals dieser Welt: die Draufsetzer.
Herde-Masse-Rudel: das "Jack-Wolfskin"-Label als Parteiabzeichnen gesehen/verstanden,
luftige Jacken, in denen trockene Besserwisser stecken, die sich für "Citoyen du monde" halten, Betulichkeit ausprägend in tappenden Bewegungen, die alles richtig zu machen haben, es nach eigener Anschauung ganz ehrlich nicht erreichen-also, umsomehr für jedermann qua Anstrengung in Geltung erreicht haben müssen: Aggressive Betulichkeit. Problembären und Wolf-Skins !!
Heimspiel 3. Weg: Klischee evangelischer Widerstand
Stimmt das denn? Das Klischee des typischen DDR-Widerständlers besagt anscheinend, dass dieser aus dem evangelischen Kirchenkreis stammen muss. Oder: Die mit Gott (und der Natur) im Bunde stehen, wussten es immer schon besser. Oh Gott. Vielleicht wäre es ratsamer, den politischen Widerstand mal wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ökologie ist gut, sollte aber nicht zum (neuen) Religionsersatz mutieren.
Heimspiel 3. Weg: über Zugehörigkeitsriten
Wofür Jena und Weimar noch bekannt sind, ist Kunst, Kultur, Bildung, Wissenschaft, sprich die Aufklärung. Aber zum Uniformierungswahn, interessante These übrigens. Wie er im Faschismus und Stalinismus ausgesehen hat, ist bekannt. Klar durchritualisierte Initiationsriten, wie Fackelaufmärsche, Weiheveranstaltungen, etc. unter Zuhilfenahme mythisch bzw. ideologisch und traditionell begründeter Rassen- oder Klassenzugehörigkeiten. Das war immer auch eine Ausgrenzung zu anders Denkenden und Aussehenden, Solidarität gab es nur innerhalb der jeweiligen Gruppe. Darüber kann auch der die internationale Solidarität propagierende Kommunismus nicht hinwegtäuschen.
Warum hat das im 3. Reich und im Ostblock funktioniert, heute aber immer weniger? Oder funktioniert es jetzt anders? Was ist an die Stelle der Riten getreten, was gab es vor diesen Massenphänomenen für Zugehörigkeitsriten? Meist religiöse natürlich, wird man sagen, oder der Fortschrittsglaube, Glauben an die Vernunft des Menschen, sprich die Aufklärung selbst als Ritus. „Aufklärung ist totalitär“ Adorno. Uniformer Wertewahn, alles wird kanonisiert und somit in den Stand der Allgemeingültigkeit erhoben, dem Volk wird so das Denken erleichtert oder einfach abgenommen. Gib mir ein Leitbild, der Mensch braucht Orientierungshilfen, sonst findet er sich im Leben nicht mehr zurecht. Nach der Wende ist das vielen so gegangen, anstatt über die Vergangenheit nachzudenken, wurde nach neuen Orientierungen gesucht. Und derer gab es jetzt mehr als man sich zu träumen wagte. Zu aller erst den Konsum, eine Art neues Ritual, ein neuer Götze, den es leicht fiel anzubeten, konsumiere und du bist, Dazugehörigkeit durch Labelzwang und Statussymbole. Nach der ersten Euphorie dann schnell die Ernüchterung, aber auch da gibt es Abhilfe, Banken suggerieren dir: Lebe auf Pump. Wenn auch das schief geht, zumindest die Bank wird aufgefangen. Nun die Trendwende, nach Japan hin zum Ökowahn, eine neue Uniformierung. Die Industrie sitzt schon in den Startlöchern und Angela Merkel und Guido Westerwelle, oder wie der neue liberale Vorbeter heißen wird, werden sich auch an die Spitze dieser Bewegung setzen. Was das alles mit dem Leben in einer Diktatur zu tun hat? Nun, man hat in der Demokratie die Qual der Wahl, in der Diktatur ist das Ergebnis schon vorgegeben. Der Mensch ist bequem, gib ihm eine Wahl und er wird sich für das falsche entscheiden. Aber: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ wieder Adorno
Was ich damit sagen will, der Mensch ist nach wie vor für alles selbst verantwortlich, was er tut, er kann sich nicht auf Gruppenzwang herausreden. Das haben viele noch nicht verstanden, dabei ist es in der Demokratie nicht anders als in der Diktatur, nur ist es dort schwieriger ein Mensch zu bleiben. Es gibt nur ja oder nein, nie nur vielleicht, vielleicht heißt eigentlich schon ja. Ist deshalb jeder, der sich in eine Nische verzogen hat, also ein alternatives Leben gelebt hat, was durchaus möglich war, oder der, der nur pro Forma kooperiert hat bereits mitschuldig? Was ist mit denen, die in gutem Glauben gehandelt haben und sich persönlich nicht mit Schuld beladen haben? Man kann diese nicht alle über einen Kamm scheren. Die gesamtdeutsche Geschichtsschreibung kennt keine Differenzierungen und da nicht alle schuldig sein können, sind alle Opfer, was einem Paradox gleicht. Hier beißt sich also die Katze in den Schwanz und wir werden wieder auf Guido Knopp warten müssen, der uns spätestens in 20 Jahren genau sagen wird, wie es gewesen ist.
Heimspiel 3. Weg: Bitte um Aufklärung
Liebe Redaktion,

eigentlich wollte ich nur unter meinem Pseudonym "Mone" einen Kommentar in Ihrem Blog schreiben. Aber auf einmal kommt ein "Dienstleistungszwang" und erzählt etwas von Mario Barth, Jack Wolfskin und Problembären. Also ich bin jetzt einfach überfordert...können Sie mich aufklären?

Vielen Dank und schöne Grüße

(Anm. der Redaktion: Nein, da können wir Sie leider nicht aufklären. wb)
Heimspiel 3. Weg: Schleef über Take That
@ Stefan: Stichwort "Zugehörigkeitsriten" heute. Dazu passt (unbedingt kritisch-ironisch zu betrachten!) wiederum ein Auszug aus Schleefs "Droge Faust Parsifal". Thema: Chor-Pest oder TAKE THAT (die sich 1995 getrennt und 2010 wiedervereint haben):

"Wenn sich die Anhänger von TAKE THAT auf dem Gendarmenmarkt vor dem Hotel versammeln, in dem die Truppe bei Berlingastspielen wohnte, [...] dann richtet der Senat von Berlin Krisentelefone ein, da sich europaweit die Anhänger umbringen wollen, Wohnungen, Autos, Straßen zertrümmern, um das Auseinanderbrechen der Truppe, das sich durch das Ausscheiden von Robbie abzeichnet, rückgängig zu machen. Erwachsene glotzen kopfschüttelnd auf die heulende Masse, den 'Dreck', wie sie die Anhänger bezeichnen, retten sich in Ausflüchte, das sei alles organisierter Mist, nur Werbekampagne, nur Geldverdienen.
Den Fan-Chor der TAKE THAT-Anhänger bestimmt ein Chor-Riß, das Auseinanderbrechen ihrer Idol-Gruppe. Der Individualisierungsversuch einer einzigen Person löst europaweit Hysterie aus. Besser könnte man die antike Konstellation der Chor-Sprengung nicht beschreiben, man muß sich nur aufs Fahrrad setzen und durch Berlin fahren. [...] Nur der Chor ist wahr, so Kafka, das Individuum lügt. Denn das Individuum steht nicht zu seiner Krankheit. Es versucht diese zu verdrängen, zu vergessen, laboriert heimlich an ihr, kämpft gegen sie, doch die Krankkeit fordert ihren Tribut, zerstört die Figur von innen. Diese Zersetzung kontert die Einzelfigur durch ihre Erscheinung, sie muß sich für jede Begegnung mit einer anderen herrichten, um sie zu täuschen. Die Zusammentreffenden täuschen sich gegenseitig. Das Chormitglied erkennt sich jedoch hier an der Träne, der verschmierten Wimperntusche, den zerrissenen Klamotten, an TAKE THAT. Nur für Beerdigungen ist uns dieser Kanon noch gestattet. Die neue Frauenbewegung propagiert einen weinenden Mann, einen Mann, der nicht bloß hart ist, sondern weinen kann."
Heimspiel 3. Weg: Thüringer sprechen leise
So, wieder was dazugelernt: Wenn man sich hinter einem Pseudonym verstecken will und dann alle anderen "Zwang" heißen, dann drehst du irgendwann durch. Deshalb bin ich jetzt so frei...

@Stefan

Jena und Weimar waren auch zu DDR-Zeiten Universitätsstädte und möglicherweise waren dort gar nicht alle so überzeugte SED-Anhänger...Nach Thüringen zu fahren und die Wahrheit bei Demonstranten zu suchen, macht übrigens nicht all zu viel Sinn. Ich glaube Thüringer können nicht sehr gut demonstrieren, die sprechen viel zu leise.
Heimspiel 3. Weg: die Rudolstädter Orchesterwucht
@ Sabine
Also ich fahre öfter nach Thüringen und kann das eigentlich nicht bestätigen. Die Thüringer sind ein sehr geselliges Völkchen und gar nicht so leise, wie Sie meinen. Man kann das sehr gut an den Gastspielen des Rudolstädter Theaters am Gorki erkennen. Wo in Berlin ein Grüppchen „Aufhören!, Schluss jetzt! 12 letzte Lieder“ skandiert, stellt sich dort ein ganzes Orchester auf die Bühne und kämpft mit Beethoven, Bach, Bizet und Gloria Gaynor verzweifelt ums Überleben. Das wird allerdings in beiden Fällen keine Take-That-Fanchöre zum Weinen bringen. Es sei denn, Robbie Williams persönlich singt „I Will Survive“.
„Nur für Beerdigungen ist uns dieser Kanon noch gestattet“, na ja, da ist was dran, man kommt zumindest aus dem Beerdingen gar nicht mehr raus.
Wenn ich mal Thüringen mit Cottbus vergleiche, da sind am 7.Oktober 1989 noch alle brav mit roter Fahne zum Republiksumzug gegangen, die ersten Wir-sind-das-Volk-Rufer habe ich dort erst gesehen, als die CDU schwarz-rot-goldene Fahnen vor der Oberkirche verteilt hat. Jetzt trifft man sich wieder zu großen Karnevalsumzügen, die Uniformierung wechselt, der Zwang dazu bleibt.
Heimspiel 3. Weg: politische Boygroup
@ Rollenzwang
Übrigens geht nach der Wiedervereinigung von Take That auch in der Politik der Trend zum Chor. Die Frankfurter Rundschau titelt „Die Boygroup der FDP“ in einem Artikel zum Auftritt von SchatziMarkakis und CoolBicki gestern bei Beckmann. Im Gespann mit den Lindner-Rösler-Milchbuben proben die jetzt wahrscheinlich die gemeinsame Westerwelle. Frei nach dem Motto „Everything Changes“ und einem neuen „mitfühlenden Liberalismus“ löst sich die Partei der Individualisten vom „Egotrip“ in der Führungsspitze und taut jetzt die „eiskalte“ Kanzlerin mit Herz-Schmerz-Balladen a la „How Deep Is Your Love“ und „Could It Be Magic“ auf. Na wenn das mal kein neuer „Igitt-Faktor“ wird.

(Liebe Diskutanten, Ihre Take-That-Kenntnis in allen Ehren, aber halten Sie Ihre Beiträge bitte an der Sache dieses Threads orientiert. Die FDP ist's nicht. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow, Redaktion)
Heimspiel 3. Weg: alltägliche Uniformierungsanmutung
@ Mone/Sabine

Liebe M/S !
"Was ist dann der "Uniformierungswahn" heute ?", fragten Sie (wenn ich jetzt nicht wieder annehmen soll, daß hier mehrere Simones und/oder Sabines schreiben) und setzten hinzu (ich bleibe bei Ihrer
Schreibweise) "Das alle so tun müssen, als seien sie Widerständler
gewesen ... ."

Nun, um auf die Produktion "Der 3. Weg" zurückzukommen, wie ich sie aus der Entfernung bislang auffasse, es scheint aus ihr doch gerade keineswegs hervorzugehen, daß sich dort nur Leute getummelt haben bzw. anläßlich der Erneuerung der Produktion tummeln, die sich selbst zu Widerständlern stilisieren, und eigentlich hätte ich, statt mir einen Ausflug in lyrische Angekränkeltheiten zu gönnen (die allerdings aus meiner Erfahrungswelt stammen, ich bin halt viel im "Freien", eine Formulierung die Handke gerne befragt ...)
sogleich darauf eingehen sollen: Woher haben Sie das ?
Meine "Wolf-Skins" und "Problembären" bringe ich in den eingehenden Sätzen des Pilz-Textes ("Man hat sich zur knallfröhlichen...") und dem Schluß desselben ("Panzer der Gegenwart" - "abperlen") so spielend unter, daß ich es hier garnicht sonderlich versuchen muß.
Selbst ein Begriff wie "abperlen" scheint mir da offene Türen einzurennen, denn genau dafür sind diese Jacken gut, daß es an Ihnen abperlt, daß man aber dabei gleichsam noch das Fellwesen bleibt, das man im innersten Kämmerchen pflegt wie ehedem sein Tamacochi oder wie das Ding so hieß, dafür steht die Pranke, nicht des Bären, des Wolfes: aber die Panzerung (siehe dazu Wilhelm Reich) tut das Ihrige und aus Wolf wird Bär etcpp. .
Aber, nicht daß Sie denken, ich wollte Sie jetzt nachträglich aufklären; ich versuchte lediglich, einmal ein karikierendes Beispiel heutiger alltäglicher Uniformierungsanmutung zu entwerfen und zugleich mit einem künstlerischen Kniff derlei Statistiken auf ihren Fleischgehalt in Praxi zu befragen: Immerhin, auch 20 % bei
"der Partei" (welcher auch immer) - das ist nicht ohne, da brauche ich nicht noch Kinder und Jugendliche zu bemühen: wenn später die Zahlen in der Partei so frappant kleiner waren als in den Jugendorganisationen könnte man ja fast auf den Gedanken kommen, diese hätten einem den Parteieeintritt erfolgreich auserzogen ...:
aber, Widerstand wäre wohl auch das nicht !!)-, das macht schon etwas her im Stadtbild: mir kam es so vor, als sähe ich ungefähr so häufig jenes "Tatzenabzeichen", nicht etwa dasjenige des Tazlesers (obgleich, vielleicht ist der der wolfskinaffinste unter den irgendwie linken Lesern), als ich mich gestern -schlechtgelaunt, wohl wahr- am Alten Markt in Kiel aufhielt, freilich hatte ich bei "Nordsee" meinen Kaffee und "Nordsee" liegt hier unmittelbar neben dem "Wolfskin"-Shop , also genau gesagt zwischen der Nicolaikirche, dem Wolfskinshop und der Abrißruine des Kaufhauses "Karstadt", welche derzeit den Publikumsverkehr zum "Alten Markt" einigermaßen zurückkehren läßt: und immer wieder wird da wild assoziert- die Ruine mit "Krieg", die Abrißbagger mit
"Dinosaurier", am Absperrzaun spielten sogar Kinder (als alles heil war gewissermaßen, spielten dort nie welche ...).

Aber, was haben Sie nun wieder mit den Thüringern ???

Lesen Sie Shakespeare, spüren Sie Schlegels Übersetzungen nach, und lesen Sie von mir aus dann eine von Tragelehn hinterher, kommen Sie aber vielleicht auf Schlegels Jenenser "Jugend" zurück,
wenn Sie schon den Blick durch die Brille der Stadt verweigern, gönnen Sie sich "Jena Paradies" und das nächste Spiel von "Schott",
heißt auch "Paradies" dort nicht umsonst, läßt sich hier gut "wandern", und "Wanderlust" heißen in diesem Lande die öffentlich wohl unterstützten Blogs: Ja, "Wanderlust" wünsche ich diesem Land auch in Sachen "Blick auf die gemeinsame Geschichte hinter-mittendrin-danach": einen verwirrenderen Eindruck als ein Ausdruck wie "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nationen" wohl zwang(!)släufig machen muß wird "man" hier auch kaum empfangen.
Für gemeinsame Geschichtsschreibung und gegenseitige Verständnisgewinnung muß ein Gespür gewiß erst entwickelt werden- das geht nicht so dienstleistungsgewerblich vor wie manch ein eiliger Leser im Gefängnis seiner vorgefaßten Überzeugungen es gerne sähe, darauf beliebte ich hinzuweisen: Sie werden es sonst nicht erjagen..
Heimspielblog 3. Weg: das Recht auf die Sehnsucht des Lebens
Es ist so unglaublich traurig und passt hier auch nicht wirklich hin, denn das soziale und politische Umfeld ist ein völlig anderes. Dennoch möchte ich meine Aussage, dass bereits 6-Jährige nicht politisiert bzw. ideologisch doktriniert werden könnten, korrigieren. Wer den Film "Arnas Kinder" von Juliano Mer Khamis kennt, wird wissen, was ich meine. Lasst den Kindern ihre Sehnsucht des Lebens nach sich selbst, frei von Rachegefühlen, Wut, Aggression und Gewalt. Er fehlt.
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