Schadet Ihr Begehren niemandem? 

2. Juli 2023. Alle drei Jahre gibt's in wechselnden Städten das Festival "Theater der Welt". Die aktuelle Ausgabe hat mit Chiaki Soma erstmals eine außereuropäische Kuratorin, die mit überraschenden Perspektiven aufwartet. Der Auftakt, bei dem griechische Antike auf Besamungsanlagen und Schauspiel auf VR-Performances traf, macht neugierig auf alles Weitere.

Von Esther Boldt

Apichatpong Weerasethakuls VR-Performance "A Conversation with the Sun" © Shun Sato / "Theater der Welt" 2023 in Frankfurt und Offenbach

2. Juli 2023. Plötzlich schwindet der Boden unter meinen Füßen. Felswände ziehen an mir vorüber, und es ist, als würde ich aufsteigen, schweben, während der steinige Grund, auf dem ich eben noch stand, unter mir immer kleiner wird. Zum Finale von Apichatpong Weerasethakuls "Conversation with the Sun", die so gelassen begann, wird es dann doch spektakulär, schwindelerregend.

Die VR-Performance des thailändischen Filmregisseurs war als Europapremiere beim Festival "Theater der Welt" zu sehen, das in diesem Jahr in Offenbach und Frankfurt am Main Station macht, veranstaltet von einem Verbund aus Kulturamt Offenbach, Künstler:innenhaus Mousonturm, Schauspiel Frankfurt, Museum Angewandte Kunst Frankfurt und, natürlich, dem Internationalen Theater Institut (ITI).

Archaisch und futuristisch

"A Conversation with the Sun", wofür Weerasethakul erstmals mit VR-Technologie gearbeitet hat, beginnt mit großer Ruhe: In einer geräumigen Halle der Alten Schlosserei in Offenbach empfangen das Publikum zunächst schlafende Menschen auf einer Videoleinwand, auf die von beiden Seiten projiziert wird, sodass sich die Zuschauer:innen stets für eine Seite und damit für eine Version der Geschichte entscheiden müssen. Stille Filmbilder blenden ineinander – eine Frau, die auf einer Veranda sitzt, umwogt von tropischem Grün. Weerasethakuls Tante, erzählen die Untertitel, habe plötzlich von einem lang vergessenen Ereignis ihrer Kindheit geträumt und aufgrund dieses Traums befürchtet, dement zu werden. So begann sie, Dinge aufzuschreiben, die sie nicht vergessen wollte.

Die Videoinstallation führt uns in eine Welt, die zu entgleiten scheint, zwischen Traum und Wirklichkeit, mit großer visueller Ruhe und Großzügigkeit erzählt. Nach 40 Minuten werden VR-Brillen verteilt, und wir tauchen, gemeinsam mit den Schlafenden auf der Leinwand, in eine Traumwelt ein. Als gewaltiger Lichtball schiebt sich die Sonne aus dem Boden herauf, während wir auf dem felsigen Boden eines unbekannten Planeten zu wandeln scheinen und Meteoriten über unseren Köpfen schweben. Es ist eine faszinierende Welt zwischen Traum und Wachen, die sich vor unseren Augen entfaltet, archaisch und futuristisch zugleich. Bis es uns den Boden unter den Füßen wegzieht und wir, Lichtpunkte lediglich, in die Schwärze des Alls emporfliegen.

Theater der Welt? Theater der Welten!

Einiges ist anders in diesem Jahr bei Theater der Welt. Erstmals findet das geschichtsträchtige internationale Festival in zwei Städten gleichzeitig statt, und erstmals wird es von einer Programmdirektorin geleitet, die nicht aus Europa kommt – ein überfälliger Schritt. Die japanische Kuratorin und Dramaturgin Chiaki Soma, die zuvor unter anderem das renommierte Festival für Performing Arts Tokyo leitete, legt eine klare inhaltliche Klammer um das gesamte Theater der Welt (das sie übrigens am liebsten, um der Heterogenität der Erfahrungs- und Lebenswelten gerecht zu werden, in "Theater der Welten" umbenannt hätte): Der Neologismus "Inkubationsmus" dient ihr als Leitmotiv, inspiriert von der Pandemie als einer Zeit des Wartens und der Ungewissheit, aber auch der Offenheit, die diese mit sich brachte. Dabei bezieht sie sich jedoch auch auf die doppelte Bedeutung des Wortes "Inkubation", das einerseits die Zeit bezeichnet, ein neues Lebewesen auszubrüten, andererseits aber auch die Zeit nach einer Infektion bis zum Ausbrechen einer Krankheit. Damit möchte Soma der Leerstelle, der Zeit der Ungewissheit, eine neue Bedeutung verschaffen und auf die positiven Aspekte jener während der Pandemie nicht planbaren Zeit des Rückzugs, des Pausierens verweisen.


"Die Bakchen" als Zeitgenoss:innen © Shun Sato / Theater der Welt 2023 in Frankfurt und Offenbach 

Gleich in der Eröffnungspremiere wird Monströses ausgebrütet und ein Hybrid aus Mensch und Kuh gezeugt: In "Die Bakchen – Holstein-Milchkühe" nimmt die Regisseurin, Performerin und Autorin Satoko Ichihara den Dionysos-Mythos (sowie diverse andere griechische Mythen und Tragödien) zum Ausgangspunkt einer so grotesken wie unerbittlichen szenischen Untersuchung der Frage, welchen Preis die Erfüllung des Begehrens hat: "Schaden Ihre Begierden niemandem? Können Sie das mit Sicherheit sagen?", fragt der dreizehnköpfige Chor der Seelen der Kühe, als klassische Schwarzbunte in schwarze Röcke und weiße Blusen gewandet, wieder und wieder. Das Nutztier steht hier für all jene, die im imperialen, patriarchalen Kapitalismus ausgebeutet werden. Und die Grenzüberschreitungen, die dieser permanenten und omnipräsenten Gewaltausübung zugrunde liegen, spiegeln sich in diversen Transgressionen im Stück wider, zwischen Spezies und Geschlechtern beispielsweise.

Der Kampf mit der Kuh in sich

Protagonistin des Abends ist eine Frau, die nicht mehr arbeiten wollte und darum heiratete, um den Rest ihres Lebens in einem schönen Haus und materieller Sicherheit zu verbringen – im Gegenzug für saubere, gebügelte Hemden, Essen und Sex. Zuvor hat sie jahrelang als Besamungstechnikerin von Milchkühen gearbeitet, die bekanntlich jährlich kalben müssen, um den menschlichen Bedarf an Milchprodukten zu stillen. Mit grandioser Überdrehung, oft direkt ins Publikum sprechend, spielt Yurie Nagayama diese einsame Hausfrau in Kittelschürze, die sich irgendwie eingerichtet hat in ihrer kleinen Welt.

Doch das konventionell wirkende Setting kippt überraschend, als jenes Wesen vor der Tür steht, das die namenlos Bleibende einst bei ihrer Tätigkeit als Samentechnikerin erzeugte: Da besamte sie, aus einer Laune heraus, eine Kuh mit menschlichem Sperma. Ihr Geschöpf mit Menschenkopf und Kuhleib zog sie bei sich auf, bis sie damit nicht mehr zurande kam und es verließ. Scheu und verhuscht wirkt Mikiko Kawamuras Bastard im beigen Trenchcoat, und doch wird sie später mit hinreißender Stimme und großer Kraft von ihrer Zerrissenheit singen, von ihrem Kampf mit der Kuh in sich, die das Menschengehirn mithilfe von Kannibalismus zu bezwingen sucht – und regelmäßig Steak essen geht oder Rinderzunge.

Überwältigend, strapaziös, mutig

Es ist ein Abend der Extreme, der den alltäglichen Missbrauch zahlloser Lebewesen gnadenlos durchexerziert, hierfür immer wieder auf die Untiefen des europäischen Kanons anspielt. Ist doch jenes maßlose, exzessive Verhalten, dessen Thematisierung stets zentral ist für Tragödien, in der brutalen, grotesken Lesart der "Bakchen – Holstein-Milchkühe" längst zur Regel geworden. In Japan wurde das Stück, 2019 bei der Aichi Triennale uraufgeführt, mit dem renommiertesten Preis für Dramatik ausgezeichnet, dem Kishida Kunio Playwright Award. Es ist eine überwältigende, strapaziöse und mutige Festivaleröffnung, die europäische Kulturgeschichte in einen transnationalen Dialog setzt.

Zum Durchatmen bietet sich das Museum Angewandte Kunst an, in dem Chiaki Soma einen "Incubation Pod" einrichtete. Auf drei Etagen laden eine Reihe von Installationen und VR-Arbeiten das Publikum ein, sich zu erholen, zu meditieren und zu träumen. Da schlummert in der Videoinstallation "Zukhra" von Saodat Ismailova (Taschkent/Paris) eine Frau auf einer Liege, und wir sind aufgefordert, es ihr auf Decken am Boden gleichzutun, während Traumbilder aufflimmern.

Neue Evolutionsgeschichte im Bällebad

Im Nebenraum hat die Gruppe Keiken zwei Installationen eingerichtet, die Empathie, das Mitschwingen mit anderen Lebewesen technologisch erfahrbar machen wollen. Für "Taizōkai" klettere ich ins Bällebad, wo mir ein VR-Video eine neue Variante der Evolutionsgeschichte erzählt, die die Kollaboration von Spezies betont und die moderne Individualisierung als Irrweg verwirft.

In "Bet(a) Bodies" liege ich auf einer langen Bank, einen großen Uterus aus Silikon und Technik auf dem Bauch und Kopfhörer auf den Ohren, und höre Tierlaute, während der Uterus vibriert und mir so die Schwingungen der jeweiligen Tiere (Fledermäuse, Delfine, Grillen etc.) körperlich vermittelt. Für mich als Enkelin ostpreußischer Bäuerinnen und Pferdezüchter:innen funktioniert die technologische Empathie-Vermittlung nicht, die Silikonqualle kribbelt bloß ein bisschen, der angekündigten Eröffnung "neuer Räume der Wahrnehmung" harre ich vergebens. Dafür erwartet mich im zweiten Stock ein gutgelaunter Trajal Harrell, der in seinem sitzenden Solo "Sister or He Buried the Body" Voguing mit Butoh verbindet, in beiden Tanzstilen ausdrucksstarke Gestik und Mimik entdeckt und dabei nahtlos Tragik mit Komik verschmilzt.


Theater der Welt 2023 Zukhra Carlos Casas uEinladung zur Meditation: "Zukhra" © Carlos Casas / Theater der Welt 2023 in Frankfurt und Offenbach

Unterdessen wird das Bockenheimer Depot von sogenannten Yōkai, von japanischen Monstern und Dämonen, heimgesucht. In einem fantastischen Bilderreigen, in dem unterschiedliche Figuren, aber auch Dokumentar- und Animationsfilm fließend ineinander übergehen und die Realität so permanent ins Ungewisse getrieben wird, verbindet Ho Tzu Nyen aus Singapur die historischen Yōkai mit japanischen Spionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg untertauchten, und der Kolonialgeschichte Südostasiens.

Yōkai sind bizarre, oft formwandelnde Fabelwesen, die die japanische Kultur seit der Antike prägen und heute im Anime und Manga eine neue Hochzeit erleben. In "Night March of Hundred Monsters" marschieren unter anderem Nue, eine Raubkatze mit Affengesicht und Schlangenschwanz, die Monsterkatze Bakenko und Kitsume, der Fuchsgeist, durch ein felsiges Gebirge, während auf der Leinwand im Vordergrund verschiedene historische und künftige Menschenfiguren schlafen.

Transkontinentale Verweise

Der kollektive Traum lässt die Untoten des Zweiten Weltkriegs und der Kolonialgeschichte wiederauferstehen, und Ho Tzu Nyen setzt sich auf die Spur von Spionen, die in der Nakane-Akademie ausgebildet wurden. Viele wandelten, wie die Yōkai, mehrfach ihre Gestalt, doch die Installation verweist auch darauf, dass Geschichte als Formwandlerin lesbar werden kann. Denn das Publikum wandelt durch verschiedene Räume wie durch die Geschichte, der Einladung des Künstlers folgend, Geschichte nicht linear und binär zu lesen, sondern ihren komplexen Verwebungen und Verstrickungen offenen Auges und durchaus lustvoll zu begegnen.

So legt das Eröffnungswochenende von "Theater der Welt" bereits viele Fährten, es schafft transkontinentale und transkulturelle Verweise, ist so faszinierend wie fordernd. Wie die Frankfurter:innen und Offenbacher:innen dieses anspruchsvolle Programm aufnehmen werden, wie sie sich einfinden werden bei einem Festival, das durch seine – politische natürlich wünschenswerte – Beheimatung in zwei Städten immer auch ein wenig zerfasert, dem das Zentrum fehlt, das wird in den kommenden zwei Wochen spannend sein zu beobachten.

 

A Conversation with the Sun
von Apichatpong Weerasethakul
Konzept und Regie: Apichatpong Weerasethakul, Musik: Ryuichi Sakamoto, Sound Designer: Akritchalerm Kalayanamitr, Koichi Shimizu, Kamera: Chatchai Suban. Mit: Jenjira Pongpas Widner, Sakda Kaewbuadee Vaysse, Chai Bhatana, Sam Mitchell, Sita Kiatneramit
Europa-Premiere
Dauer: 1 Stunde

Die Bakchen – Holstein Milchkühe
von Satoko Ichihara
Regie: Satoko Ichihara, Musik: Masashi Nukata (Nuthmique/Tokyo Shiokouji), Bühnenbild: Tomomi Nakamura, Licht: Rie Uomori (kehaiworks), Sound: Takeshi Inarimori, Mayumi Numata, Video: Kotaro Konishi.
Mit: Mikiko Kawamura, Ayane Nakagawa, Yurie Nagayama, Kumi Hyodo, Eri Liao, Omi Yuki, Tomoko Katsuta, Maika Koguchi, Kanako Shiozawa, Seira Nakanishi, Miuko Hagiwara, Shino Fujimoto, Saki Mishima, Kyoko Murakami, Satomi Watanabe, Harumi Watanabe.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten

Zukhra
von Saodat Ismailova
Regie, Schnitt und Sound Schnitt: Saodat Ismailova, Kamera: Carlos Casas, Übersetzung: Marie Rößler.
Mit: Dildora Pirmasova.
Dauer: 29 Minuten

Taizōkai
von Keiken
In Kollaboration mit George Jasper Stone, Sound und Ambience Music: Wavesovspace.
Dauer: 3 Minuten

Bet(a) Bodies
von Alejandro Ball
Dauer: 9 Minuten

Sister or He Buried the Body
von Trajal Harrell
Choreografie, Tanz, Installation und Soundtrack: Trajal Harrell, Dramaturgie: Sara Jansen.
Dauer: 30 Minuten

Night March of Hundred Monsters
Von Ho Tzu Nyen
Regie, Skript, Schnitt, Co-Sound Design, Koproduzent: Ho Tzu Nyen, Recherche, Übersetzung (Japanisch), Kollaboration Skript: Yoko Nose, Dramaturgie, Recherche, Kollaboration, Übersetzung (Japanisch): Tomoyuki Arai, Übersetzung (Deutsch): Ulrike Syha, Animation and Foley: Screen Breathes Studio, Licht und Technik: Andy Lim, Sound Engineer und Co-Design: Jeffrey Yue, Musik: Aki Onda featuring Keiji Haino and Phew.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten

www.theaterderwelt.de


Kritikenrundschau

"'Die Bakchen. Holstein-Milchkühe' ist das Schrillste, Schrägste, Durchgeknallteste, auch das Bekloppteste, was es seit Langem auf einer Theaterbühne zu sehen gab", schreibt Jakob Hayner in der Welt (3.7.2023). Der Abend sei "in jeder Hinsicht grob inkorrekt – und will das auch sein. Etwas zu bemüht provokativ, denkt man gelegentlich, aber die Lust an der Provokation kann man Ichihara nun wirklich nicht absprechen", so Hayner. "Eher fehlt es an Stringenz, der Abend zerfällt wie in einzelne Revuenummern, die sich teils gen Überlänge dehnen."

Von den theatralen Mitteln her sei diese Arbeit durchaus vertraut; "irritierend ist eher die Gelassenheit, mit der Satoko Ichihara hier ausgehend von Euripides' antikem Drama und diesem in der Struktur folgend einen Irrsinn entfacht, der brillante Gesellschaftsfarce, Ökodrama, beißende Kritik und, auch dies, Musical, in einem ist", ruft Egbert Tholl erfreut in der Süddeutschen Zeitung (online 4.7.2023). Großartig wie nervenaufreibend kriege man hier den Zorn über weibliche Rollenbilder und Raubbau an der Natur um die Ohren gehauen, findet der Rezensent.

Satoko Ichihara drehe hier einiges ins Legendäre und Absurde, scheue keine Drastik und Übertreibung, schreibt Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (1.7.2023). "Am Rande ihres "Bakchen"-Stückes treibt sich Kritik am Fleisch- und Milchkonsum herum, auch Kritik an der Ehe, bei der die Frau den Haushalt führt und für Sex zur Verfügung zu stehen hat." Doch laufen sich die Provokationen an diesem Abend tot, findet die Kritikerin.