Vorplatz zur Hölle

17. Juli 2023. Zwei Wochen lang hat das Festival Theater der Welt die Krisen der Gegenwart verhandelt und die Spuren von Gewalt in Körpern und Geschichten nachgezeichnet. Zum Abschluss gibt’s ein glitzerndes Meta-Musical, aber auch eine VR-Arbeit über Technologie und eine tödliche Krankheit, mechanische Menschen – und einen harten Rauswurf inklusive Knock-out.

Von Esther Boldt

"A Fun Night Out" von Jetse Batelaan/Theater Artemis © Kurt van der Elst 

17. Juli 2023. "Sperrt die Gefühle aus!", ruft Willemijn Zevenhuijzen mit sich überschlagender Stimme, den Hammer fest in der Faust. Die Angst, die Scham und die tiefe Trauer werden aus dem Theatersaal vertrieben, und um sicherzustellen, dass sie auch draußen bleiben, hängen sich Kinder aus dem Publikum mit ihrem ganzen Gewicht an die Türgriffe und bewachen diese auch noch, als es dahinter längst ruhig geworden ist.

Von Dämonen heimgesucht

Doch wie in Jetse Batelaans ziemlich tollem, glitzerigem Meta-Musical "A Fun Night Out" sich die Gefühle nicht lange ausschließen lassen, sondern umso nachhaltiger die Bühne erobern, so sind Verdrängtes, Emotionales, Traumatisierendes generell höchst präsent beim diesjährigen Festival Theater der Welt in Offenbach und Frankfurt am Main. Es ist, als hätten die Yōkai, die Dämonen und Geister der japanischen Mythologie, die Ho Tsu Syen in seinem "Night March of Hundred Monsters" so eindrucksvoll hat aufmarschieren lassen, das gesamte Festival heimgesucht. Denn die Künstler:innen weisen in ihren Performances, VR-Arbeiten, Installationen und Musiktheaterstücken eher auf historische Kontinuitäten und komplexe Verbindungen hin denn auf Brüche.

Ungewöhnlich und erfreulich sind dabei die zahlreichen Inszenierungen für Kinder und Jugendliche, wie Jetse Batelaans "A Fun Night Out", das fabelhaft erzählte "Abana b’amazi (Kinder des Wassers)" von Small Citizens und "Nightwalks with Teenagers" der kanadischen Künstler:innengruppe Mammalian Diving Reflex, bei dem acht Jugendliche auf einem Streifzug in der Dämmerung ihre Stadt zeigen, ihre Themen, ihre Spiele. Schade nur, dass dieses Programm für Junges Publikum sich offenbar zu wenig herumgesprochen hat oder zu wenig kommuniziert wurde – einige Male jedenfalls waren die Erwachsenen dabei in der Überzahl.

Utopie und Dystopie in radikaler Gleichzeitigkeit

Die Geister der Vergangenheit besiedeln längst auch das Digitale. "Vergangenheit und Zukunft überlagern sich. Du und ich überlagern sich", sagt die Roboterstimme in "Prometheus Bound". Die VR-Arbeit von Meiro Koizumi hat zwei Teile. Im ersten hören wir die besagte leicht mechanische Stimme, die vom körperlichen Verfall erzählt, von Krankheit und von einer Technologie, die für den an Amyotropher Lateralsklerose, kurz ALS, Erkrankten sowohl Erlösung als auch Auslöschung bedeuten könnte. Währenddessen flirren in der VR-Welt schwarze Kuben zwischen den Teilnehmer:innen herum, erfassen schwarze, sich gespenstisch ausbreitende Flecken den Raum wie ein Virus.

TdW 2023 Meiro Koizumi Promtheus Bound 2 Shun Sato uDie Geister der Vergangenheit im Digitalen: Meiro Koizumis "Promtheus Bound" © Shun Sato

Im zweiten Teil dann sehen wir die VR-Arbeit von außen, während uns der Erkrankte auf einem Video begegnet und mit seiner menschlichen Stimme den bereits bekannten Text spricht. Technologie ist hier in radikaler Gleichzeitigkeit Utopie und Dystopie, und Masatane Muto, im Hightech-Rollstuhl sitzend, warnt eindringlich davor, in der Bequemlichkeit der Technologie die eigene Autonomie und Menschlichkeit zu verlieren. Eine beeindruckende, verstörende Begegnung, die aktuelle Fragen eindringlich verhandelt.

Der Gewalt auf die Spur

Wie auch "Yoriboshi. Der Schwächling", eine Uraufführung der Regisseurin und Autorin Satoko Ichihara, deren "Bakchen" das Festival vor zwei Wochen eröffneten. Während sie in den "Bakchen" dem Verhältnis von Mensch und Tier nachspürte, untersucht Ichihara hier das Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Mensch und Ding, um die scharfe Unterscheidung zwischen beidem energisch infrage zu stellen. Ein ganz gewöhnliches Ehepaar bekommt da ein Puppenkind, das zum Liebling aller heranwächst, nach dem Tod seiner Mutter jedoch vom Vater verstoßen wird.

Formal ist das Stück inspiriert von der Tradition des japanischen Bunraku-Theaters, wobei hier die Puppen nicht von jeweils drei Spieler:innen, sondern von eine/r gelenkt werden. Den Schauspieler:innen sind die Puppen vor den Leib gebunden, beide bewegen sich als faszinierender Doppelkörper in tänzerischer Synchronizität. Als Erzählerin fungiert Sachiko Hara in blonder Perücke und Puppendress, begleitet von der Biwa-Spielerin Kakushin Nishihara. Und die Verhältnisse kehren sich um: In "Yoroboshi" erscheinen die Puppen belebt, aufgeweckt, während die Menschen mechanisch ihre Alltagsroutinen wiederholen.

TdW 2023 Yoroboshi DerSchwaechling 1 Joerg Baumann uÜberträgt gesellschaftliche Tabus wie Inzest und Pädophilie auf Puppen: "Yoriboshi" von Satoko Ichihara © Jörg Baumann

Überraschend dicht bewegt sich das Festival an dem Leitmotiv entlang, das Chiaki Soma ausrief. Der "Inkubationismus" als Zeit des Wartens und Erwartens, der Ungewissheit und Offenheit, auch: der überraschenden Freiräume, lässt sich in vielen Arbeiten aufspüren. Inhaltlich ist das Programm durchaus fordernd, strapaziös. Es sucht die zahlreichen Krisengebiete der Gegenwart auf, folgt ihrer Geschichte ebenso wie ihren Geschichten. Oft setzen sich die Künstler:innen der Gewalt auf die Spur, die sich wie eine Landkarte eingeschrieben hat in die geschundenen Körper, in die zerstörten Puppen, die misshandelten Tiere.

Harter Rauswurf statt herzlicher Umarmung

Weil die feministische Position mit den "Bakchen" von Anfang an eingeschrieben war ins Programm, ist es nur konsequent, dass Theater der Welt 2023 mit "Die Cadela Força Trilogie. Kapitel I: Die Braut und Goodnight Cinderella" endet (hier die ausführliche Kritik). Ein zu Recht mit sorgfältigen Triggerwarnungen und Exit-Möglichkeiten versehenes Finale, in dem die Regisseurin und Performerin Carolina Bianchi und die Gruppe Cara de Cavalo zunächst eine Kulturgeschichte der patriarchalen Gewalt schreibt, in der Frauen stets als Beute gezeigt und begriffen werden. Um sich dann mit der jüngeren Geschichte feministischer Performance- und Body-Art auseinanderzusetzen als Versuchen, dieser steten Gefährdung zu begegnen.

Ein Abend über Vergewaltigung und Femizid, an dem sich die Künstlerin in reiner Bodyart-Tradition mit einem K.O.-Pulver selbst schachmatt setzt, um den Großteil ihrer Performance bewusstlos zu verdämmern, während um sie herum im scharfen Gestank hochprozentigen Alkohols Orgien gefeiert werden, die stets auf Messers Schneide tanzen zwischen Fest und Gewalt, zwischen Leben und Tod, Unterwerfung und Ermächtigung. Ein Vorplatz zur Hölle der, wie die Eröffnungsinszenierung auch, gerade keine herzliche Umarmung ist, sondern vielmehr ein harter Rauswurf – ausgerechnet an jenem Abend, an dem das erste von drei Rammstein-Konzerten in Berlin stattfindet.

 

A Fun Night Out
von Jetse Batelaan
Regie: Jetse Batelaan, Bühne und Licht: Theun Mosk, Kostüme: Liesbet Swings, Choreografie: Christian Celini, Musik & Arrangements: Keimpe de Jong, Ton van der Meer, Dramaturgie: Koen Haagdorens.
Mit: Mourad Baaiz, Goele Derick, Marjan De Schutter, Wijnand Gomes, Chris van der Lee, Ryk Helle, Ramon Mahieu, Jenell Tedjai, Mylene Waalewijn, Rosanne Waalewijn, Willemijn Zevenhuijzen.
Koproduziert von hetpaleis, Het Zuidelijk Toneel, Theater Artemis
Festivalpremiere am 9. Juli 2023
Dauer: 120 Minuten, keine Pause

Prometheus Bound
von Meiro Koizumi
Konzept und Regie: Meiro Koizumi, Skript: Masatane Muto & Meiro Koizumi, VR Effekte: Katsuya Taniguchi (Rhino Studios), VR Management: Tsuyoshi Nomura, Director of Photography: Yasuhiro Moriuchi.
Mit: Masatane Muto
Europa-Premiere am 14. Juli 2023
Dauer: 60 Minuten, keine Pause

Yoriboshi. Der Schwächling
von Satoko Ichihara
Erzählstimme: Sachiko Hara, Puppenspiel: Mikiko Kawamura, Terunobu Osaki, Ryota Hatanaka, Musik / Biwa: Kakushin Nishihara, Konzept und Regie: Satoko Ichihara, Musikkoordination: Kenichi Iijima, Bühne: Tomomi Nakamura, Licht: Rie Uomori (kehaiworks), Ton: Takeshi Inarimori, Video: Kotaro Konishi, Kostüme: Hanaka Kiki, Natsuki Oku, Puppenbau: Eri Fukasawa, Yosuke Sato, Yuna Yoshida, Kenichiro Okonogi, Mugiho Sasaki, Puppenbau-Assistenz: Mika Kan, Dramaturgie: Lucie Ortmann.
Premiere am 14. Juli 2023
Dauer: 90 Minuten, keine Pause

Die Cadela Força Trilogie, Kapitel I: Die Braut und Goodnight Cinderella

von Carolina Bianchi & Cara de Cavalo

Konzept, Text, Dramaturgie und Regie: Carolina Bianchi, Dramaturgische Begleitung und Mitarbeit: Carolina Mendonca, Technische Leitung und Musik: Miguel Caldas, Bühne: Luisa Callegari, Licht: Joao Rios, Video: Montserrat Fonseca Llach, Kostüme: Tomás Decina, Luisa Callegari, Carolina Bianchi.

Mit: BlackYva, Larissa Ballarotti, Carolina Bianchi, Jose Artur Campos, Joana Ferraz, Fernanda Libman, Chico Lima, Rafael Limongelli und Marina Matteus.

Deutschlandpremiere am 15. Juli 2023

Dauer: 150 Minuten, keine Pause



www.theaterderwelt.de

Kommentar schreiben