Hate Radio - Der Shorty zum Gastspiel beim Berliner Theatertreffen 2012
Der hippe Sound der Vernichtung
von Simone Kaempf
Berlin, 16. Mai 2012. Es geht doch noch auf der kurzen Länge! Für ein echtes Aha-Erlebnis sorgt die bei diesem Theatertreffen mit zwei Stunden im Vergleich knapp bemessene Rekonstruktion einer Radioshow, die 1994 in Ruanda stattfand. Fernab jeder falschen Theaterhaftigkeit schaut man in ein glaskastenartiges Sendestudio, in dem zwei Männer, eine Frau und ein DJ miteinander sprechen, Zuhörer zuschalten, die Nachrichten vom Tage nicht nur verlesen, sondern kommentieren. Und wie hier einer das Wort vom anderen übernimmt, immer wieder die Lücke findet, um Häme, Hass und schließlich auch Morddrohungen zu verkünden, ist ein Lehrstück darüber, wie Propaganda funktioniert.
Was sich außerhalb dieses Studios abspielte, davon erzählt der vor- und nachgeschaltete Dokumentartheaterteil mit Interviews von Überlebenden, die sachlich und äußerst genau berichten, wie sie in Latrinegräben gesperrt wurden oder in eine Schule flüchteten, in die schon bald Milizen eindrangen, die mit äußerster Brutalität vorgingen, Kindern die Beine oder Frauen die Brüste abschnitten. Es sind diese persönlichen Berichte, die sich dann mit den Aufrufen der Moderatoren überschneiden, in die Schule einzubrechen und die Kakerlaken zu vernichten.
Bestechend klare Form
Die theatrale Grundanordnung von Regisseur Milo Rau und seinem Dramaturgen Jens Dietrich basiert auf genauen Recherchen, vielen Interviews und größtmöglicher Faktentreue. Wo andere Dokumentartheaterabende sich an der Komplexität der Wirklichkeit verheben oder das Ringen mit der Form schon immer mit thematisieren, hat "Radio Hate" eine so bestechend klare Form, die nachträglich weder kommentiert noch unter Verstellungen leidet. Und dennoch sitzen Schauspieler in diesem Sendestudio (Nancy Nkusi, Sébastian Foucault, Diogène Ntarindwa), die sich hier nicht in ein Leid einfühlen, sondern als Moderatoren beim damals hippsten Sender des Landes Bier trinken, rauchen, Marihuana nachbestellen und, angefeuert von hochgeregelten Popsongs, immer wieder ansetzen, um zur Vernichtung aufzurufen.
Ob man das nun Reenactment nennt, ist eigentlich egal, man könnte sich den Abend auch an anderen Kunst-Orten vorstellen, auf der Documenta etwa. In Kigali wurde am Originalschauplatz gespielt. Aber tatsächlich ist "Hate Radio" im Theater sehr gut aufgehoben, in dem die unheilvolle Antriebswirkung dieser Radiopropaganda suggestiv ihre volles Ausmaß offenbart, auch ohne dafür gleich neue Formate, scheinbare Experten oder viele Stunden Spieldauer zu strapazieren.
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Ich fasse es nicht. Ein Glaskasten und 4 Sprecher, alle Zuschauer mit albernen Kopfhoehrern auf, lauschen den Hetzparolen der Hutu-Moderatoren. Die Idee klappt ungefaehr gefuehlte 5 Minuten, dann geschieht das Schlimmste was man dem Thema antun kann: die monotonen Stimmen, auch noch auf Franzoesisch und Afrikanisch, lullen auch noch die betroffendste Sozialarbeiterin gnadenlos ein, gaehnende Langeweile waehrend zu immer neuen Massakern aufgerufen wird. Was soll das bringen? Man stelle sich ein Stueck ueber den Nationalsozialismus vor, indem "Schauspieler" stundenlang aus dem Stuermer vorlesen.
Was will der Autor mir sagen? Mich aufklaeren? Sicherstellen dass ich Rassismus und Voelkermord auch wirklich nicht so gut finde? Geschichtsunterricht? Genau dafuer gibt es die Gattung Dokumentarfilm oder von mir aus Guido Knopp, dafuer braucht man wirklich kein Theater, das ist einfach eine Themaverfehlung.
So ein duennes Schuelertheater auf ein Theatertreffen einzuladen, zu dem Menschen von weit her anreisen, ist einfach eine Unverschaemtheit,sorry.
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com
haben wir das gleiche Stueck gesehen? Ich muss ihnen da einfach widersprechen. In der Inszenierung gab es doch eben ueberhaupt keine vernuenftige Erklaerung fuer den Genozid, das war meiner Meinung nach genau das Problem. Von der ersten Minute an ist der Zuschauer mit primitivsten Hetzparolen, blanken Mordaufrufen konfrontiert. Die Tutsis werden als Kakerlaken die man vernichten muss bezeichnet. Das ist aber doch keine Propaganda, die muss doch viel frueher eingesetzt haben! Der Zuschauer erfaehrt ueberhaupt nichts ueber die Gruende fuer den Hass, er wird lediglich Zeuge des Massakers. Das ist gefaerlich, weil es keine Naehe zu den Taetern zulaesst, zu primitiv, zu abstossend ist deren Verhalten.
So bleibt einfach nur Betroffenheit ueber ein grausames Verbrechen und, seien wir ehrlich, Kopfschuetteln ueber die simple und unzivilisierte Struktur eines afrikanischen Landes. Und nun?
da scheinen wir tatsächlich unterschiedliche Stücke gesehen haben. Was da gezeigt wird, ist gerade die Mechanik der Propaganda, die verbale Entmenschlichung derer, die vernichtet werden sollen ("Kakerlaken" - die Ungeziefer-Metaphorik findet sich oft bei Genoziden), die vermeintlich logische Herleitung der Notwenigkeit und moralischen Richtigkeit des Tötens und die Art und Weise wie das Unfassbare schmackhaft und selbstverständlich gemacht wird, also der Popkultur-Aspekt des ganzen. Das ganze ist wahsinnig greifbar und springt den Zuschauer unmittelbar an.
Ihr Problem liegt mir eher in einem Missverständnis: Sie erwarten ein Theater, das erklärt, das herleitet, sie wollen eigentlich eine Vorlesung zu den Ursachen des Genozids. Raus ist ein Theater das zeigt, nicht mehr, nicht weniger. Es will die Ursachen nicht erklären und herleiten, er will einen Aspekt des Völkermords zeigen, nämlich die Rolle der Propaganda, der Massenmedien, des gesprochenen Wortes. Und das macht er m. E. äußerst eindringlich.
http://www.wdr5.de/sendungen/hoerspiel-am-dienstag/s/d/16.04.2013-20.05.html