Six Personnages en quête d'auteur - Stéphane Braunschweig inszeniert den Pirandello-Klassiker beim Festival d'Avignon
Pathos mit Pirandello
von Andreas Klaeui
Avignon, 9. Juli 2012. Stéphane Braunschweigs Pirandello fängt an wie eine zeitgenössische Theater-Soap: im Probenraum, ein Lesetisch, ein Sofa, eine Bühne. Ein Regisseur mit schlechter Laune, weil man mal wieder nirgendwo hingekommen ist bei der Probe gestern, ein Schauspieler, der wieder mal zu spät kommt, eine Kollegin, die sich "im Begehren eines anderen" fühlen muss, offensichtlich des Regisseurs. Ein Kollege, der immer mal gern gewusst hätte, was eine psychologische "Figur" überhaupt sein soll.
Der Regisseur betont kokett, er rieche möglicherweise nach Mottenkugeln, aber Theater habe halt schon was mit lebendigen Figuren zu tun. Sie treten unverzüglich auf in Pirandellos Stück, nämlich die vom Autor halbfertig geschriebenen sechs Personen mit ihrem sizilianischen "Tatort". Zwanziger-Jahre-Deklamation, Pathos pur ist es, was sie in diesen zögernd postdramatischen Raum hineintragen.
Was löst es aus? Nichts. Sie wirkten ein wenig wie Pirandello, bemerkt der Regisseur; eher wie Facebook, meint ein Schauspieler – weder Pirandello noch Facebook ist aber zu sehen, sondern eine durch und durch konventionelle Aufführung des Stücks, mal unterhaltsamer, meist ärgerlicher geratenes Illusionstheater.
Es riecht nach Mottenkugeln.
Six Personnages en quête d'auteur / Sechs Personen suchen einen Autor
von Luigi Pirandello
Textfassung, Regie und Bühnenbild: Stéphane Braunschweig, Kostüme: Thibault Vancraenenbroeck, Licht: Marion Hewlett, Video: Sébastien Marrey.
Mit: Elsa Bouchain, Christophe Brault, Caroline Chaniolleau, Claude Duparfait, Philippe Girard, Anthony Jeanne, Maud Le Grévellec, Anne-Laure Tondu, Manuel Vallade, Emmanuel Vérité.
www.festival-avignon.com
Mehr zu Stéphane Braunschweig: Unlängst stellte Ute Nyssen den Intendanten des Pariser Théâtre de la Colline in einem Theaterbrief ausführlich vor.
Über "Sechs Personen suchen einen Autor", schreibt Joseph Hanimann in der Süddeutschen Zeitung (12.7.2012): "Braunschweig hat Pirandellos aufs Bürgertheater der zwanziger Jahre zugeschnittenes Gedankenspiel klug auf unsere Gegenwart umgeschrieben. Am Lesetisch mühen die Schauspieler sich mit dem 'postdramatischen Theater' ab. Sie wollen Realität, Unmittelbarkeit, wollen sich selbst einbringen", da aber platzen die sechs Personen Pirandellos mit ihrem unfertigen, heillos verwickelten Dramenknäuel herein: Vater vereinsamt, Mutter vergrämt, Stieftochter vergewaltigt, Sohn verfinstert, kleiner Bruder erschossen, kleine Schwester ertrunken. "Braunschweig hat seine Allegorie von Textflucht und Autorenphobie im Gegenwartstheater auf den Spuren Pirandellos zu einem subtilen Schattenspiel mit unserer individuellen Selbstprojektion ausgebaut." So richtig begeistert ist Hanimann dennoch nicht von dem Abend, und das Avignon-Programm bilanziert er im Zwischenbericht so: "Immerfort knistern in Avignon mögliche Dramen, doch es bleibt beim Knistern."
Kurz würdigt auch Johannes Wetzel in der Welt (12.7.2012) Braunschweigs Pirandello-Adaptation. Sie leiste der Postdramatik Widerstand. "Seine Inszenierung ist ein komplexes Spiel um Fiktion und Wirklichkeit" und behandle die Fragen, die sich der Regisseur stelle: "Ob es noch Sinn hat, von Texten auszugehen, mit Rollen, mit Fiktion, und nicht wie alle zu glauben, dass alles 'Material' ist, und dass die Vorstellungswelt des Autors nicht wichtiger ist als die der Schauspieler, des Regisseurs - oder selbst der Zuschauer mit allem, was ihnen so durch den Kopf geht!"
"Braunschweigs Ansinnen, Luigi Pirandellos selten gespielten Klassiker 'Sechs Personen suchen einen Autor' durch das Versetzen der Handlung in die Jetztzeit zu aktualisieren, scheitert", schreibt Marc Zitzmann in einer Avignon-Zwischenbilanz in der Neuen Zürcher Zeitung (20.7.2012). Der beabsichtigte Naturalismus wirke unnatürlich, "das Stück paradoxerweise weniger aktuell, als wenn der Plot in der Entstehungszeit belassen worden wäre".
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