Es begab sich aber in dieser Zeit

von Andreas Wilink

16. Dezember 2020. Auf ungefähr gleicher Höhe von Matera, nur zur anderen Seite des Stiefels nach Salerno zum Tyrrhenischen Meer hin, liegt Eboli. Die Stadt ist sprichwörtlich geworden durch den Titel von Carlo Levis Roman und Francesco Rosis Verfilmung, wonach Christus eben nur bis Eboli kam. Levi zieht diese Grenze aus seiner Perspektive vom Ort Grassano aus, wohin er von den Faschisten verbannt war. Grassano indes gehört zur Provinz Matera. Levi schreibt: "Wir gelten nicht als Menschen, sondern als Tiere", und weiter, "denn wir müssen uns der Welt der Christen jenseits unseres Horizontes unterwerfen".

Eine heillose Geschichte

Ein Hügel von Matera. Die uralten Höhlensiedlungen der steil aufsteigenden süditalienischen Stadt mit ihren etwa 60.000 Einwohnern, die Sassi, ziehen sich hin wie jene der Stadt Zion – Jerusalem. "Und dort ist Golgatha", weist jemand auf eine Erhebung. Sie war es für Pier Paolo Pasolini 1964 und war es später für Mel Gibson und dessen "Letzte Versuchung Christi". Und ist es für Milo Rau geworden, den Schweizer Theatermacher, Autor und Intendanten des flämischen NT Gent.

DasNeueEvangelium 560 EVANGELIUMFruitmarket Langfilm IIPM Photo by Armin SmailovicDas letzte Abendmahl © Fruitmarket / Langfilm / Armin Smailovic
Ganz großer Beginn! Gleich einem Bach-Oratorium. Biblische Gesichter, die aus dem Heute in die Vergangenheit zurückzublicken scheinen. Gesichter wie aus dem Heiligen Land unserer Vorstellung. Aber es ist eine heillose Geschichte, keine Heilsgeschichte, die Milo Rau erzählt. Er nimmt die Frohe Botschaft des Nazareners beim Wort und stellt sich in den Dienst der sozialen Revolte, für die Jesus – auch – stand, und einer Theologie der Befreiung.

Vom Vorspann mit seinen Gestalten, die in einen Sandalenfilm passen, "Ben Hur", "Quo Vadis" oder "Das Gewand", wechselt es geradezu natürlich und notwendig in die Gegenwart: zu Aktivisten, Asylsuchenden, Feldarbeitern, die oft als Illegale unter miserablen Bedingungen ackern, dürftig entlohnt werden, elendig in Ghetto-Baracken hausen, die zudem immer kurz vor der Räumung durch die Polizei stehen. Auch diese afrikanischen Erniedrigten und Beleidigten könnten sagen: Wir gelten nicht als Menschen, sondern als Tiere – Fraß für die Arenen anderer römischer Spiele.

Milo Rau zitiert mehrmals Szenen aus Pasolinis "Das 1. Evangelium – Matthäus" mit seinem unglaublich eindringlichen, ganz und gar irdischen und ganz und gar verklärten Jesus-Darsteller, dem Spanier Enrique Irazoqui. Der ist längst Ehrenbürger von Matera und bekommt noch einen letzten Auftritt – erst vergangenen September ist er 76-jährig gestorben – in "Das neue Evangelium", ebenso wie auch Pasolinis damalige Maria-Darstellerin Margherita Caruso.

Für den katholischen Marxisten Pasolini gehörte Italien einerseits zu Europa und doch auch in Teilen zur Dritten Welt. "Die Afrikaner kommen", heißt es in Viscontis "Rocco und seine Brüder" abschätzig über die Familie Parondi, die vom armen Süden in das industrialisierte Mailand aufbricht, hoffend auf ein besseres Leben. Daran denkt man, wenn die Asylsuchenden Afrikas in ihren Flüchtlingsbooten an Italiens Küsten gespült werden und bei Milo Rau das Personal der biblischen Passionsgeschichte stellen.

Anstürmen gegen die Festung Europa

"Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan", hätte Milo Rau auch Matthäus 25, Vers 40 zitiert können. Das ist seine Grundhaltung, auch wenn die sich – entsprechend seiner Inszenierungs-Methode – vielfach bricht. Im Wechsel und im Dialog der Verweise, Nachstellungen, Realitäts- und symbolischen Ebenen entsteht eine eigenartige und eigenartig berührende Mischform aus Dokumentation, Casting-, Dreh- und Probenbericht, aus Reportage, Kommentar und biblischer Nacherzählung – und ihrer Fiktionalisierung.

DasNeueEvangelium 560 Fruitmarket Langfilm IIPMIn Flüchtlingsbooten an Italiens Küsten gespült. © Fruitmarket / Langfilm /  IIPM

Irazoqui spielt am Ufer des Mittelmeers Johannes den Täufer, der einen schwarzen Jesus (den kamerunischen Streikführer Yvan Sagnet) tauft. Das Mittelmeer, das Jordan und See Genezareth 'darstellt', hat die Migranten hergebracht, die die Rollen von Jesus und der zu seinen Jüngern gewordenen armen Fischer und Handwerker, die der Unterdrücker und die der Unterdrückten übernehmen. Die Apostel sind hier Menschen, die anstürmen gegen die Festung Europa. Sind also Protestanten.

"Das Recht ist immer auf ihrer Seite", hat Pasolini bei seiner Ankunft in Neapel mit Blick auf die vielen kleinen armseligen Rosenverkäufer in seinem Reisetagebuch notiert, als er im Sommer 1959 (dem Jahr, in dem Visconti "Rocco" dreht) in seinem Fiat eine Rundreise von Ventimiglia über Capri und Sizilien bis nach Venedig und Triest unternahm. Es begab sich aber zu der Zeit...

Prophet der Freiheit

Materas Bürgermeister erklärt in einer Szene des Films, weshalb er in Milo Raus Passion den Simon von Cyrene spielen möchte, der auf der Via Dolorosa Jesu Kreuz für eine Weile übernimmt. Diese Spielszene ist womöglich die anrührendste und vielsagendste. Der Repräsentant und der Märtyrer – aber wer ist wer? Hier Cyrenius, dort Jesus, hier der Beamte, dort der Flüchtling, hier der, dessen Gesetz über Wohl und Wehe bestimmt, dort der Prophet der Freiheit.

DasNeueEvangelium1 560 Fruitmarket Langfilm IIPM Photo by Armin SmailovicVia Dolorosa heute © Fruitmarket / IIPM / Armin Smailovic

Wenn Jesus gesalbt wird, wenn er seine Jünger beruft, dem Versucher in der Wüste begegnet, mit den Hohepriestern disputiert, Maria Magdalena verteidigt, deren Darstellerin das Filmteam wiederum zum Straßenstrich von Matera mit seinen schwarzen Prostituierten führt, wenn sich die Vertreibung der Händler aus dem Tempel übersetzt in das verzweifelte Plündern eines Supermarkts, wenn Judas seinen Lohn erhält, Abendmahl gehalten wird, der Garten Gethsemane am Gebüsch einer Straße liegt, Petrus seinen Meister verleugnet und der gemartert und getötet wird, erklingen suggestiv Bach, Pergolesis Stabat Mater, Mozart, ein Schubert-Trio, Wagners "Götterdämmerung" oder eine schwermütige Canzone.

Man kann bei "Das neue Evangelium" an Alain Platels aufrührerisches Tanztheater seiner Compagnie C de la B denken, das auf ebenso radikal andere Weise die Passionsgeschichte und Johann Sebastian Bachs musikalische Transformation in die Choreografie "Pitié" hinein verkörpert hat. Das 'Erbarme dich' ist nie metaphorisch, sondern immer konkret und akut. Der Karfreitag ist gewiss, aber ob das Pfingstwunder sich ereignen wird? "Life is not easy" akzentuiert die Abspannmusik bitter ironisch und illusionslos.

 

Das neue Evangelium
Ein Film von Milo Rau

Mit: Yvan Sagnet, Marcello Fonte, Enrique Irazoqui, Maia Morgenstern.
Dauer: 1 Stunde 47 Minuten

D / Schweiz / Italien 2020

Auf Grund der Corona-Pandemie ist der Filmstart nicht in den Kinos, sondern online. Und so funktioniert es: Unter www.dasneueevangelium.de können Zuschauer*innen ein Online-Kinoticket erwerben und gleichzeitig ein Kino auswählen, das sie am Erlös beteiligen möchten. Dieses Kino erhält dann 30 Prozent des Preises eines digitalen Tickets. Der Film ist nach Bezahlung und anschließender Aktivierung der Ticket-ID 24 Stunden streambar.

dasneueevangelium-film.ch

 

Mehr dazu: Über die Dreharbeiten des Films und die Kampagne Revolte der Würde berichtete aus Matera im Oktober 2019 für nachtkritik.de Oliver Kranz.

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