Reise durch die Nacht - Der Shorty zum Gastspiel beim Theatertreffen 2013
Melancholie im Nachtzug
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 11. Mai 2013. Täuschung und Ent-täuschung sind hierarchisch angeordnet in Katie Mitchells Kölner Inszenierung "Reise durch die Nacht" nach einem Text von Friederike Mayröcker. Die Täuschung ist oben. Schon von der vierten Reihe im Radialsystem aus ist das Oben näher als das Unten.
In dem Film, der oben läuft, während er unten produziert wird, ist alles in fließender Bewegung. Der Nachtzug von Paris nach Wien braucht nur eineinviertel Stunden. Sonst stimmt alles: Der Schaffner trägt eine rote Mütze, seine Ansagen knistern und rauschen, und die Toilettenbeleuchtung ist äußerst unvorteilhaft.
Eine, die hier mitfährt, stemmt sich gegen die Zeit, deren Gleichförmigkeit der Nachtzug imitiert. In Julia Wieningers Augen, an die ganz nah herangezoomt wird, stehen von Anfang an Tränen. Aufgerührt bis zum Geht-nicht-mehr zappt sie sich durch Kindheitserinnerungs-Fragmente und Überzeugungsfetzen und kann nirgendwo innehalten, um sich ihre Lebensgeschichte von dort aus weiter zu erzählen. Schon gar nicht in der hässlichen Gegenwart des Zugabteils, wo sich der ihr in dieser kurzen Nacht noch viel fremder als eh schon gewordene Ehemann die Zähne putzt. "Morgentoilette. Dass ich nicht lache", denkt sie, in ihrem Gesicht verdutzte Verachtung.
Dass wir hören, was sie denkt, kommt von unten. Da wird der Text von Friederike Mayröcker eingelesen, "die Frau" Julia Wieninger und ihre beiden Mitspieler, der Mann und der Schaffner (mit dem sie zwischendurch eine unwahrscheinliche schnelle Nummer schiebt) sind nebenan mit der Illustration beschäftigt. Oder ist es nicht umgekehrt? Mayröckers Worte illustrieren die Verzweiflung, die Mitchell und ihre Spieler und Kameraleute in stereotype Bilder kleiden? Die Worte jedenfalls fangen irgendwann an zu nerven. Dienen sie, so präsentiert, nicht nur dazu, die Verzweiflung der Protagonistin genauso sicher zu machen wie die Ankunft des Zuges in Wien am nächsten Morgen? Würden die Bilder ohne Worte nicht wenigstens ein paar mehr Möglichkeiten für diese immer uninteressanter werdende namenlose Frau enthalten?
Vielleicht kann die Erinnerung an die ent-täuschende untere Ebene, von der man ja auch etwas mitbekommen und abgespeichert haben müsste, die schwüle Melancholie, die sich im Raum aufgestaut hat, später wieder wegpusten. Vielleicht reicht auch der Maiabendwind.
Applaus für die Schauspieler und in unauffälliges Schwarz gekleideten Kameraleute, Buhs und laut darauf antwortende Bravos für Regisseurin Katie Mitchell.
Hier geht es zur Nachtkritik der Premiere von Reise durch die Nacht am Schauspiel Köln.
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Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/05/14/schlaflos-im-raderwerk/
Darüber hinaus ist dieser Angang an einen poetischen text, den ich by the way noch nicht mal für soooo toll halte (allzu sehr patiniert mit der diskursgeschichte vergangener tage), ist also dieser Angang an einen stream-of-conciousness-text eigentlich nur sendung-mit-der-maus-haft zu nennen. Wie es eigentlich gewesen war, als die Friederike den Text geschrieben hat, könnte die Unterschrift unter dieses Unterfangen lauten. Die theatrale Überhöhung fliegt ungesehen weg und macht einem ziemlich kitschigen und von den filmischen Mitteln her altbackenen Gefühligkeitskino Platz, in dem sich naturalistischer Anspruch mit aufblitzenden Gesten aus dem Kabinett des Dr. Caligari abwechselt (Flashback=Hand zur Stirn!)
Das Ganze wirkt wie eine streberhafte Umstrickung auf theatrale Avantgarde-bedürfnisse mit einem recht schlichten Kunst- oder auch Überbauverständnis; ich fühlte mich als Zuschauer eingeladen ab und zu mal ach ja, wie schlimm der Papa war zu murmeln um sonst andachtsvoll zu schauen und zu fühlen. Wo war denn bitte die tolle zweite Ebene? Alibi, meiner Meinung nach in dieser Zuschauersituation.
Naiv gesprochen hab ich es gern, wenn ich die Körper der Schauspieler auf der Bühne live und mitunter schwitzend erlebe. Nicht auf Marke stehend eingesperrt und von kultigen Requistiten umringt.
da bin ich ganz bei ihnen, was Theater mit dampfenden Menschen angeht.
ich gehe zu Katie Mitchell, um mich von etwas Neuem und Interessanten verführen zu lassen. Immerhin soll es sich ja um eine "bemerkenswerte" Inszenierung handeln. "Schaufel und Spitzhacke" klingt nach Unterstellung, ich weiß nur leider nicht was Sie mir unterstellen wollen. Mein Versuch war auf jeden Fall differenziert Kritik an einer Veranstaltung zu üben. Dabei habe ich mich bemüht nicht ad personam zu argumentieren. Sollte Ihnen auch daran gelegen sein, mehr als das Argument, dass man zu Katie Mitchell nur gehen soll, wenn man das was die gute Frau macht, so oder so gut findet - so lese ich leider Ihren Einwurf - sollten Sie also noch etwas mehr hinzufügen wollen, tät's mich schon interessieren. Sonst eher nicht.
(Werter lehmann,
vielleicht könnten Sie Ihre Verteidigung der Mitchell-Arbeit ja ebenfalls mal ein wenig argumentativ unterfüttern?
Beste Grüße,
Anne Peter / Redaktion)
ich weiß dass es wohlfeil ist, sich an das diktum der redaktion anzuschließen... aber es fällt mir weiterhin auch nichts besseres ein als argumente für eine auseinandersetzung, die den namen auch verdient zu fordern und somit schließe ich mich der anregung von frau peter an. alles weitere aus dem bereich der diffamierungen ist mir wurscht. ich glaube ich habe zumindest halbwegs intersubjektiv zugänglich gemacht, was mich an diesem abend gestört hat, versuchen sie es doch auch in die andere richtung zu leisten oder bleiben sie beim meinen.
Ihr Rockmusik-Philharmoniker-Vergleich hinkt gar sehr, denn die spielen nicht hinter Stellwänden und stehen nicht auf Marke. Mit schwitzenden Schauspielern meinte ich keine rotköpfigen, heiser gebrüllten Volksbühnen-Möchtegerne, sondern sinnlich anwesende Menschen, die hinter den Stellwänden hervortreten und die Kameras mit den klappernden Kabeln ausmachen sollen. Die sind mir persönlich im Theater lieber. Deshalb gehe ich dort eigentlich auch hin.