Die Schmonzette ist zu stark karamellisiert

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 4. Mai 2015. "Atlas der abgelegenen Inseln". Das Lokal ist schummrig und verraucht. Der erste Gang ist die Treppe hoch, denn die Gäste sollen sich auf mehrere Stockwerke verteilen. Sobald das geschehen ist, backen alle zusammen als nachträgliches Entrée ein akustisches Blätterteigteilchen, das in den hohen Fluren aufs schönste hallt und echot.

Die Servicekräfte sind klassisch gekleidet und unzuverlässig. Sie kommen und gehen hektisch und raunen bei jedem Vorbei-Huschen dienstfertig: "Ich bin gleich wieder da!" Manchmal stellen sie zwischendurch etwas ab, zum Beispiel eine kleine Harmonie aus sanften Paukenschlägen oder eine dezente Serenade, auf drei Geigen dahinpizzicatiert, grundiert von Posaunenhupern.

Primo: Tagliatelle aus Anekdotenschrot

Bevor es zu schaumig wird, folgen als Primo: Tagliatelle aus Anekdotenschrot. Sie sind lang und schwierig aufzugabeln. Außerdem fehlt eine Sauce. Wie um das zu kompensieren, reichen die Servicekräfte daraufhin eine lange Folge feingeschnitzter, hochdekorativer Exotismen.

atlas2 560 karl bernd karwasz uVerrauchtes Menü im Treppenhaus  © Karl-Bernd Karwasz

Es gibt das Versprechen auf eine Nordische Seekuh, aber es wird nicht eingelöst. Überhaupt scheint man in diesem Hause auf die undeftigen Zwischengänge spezialisiert zu sein. Auch wird das Hauptaugenmerk eher auf die angemessene Servier-Temperatur als auf die raffinierte Würzung gelegt.

Dessert: Flageolett-Schmonzette

Ein mehrgängiges Dessert wird eingeleitet von Geigen, die ins Flageolett schmelzen, bevor sie abkratzen. Den Servicekräften gefriert indes das Lächeln in den ein wenig zu stark geschminkten Gesichtern. Die Schmonzette ist zu stark karamellisiert.

Was die Getränke angeht, so wird das Wasser live von Eisblöcken abgeschmolzen – ein bisschen viel Theater, das vielleicht von den fehlenden Gewürzen ablenken soll.

Als das Licht angeht und ein Rausschmeißer in Pagenuniform als Beispiel die Treppe hinab vorangeht, merken meine Begleitung und ich, dass uns irgendetwas zu Kopfe gestiegen ist und selbiger morgen schwer sein könnte. Eine Empfehlung kann deshalb nur zusammen mit einer Warnung ausgesprochen werden.

 

Zur Nachtkritik der Premiere von Atlas der abgelegenen Inseln in Hannover (9/2014)

Alles zum Theatertreffen 2015 gesammelt in der (mitwachsenden) Theatertreffen-Übersicht  

Kommentare  
tt15, Atlas der abgelegenen Inseln: ungemütlich
Frau Diesselhorst bemüht sich um die Nachfolge von Gerhard Stadelmaier. Wenn sie nicht ihr brandaktuelles politisches Theater - gerne mit Blackfacing-Widerspruch - serviert bekommt, wird sie ungemütlich. Eigentlich habe ich nichts gegen Meinung einzuwenden, aber vielleicht sollte man zu Thom Luz dann doch jemand anderen schicken.
tt15, Atlas der abgelegenen Inseln: wahre Sprache
Klänge, Musik, Geschichten, Figuren, Zuschauer: Atlas der abgelegenen Inseln ist ein Abend des Abwesenden, des Verdrängten, dessen, was fehlt, wofür Sehnsucht nur ein Symptom ist. Das Publikum ist auf drei Stockwerken verteilt, jede Nähe ist Illusion und wird fortwährend konterkariert durch herauf- und herabschwebende Fetzen weit entfernter Lebensversuche. Das Treppenhaus ist Durchgangs- wie Warteraum, ein Unort vorgetäuschter Bewegung, die sich doch stets nur wiederholen kann. Hier entfaltet sich eine vielstimmige und vielgewichtige Poesie aus Klang und Wort, ein Spiel von Zeit und Raum, das den Zuschauer bald selbst in eine Art schwebenden Zwischenzustand versetzt – zwischen den Welten, Zeiten, Leben. Der Abend erzählt von Gestrandeten, freiwilligen wie unfreiwilligen, und macht uns für 80 Minuten selbst zu solchen, die wir vielleicht ohnehin sind, zu beschäftigt mit unseren Illusionsgebäuden, um uns wirklich wahrzunehmen. Er plädoyiert nicht für ein “Zurück zur Natur”, romantische Utopien sind ihm nicht fremd, aber eben nur als scheitern müssende zu denken. Stattdessen ermuntert er zum Innehalten, zum Zuhören, zum Wahrnehmen dessen, was wir sonst in endlosen Sinnbehauptungskaskaden übertönen. Ist dieses Klopfen am Fenster, sind diese Schritte nackter Füße auf ebenso nacktem Stein nicht unsere wahre Sprache? Atlas der abgelegenen Inseln gibt keine Antworten, er stellt nicht einmal fragen. Alles, was er macht, ist dem Zuschauer Raum – und Zeit – zu geben, dies selbst zu tun. Und das ist schon unendlich viel.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/05/06/wir-gestrandeten/
tt15, Atlas der abgelegenen Inseln: hohler Zahn?
Ich verstehe diese Art von "poetischer" Gastrokritik auch nicht. Muss ich mich vorher schon sattessen, oder sollte ich Hunger mitbringen? Also nur für den hohlen Zahn scheint es ja nicht zu sein.
tt15, Atlas der abgelegenen Inseln: Hurz
Dieser Abend ist schlicht Hurz.
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