Stillbach oder die Sehnsucht - In Bozen bringt Petra Luisa Meyer den Roman von Sabine Gruber zur Uraufführung
Sehnsucht nach einer Geschichte
von Martin Jost
Bozen, 21. Februar 2015. Sehnsüchte gibt es viele in "Stillbach oder Die Sehnsucht" nach Sabine Grubers Roman: Sehnsucht nach Heimat, Liebe, Gerechtigkeit. Vor allem aber die Sehnsucht nach einer greifbaren Geschichte, die rund und abgeschlossen und wahr ist. Diese Sehnsucht bleibt – danke nochmal, Postmoderne! – für immer unerfüllt. "Stillbach" lässt es uns spüren.
Ein Manuskript, das Angst macht
Für Emma Manente, die allein in ihrem alten Hotel in Rom lebt, löst sich die Erinnerung auf. Sie ist senil, erkennt ihren eigenen Sohn nur manchmal und macht im Kopf Zeitsprünge ins Jahr 1978. Zu ihr kommt Clara aus Südtirol. Sie will wissen, ob die Dinge wirklich passiert sind, die sie in einem Roman-Manuskript entdeckt hat, beim Auflösen des Haushalts ihrer besten Freundin Ines. Emmas Sohn Francesco macht Ines' Manuskript große Angst: Wenn es diesen Johann wirklich gegeben hat, der in Ines' Erzählung der erste Verlobte seiner Mutter war, dann ist er, der überzeugte Linke, vielleicht der Sohn eines Nazis und nicht eines Italieners. "Ihre Mutter hat ein Recht auf ihre eigene Geschichte", wirft Clara Francesco an den Kopf, ohne zu wissen, ob die aufgeschriebene Geschichte wirklich die von Francescos Mutter ist.
Clara geht das Thema gerade so nahe, weil sie mit Ines die Sachwalterin ihrer eigenen Erinnerungen verloren zu haben glaubt. Und Paul ist auch keine Hilfe: Der Historiker und Journalist ist ein wandelndes Lexikon, wenn es um die faschistische Geschichte Italiens geht, aber ob er wirklich 1978 der Liebhaber von Ines war, ist ihm entfallen. In der Gegenwart des Stücks, dem Jahr 2010, verliebt er sich in Clara, die er auf Fotos ohnehin nicht von Ines unterscheiden kann. Gerti Drassl spielt als einzige Doppelbesetzung abwechselnd Ines 1978 und Clara 2010.
Roman im Roman im Stück
In der Regel wechselt sie das Kostüm. Eine befriedigende Trennung zwischen Erinnerung und Gegenwart, zwischen Geschehenem und Literarischem ist aber gerade nicht angelegt im Text von Andreas Jungwirth. Damit bleibt er Grubers Vorlage mit ihrem Roman im Roman im doppelten Sinne treu: Denn die so gut wie vollständige Übernahme der Motive und Episoden aus dem Buch macht das Stück auch bei genauem Hinsehen unentwirrbar.
Petra Luisa Meyers Inszenierung verstärkt die Vermischung von Erzähltem und Geschehenem noch. Was Clara und Paul in Ines' Nachlass lesen, spielt sich gleichzeitig als Rückblende im Hintergrund ab. Stefan Brandtmayrs Bühnenbild ist ein versifftes Hotel-Foyer mit Fünfzigerjahre-Möbeln und Siebzigerjahre-Tapeten. Eine Etage darüber öffnen sich die Läden zu vier kleinen Guckkästen und erlauben Einblicke in Personal- und Gästezimmer.
Der Sehnsuchtsort existiert nicht
Die drei Frauen in der Fremde stammen aus dem Südtiroler Dorf Stillbach. Stillbach ist ein Platzhalter, eine Erfindung Sabine Grubers. Im Gegensatz zu Stillbach sind die historischen Ereignisse echt, in die sie ihre Figuren eingebunden hat: Das Sprengstoff-Attentat in der Via Rasella, das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen, italienischer Faschismus, das Altwerden von Nazi-Kriegsverbrechern, die Optionsregelung, die Grenze zwischen Tätern und Opfern, deutsche und italienische Identität sowie das Schicksal von Südtiroler Arbeitsmigrantinnen in Rom und anderswo in Italien.
Es klingt paradox, aber die didaktischen Monologe, die in Sabine Grubers Roman oft wie schlecht verpackte Geschichtsstunden wirken, wirken auf dem Theater viel natürlicher. Zum Teil deshalb, weil Harald Windisch einen Paul gibt, der alles um sich herum vergisst, wenn er Jahreszahlen abspult und in den Tonfall eines Schülerreferats verfällt. Er ist halt ein Geschichtsbesessener.
Gleichzeitig wird die obige Themenliste zu Blindtext. Südtiroler Geschichte ist Füllmaterial für Dialoge. Thema des Stückes ist sie nicht. Das Premierenpublikum nimmt bereitwillig auf, was referiert wird, aber wie politisch gekitzelt wirkt es an keiner Stelle.
Nur wer die Sehnsucht kennt
Thema des Stückes ist die Sehnsucht, nicht nach Stillbach, also der Südtiroler Heimat, sondern nach Liebe und nach einer abgeschlossenen Geschichte. Krista Posch spielt souverän und voller Energie drei verschiedene Emmas: Emma, die patente Hotelchefin; Emma, die sich wie ein Backfisch in den Stammgast Hermann Steg verliebt und, wenn sie betrunken genug ist, in ihren Heimatdialekt verrutscht; und schließlich Emma, die dement und gebrechlich ist, aber immer noch einen großen Funken patente Chefin in sich hat.
Diese alte Emma rahmt das Stück. Sie mag ein Recht auf ihre eigene Geschichte haben, aber diese Geschichte ist nur so wahr wie ihre schwindenden Erinnerungen und bleibt – reine Sehnsucht.
Stillbach oder Die Sehnsucht
nach dem Roman von Sabine Gruber
Fassung von Andreas Jungwirth
Regie: Petra Luisa Meyer. Bühne: Stefan Brandtmayr. Kostüme: Cornelia Kraske. Licht: Micha Beyermann. Dramaturgie: Ina Tartler. Regieassistenz: Florian Pilz. Ausstattungsassistenz: Lilith-Marie Cremer.
Mit: Krista Posch, Sami Loris, Gerti Drassl, Harald Windisch, Florentin Groll, Christina Lasta, Inge Maux, Andreas Mittermeier, Astrid Hornung.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.theater-bozen.it
Offenlegung: Die Vereinigten Bühnen Bozen ermöglichten dem Rezensenten durch Übernahme der Reise- und Übernachtungsspesen die Besprechung von "Stillbach oder Die Sehnsucht".
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