Hate Radio - Milo Rau und sein Internationales Institut für Politischen Mord führen eine Radio-Hass-Sendung aus Ruanda wieder auf
Völkermord-Propaganda am eigenen Leib erfahren
von Matthias Weigel
Berlin, 1. Dezember 2011. Zwei Männer und eine Frau sitzen an einem Tisch und reden. Nicht mehr, nicht weniger. Aber sie sprechen in Mikrofone. So erklingen ihre Stimmen tausendfach in den Radios. Sie werden zum Propagandamotor eines der größten Genozide: dem Massaker der Hutu an den Tutsi in Ruanda im Jahr 1994.
In Berlin sitzen zwei Männer und eine Frau an einem Tisch auf der Bühne des Hebbel am Ufer und reden. Sie reden davon, die "Kakerlaken" von Tutsi zu vernichten, verlangen lachend Marihuana-Nachschub und spielen persönlich für Bill Clinton Nirvanas "Rape me". Sie sitzen im Studio des Propagandasenders Radio RTLM, genauer gesagt in einem Glaskasten, der dem Original-Studio von 1994 akribisch genau nachgebaut wurde. Unter der Leitung des Schweizer Regisseurs und Journalisten Milo Rau findet mit "Hate Radio" das Reenactment einer Sendung eben jenes Völkermord-Propagandasenders statt.
Kunst
Bei Themen wie dem Völkermord in Ruanda tut sich ein Dilemma auf: In seiner Unmenschlichkeit und Dimension ist er für uns völlig unbegreiflich und unfassbar und wird es wohl auch bleiben. Und doch, oder gerade deshalb, kann man solche Ereignisse nicht ad acta legen, muss sich an ihnen immer wieder abarbeiten. Ist erst einmal eine gewisse Zeit der politischen und juristischen Aufarbeitung verstrichen, so mag es scheinen, dass allein die Kunst, in all ihren Facetten, als der geeignete und zutiefst menschliche Weg der Auseinandersetzung mit dem Unerträglichen übrig bleibt. Für die Zeugen als Möglichkeit der Verarbeitung, für die Unbeteiligten als Weg der Annäherung ans Unbegreifliche.
Milo Rau und Jens Dietrich (Dramaturgie) haben eine besondere Form des dokumentarischen Theaters gewählt, das Reenactment. In den USA sind Reenactments ein Freizeitvolkssport, wenn mit Hundertschaften Bürgerkriegsschlachten samt Uniform und Vorderlader nachgestellt werden; aber auch die performativen Künste führen sich selbst wieder auf, wenn etwa in einer Marina-Abramovic-Retrospektive altes Gegen-die-Wand-Laufen neu vollzogen wird (und streng genommen ist natürlich auch jede Repertoire-Vorstellung ein Reenactment).
Erfahrung
Im Falle von "Hate Radio" aber wird erfahrbar, welch gesellschaftspolitisches Potential ein Reenactment entfalten kann. Denn wie Nancy Nkusi, Sébastien Foucaut, Dorcy Rugamba (als Moderatoren) und Afazali Dewaele (als DJ) so beiläufig, nüchtern und vor allem unkommentiert die Sendung fahren, ist atemberaubend. Routiniert hängen sie vor den Mikros, in der letzten Sekunde vor ihrem Einsatz setzen sie die Kopfhörer auf, um – durchaus unterhaltsam und sympathisch – ihre gespenstischen Nachrichten in die Köpfe der meist analphabetischen Hörer zu pflanzen. Ein Einblick in den Alltag bei Radio RTLM. Vielleicht ist es dieser ironische Galgenhumor, der zum Erfolg des Senders beigetragen hat: "Wir spielen alle Songs die ihr euch wünscht, egal ob aus Frankreich oder USA, sogar aus Uganda!" – aus Uganda stammten die verhassten Tutsi-Rebellen. In Zuhörer-Anrufen werden versteckte Tutsi denunziert, internationale Nachrichtensender lustvoll dementiert, und mal wieder nach mehr Gras zum Rauchen verlangt. Dann: "I like to move it", der Hit des Jahres 1994.
Nah und fern
Atemberaubend ist das vor allem, weil es unkommentiert geschieht. Durch die möglichst historisch korrekte Versuchsanordnung wird die Sendung von damals einfach erneut vollzogen, ohne dabei mit Zeigefinger oder Betroffenheits-Keule zu schwenken. Dem Reenactment dieses kleinen Schräubchens im Gewinde des Völkermordes unterläuft somit gerade nicht der übliche Fehler, durch das Aufzählen von schier unglaublichen Fakten das historische Ereignis unabsichtlich in die Ferne zu rücken.
Dies ist nämlich der Fall bei den interview-artigen Video-Einspielungen vor und nach der Radio-Sendung: Die Zeitzeugen-Geschichten sind der blanke Horror und lassen einen in dem Moment ungläubig verstummen. Doch der laute, aber kurze Knall bleibt in der Ferne, ja muss fern bleiben, anders man auf der Stelle den existenzialistischen Selbstmord beginge.
Gespenster im Labor
Dahingegen hängen die lebenden Gespenster vom "Hate Radio" mitunter fast ein wenig liebenswert in ihren Sesseln. Hits der Neunziger, flotte Sprüche, hitzige Diskussionen, Lust am Radio-Machen. Die Moderatoren haben selbst keine Menschen umgebracht.
Und trotzdem fühlt man sich auch nicht in die Falle der Verführung gelockt. Das Reenactment ist ein Anschauungsobjekt. Ein gut recherchiertes, höchst interessantes Anschauungsobjekt. Das unbedingt ins Theater gehört. Denn in dieser Laborsituation können sich Struktur und Prinzip des Bösen selbst entblößen, ohne Schock, ohne Hollywood-Geschichte, ohne Betroffenheit – nur durch Sprechen ins Mikrofon.
Hate Radio -Reenactment einer Sendung des ruandischen Völkermordradios RTLM
Buch und Regie: Milo Rau, Dramaturgie und Conceptual Management: Jens Dietrich, Ausstattung und Kostüme: Anton Lukas.
Mit: Afazali Dewaele, Sébastien Foucault, Estelle Marion, Nancy Nkusi, Dorcy Rugamba.
www.hebbel-am-ufer.de
International Institute of Political Murder
Diese Inszenierung wurde von den Lesern für das virtuelle nachtkritik-Theatertreffen 2012 ausgewählt. Mehr zu Milo Rau und der Arbeit seines International Institute for Political Murder: Im Dezember 2009 zeigten sie im HAU Die letzten Tage der Ceausescus.
Regisseur Milo Rau lege peinlich Wert auf historische Korrektheit, schreibt Philipp Lichterbeck im Tagesspiegel (3.12.2011), "etwa, dass die Moderatoren Pistolen trugen. Oder dass Anrufer meldeten, wohin Tutsis geflüchtet sind." Dem Re-Enactment Theater werde oft vorgeworfen, historische Ereignisse unter Vortäuschung von Authentizität zu verfälschen und reales Erleben zu simulieren. "Im Glaskasten von 'Hate Radio' sieht man hingegen ein Experiment, das die mörderische Wirkung von Sprache untersucht. Am Ende scheint der Kasten vor Hass zu bersten."
"Es ist ein gespenstischer Abend", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (3.12.2011). Das Re-enactment sei purer, altmodischer Naturalismus: "Die möglichst genaue Rekonstruktion eines historischen Moments, szenischer Fotorealismus." Dafür, dass die theatralische Rekonstruktion nicht im wohlig goutierten Schauder versackt, sorgten "die beeindruckenden Darsteller", zum größten Teil in Europa lebende Schauspieler aus Ruanda, Überlebende des Genozids. "Was Milo Rau vornimmt, wenn Angehörige der Tutsi-Minderheit, Überlebende der Opfer-Gruppe, als Darsteller zu Moderatoren des Hass-Radios werden, ist ein atemberaubender Perspektivwechsel, wie er so nur im Theater möglich ist. So ist Theater kein bloßes Transportmittel dokumentarischen Materials, sondern wird als Medium selbst Ort der Aufklärung."
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