Melancholie im Nachtzug

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 11. Mai 2013. Täuschung und Ent-täuschung sind hierarchisch angeordnet in Katie Mitchells Kölner Inszenierung "Reise durch die Nacht" nach einem Text von Friederike Mayröcker. Die Täuschung ist oben. Schon von der vierten Reihe im Radialsystem aus ist das Oben näher als das Unten.

In dem Film, der oben läuft, während er unten produziert wird, ist alles in fließender Bewegung. Der Nachtzug von Paris nach Wien braucht nur eineinviertel Stunden. Sonst stimmt alles: Der Schaffner trägt eine rote Mütze, seine Ansagen knistern und rauschen, und die Toilettenbeleuchtung ist äußerst unvorteilhaft.

reisedurchdienacht2 hoch StephenCummiskey xJulia Wieninger  © StephenCummiskeyEine, die hier mitfährt, stemmt sich gegen die Zeit, deren Gleichförmigkeit der Nachtzug imitiert. In Julia Wieningers Augen, an die ganz nah herangezoomt wird, stehen von Anfang an Tränen. Aufgerührt bis zum Geht-nicht-mehr zappt sie sich durch Kindheitserinnerungs-Fragmente und Überzeugungsfetzen und kann nirgendwo innehalten, um sich ihre Lebensgeschichte von dort aus weiter zu erzählen. Schon gar nicht in der hässlichen Gegenwart des Zugabteils, wo sich der ihr in dieser kurzen Nacht noch viel fremder als eh schon gewordene Ehemann die Zähne putzt. "Morgentoilette. Dass ich nicht lache", denkt sie, in ihrem Gesicht verdutzte Verachtung.

Dass wir hören, was sie denkt, kommt von unten. Da wird der Text von Friederike Mayröcker eingelesen, "die Frau" Julia Wieninger und ihre beiden Mitspieler, der Mann und der Schaffner (mit dem sie zwischendurch eine unwahrscheinliche schnelle Nummer schiebt) sind nebenan mit der Illustration beschäftigt. Oder ist es nicht umgekehrt? Mayröckers Worte illustrieren die Verzweiflung, die Mitchell und ihre Spieler und Kameraleute in stereotype Bilder kleiden? Die Worte jedenfalls fangen irgendwann an zu nerven. Dienen sie, so präsentiert, nicht nur dazu, die Verzweiflung der Protagonistin genauso sicher zu machen wie die Ankunft des Zuges in Wien am nächsten Morgen? Würden die Bilder ohne Worte nicht wenigstens ein paar mehr Möglichkeiten für diese immer uninteressanter werdende namenlose Frau enthalten?

Vielleicht kann die Erinnerung an die ent-täuschende untere Ebene, von der man ja auch etwas mitbekommen und abgespeichert haben müsste, die schwüle Melancholie, die sich im Raum aufgestaut hat, später wieder wegpusten. Vielleicht reicht auch der Maiabendwind.

Applaus für die Schauspieler und in unauffälliges Schwarz gekleideten Kameraleute, Buhs und laut darauf antwortende Bravos für Regisseurin Katie Mitchell.

 

Hier geht es zur Nachtkritik der Premiere von Reise durch die Nacht am Schauspiel Köln.

Kommentare  
Reise durch die Nacht, tt13: veraltetes Männerbild
Ich fand das war steriles Kabelträgertheater. Nachdem ich Fräulein Julie in der Schaubühne gesehen hatte, habe ich nicht viel von dieser Inszenierung erwartet. Und bin leider auch nicht überrascht worden. Zwischendurch habe ich mich mächtig gelangweilt und mir sehnlichst gewünscht, die Kameras mögen ausfallen, die Schauspieler aus ihren Kabuffs treten und sich endlich Raum nehmen.( Respekt vor den disziplinierten und präzisen Schauspielern). Und der Text transportiert für mich ein sehr veraltetes 80er-Jahre-Männerbild. Der Schläger und Unterdrücker. Und dazwischen die verzweifelte Frau. Untermalt von einem loungigen Sounddesign. Das Publikum war auch schon mal emphatischer.
Reise durch die Nacht, tt13: nichts verstanden
Wer Frau Mitchells Inszenierungstechnik als illustrativ abstraft, hat leider gar nichts verstanden. Es ist nämlich genau das Gegenteil.
Reise durch die Nacht, TT 2013: kaum fassbare Unschärfe
In Reise durch die Nacht halten sich Stärken wie Schwächen des Theaters von Katie Mitchell in etwa die Waage. Es wirkt umso besser, je offener, assoziationsstärker, andeutender das, was hier erzählt und dargestellt wird, ist, je mehr Bruchstellen vorhanden sind, durch die der Zuschauer blicken, in die er hineinhorchen kann. Reise durch die Nacht Macht zu wenige Angebote, stellt zu wenige Fragen, gibt zu vielen Antworten vor, um ein wirklich großer Katie-Mitchell-Abend, heißt, ein die Fantasie, das Weiterspinnen und Weiterdenken anregender Theaterabend zu sein. Und doch schenkt er dem Zuschauer so manchen jener Momente, wo diese kaum fassbare Unschärfe, die Mitchells Methode zu schaffen in der Lage ist, überraschende Blickwinkel weit jenseits der allzu eindeutigen Oberfläche ermöglichen, Perspektiven, die man gern weiter verfolgen würde, die aber in diesen kurzen eineinviertel Stunden viel zu schnell verfliegen. Schade eigentlich.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/05/14/schlaflos-im-raderwerk/
Reise durch die Nacht, TT 2013: sinnlos weiter gestrickt
@ Sascha kreiger - Wieso eine Inszenierung besser ist, wenn sie dem Zuschauer nur genug Bruchstellen lässt, durch die er in das Werk eindringen kann, ist auch so ein unkritisch hinterfragter Topos der Postdramatik, der hier wieder sinnlos weiter gestrickt wird. Auch die "kaum fassbare Unschärfe" ist wieder sehr beliebt. Absolute Klarheit und Geschlossenheit eines Werkes ist also scheiße, oder?
Reise durch die Nacht, TT 2013: Konzept muss passen
@4 "Absolute Klarheit und Geschlossenheit eines Werkes" kann wunderbar sein, wenn das küntlerische Konzept dazu passt. Bei Katie Mitchells sehr spezifischen Theaterkonzept ist das eher nicht der Fall.
Reise durch die Nacht, TT 2013: Gefühligkeitskino
Ich fand das ganze absolut geschlossen im Hinblick auf den eigenen Anspruch etwas genuin Theatrales zu erzeugen. Außer einem SEK-gleichen Einsatzwillen der Kamerabedienenden zum rechten Zeitpunkt an der rechten Stelle zu erscheinen und den auf die Dauer doch recht uninteressanten Requisiten einer Filmproduktion blieb das Ganze hermetisch und uninteressant.
Darüber hinaus ist dieser Angang an einen poetischen text, den ich by the way noch nicht mal für soooo toll halte (allzu sehr patiniert mit der diskursgeschichte vergangener tage), ist also dieser Angang an einen stream-of-conciousness-text eigentlich nur sendung-mit-der-maus-haft zu nennen. Wie es eigentlich gewesen war, als die Friederike den Text geschrieben hat, könnte die Unterschrift unter dieses Unterfangen lauten. Die theatrale Überhöhung fliegt ungesehen weg und macht einem ziemlich kitschigen und von den filmischen Mitteln her altbackenen Gefühligkeitskino Platz, in dem sich naturalistischer Anspruch mit aufblitzenden Gesten aus dem Kabinett des Dr. Caligari abwechselt (Flashback=Hand zur Stirn!)
Das Ganze wirkt wie eine streberhafte Umstrickung auf theatrale Avantgarde-bedürfnisse mit einem recht schlichten Kunst- oder auch Überbauverständnis; ich fühlte mich als Zuschauer eingeladen ab und zu mal ach ja, wie schlimm der Papa war zu murmeln um sonst andachtsvoll zu schauen und zu fühlen. Wo war denn bitte die tolle zweite Ebene? Alibi, meiner Meinung nach in dieser Zuschauersituation.
Reise durch die Nacht, TT 2013: hermetisch
Sehr wahr gesprochen, Herrmann. Hermetisch ist das richtige Wort. Mein Theater ist das nicht. Warum wird das als besonders bemerkenswert eingeladen? Erschließt sich mir nicht. Sicherlich wegen der "streberhafte Umstrickung auf theatrale Avantgarde-Bedürfnisse", über die sich die Jury so gefreut hat, daß sie es einladen mußte.
Naiv gesprochen hab ich es gern, wenn ich die Körper der Schauspieler auf der Bühne live und mitunter schwitzend erlebe. Nicht auf Marke stehend eingesperrt und von kultigen Requistiten umringt.
Reise durch die Nacht, TT 2013: dampfend
Liebe kaethe,
da bin ich ganz bei ihnen, was Theater mit dampfenden Menschen angeht.
Reise durch die Nacht, TT13: mit Schaufel + Spitzhacke
Wenn sie dampfende und schwitzende Schauspieler in einer durch Brüche gekennzeichneten Inszenierung sehen wollen, warum gehen sie dann zu Katie Mitchell und kommentieren die Inszenierung mit ihrem ideologischen Kritikerbesteck - das sich für mich als Schaufel und Spitzhacke darstellt?
Reise durch die Nacht, TT13: zu Neuem verführen lassen
Lieber Lehmann,
ich gehe zu Katie Mitchell, um mich von etwas Neuem und Interessanten verführen zu lassen. Immerhin soll es sich ja um eine "bemerkenswerte" Inszenierung handeln. "Schaufel und Spitzhacke" klingt nach Unterstellung, ich weiß nur leider nicht was Sie mir unterstellen wollen. Mein Versuch war auf jeden Fall differenziert Kritik an einer Veranstaltung zu üben. Dabei habe ich mich bemüht nicht ad personam zu argumentieren. Sollte Ihnen auch daran gelegen sein, mehr als das Argument, dass man zu Katie Mitchell nur gehen soll, wenn man das was die gute Frau macht, so oder so gut findet - so lese ich leider Ihren Einwurf - sollten Sie also noch etwas mehr hinzufügen wollen, tät's mich schon interessieren. Sonst eher nicht.
Reise durch die Nacht, TT13: Worthülsen
Differenzierte Kritik? Tut mir Leid, da muss ich lachen. Bei ihnen fallen nur banale Worthülsen, die zum Teil nicht mal einen Sinn machen. Was soll das heißen: "die theatrale Überhöhung fliegt ungesehen weg; Sendung mit der maus haft"? "Kitschig und altbacken" ist auch nicht gerade vielsagend! Jetzt wollen sie auch noch dampfende Schauspieler. Das ist mir als Kommentar zu Mitchell einfach zu primitiv.

(Werter lehmann,
vielleicht könnten Sie Ihre Verteidigung der Mitchell-Arbeit ja ebenfalls mal ein wenig argumentativ unterfüttern?
Beste Grüße,
Anne Peter / Redaktion)
Reise durch die Nacht, TT 2013: Intersubjektivität!
lieber lehmann,
ich weiß dass es wohlfeil ist, sich an das diktum der redaktion anzuschließen... aber es fällt mir weiterhin auch nichts besseres ein als argumente für eine auseinandersetzung, die den namen auch verdient zu fordern und somit schließe ich mich der anregung von frau peter an. alles weitere aus dem bereich der diffamierungen ist mir wurscht. ich glaube ich habe zumindest halbwegs intersubjektiv zugänglich gemacht, was mich an diesem abend gestört hat, versuchen sie es doch auch in die andere richtung zu leisten oder bleiben sie beim meinen.
Reise durch die Nacht, tt13: Erläuterung
Ich will die Mitchell Arbeit doch gar nicht verteidigen. Da haben sie etwas missverstanden, liebe Oberaufseher-Redaktion! Ich will klar machen, dass eine Kritik über Mitchell, die schwitzende Schauspieler etc. fordert, einfach fehl am Platz ist. Das ist vollkommen offensichtlich. Da lass ich mich gar nicht drauf ein. Wenn sie zu den Berliner Philharmoniker gehen, sich aber anschließend beschweren, dass man keine Rockmusik gespielt hat, dann hat der Kritiker ein Problem - nicht aber die Philharmoniker.
Reise durch die Nacht, TT 2013: sinnlich anwesende Menschen
Ich bin zu diesem Abend gegangen, um etwas neues kennenlernen, um nicht bestätigt zu bekommen: "Kennste eine, kennste alle" von Katie. Hat leider nicht geklappt.
Ihr Rockmusik-Philharmoniker-Vergleich hinkt gar sehr, denn die spielen nicht hinter Stellwänden und stehen nicht auf Marke. Mit schwitzenden Schauspielern meinte ich keine rotköpfigen, heiser gebrüllten Volksbühnen-Möchtegerne, sondern sinnlich anwesende Menschen, die hinter den Stellwänden hervortreten und die Kameras mit den klappernden Kabeln ausmachen sollen. Die sind mir persönlich im Theater lieber. Deshalb gehe ich dort eigentlich auch hin.
Reise durch die Nacht, tt13: Ästhetik B-Movie-artig
es war mein erstes katie mitchell stück und ich muss sagen, das mich die technische seite schon sehr beeindruckt hat, also: was man wie so alles machen kann mit kameras und ventilatoren und leinwänden (und geld). ich hab mich dann doch hinterher gefragt, warum, wenn es doch um bildproduktion geht die ganze zeit, das bild selbst dann immer so konventionell und eher uninteressant sein muss. die produzierte ästhetik war schon sehr b-movie-artig: diese weichzeichner-flash-backs die auch immer mit einem zucken im gesicht der hauptdarstellerin beendet wurden, das anzeigt, das sie gerade aus einer unguten erinnerung aufwacht/ der alten puppe/ den im licht glänzenden weihnachtspyramiden oder was das war/ der nummer mit dem schaffner. im grunde genommen kommt sowas nicht mal mehr in b-movies vor.
Reise durch die Nacht, TT 2013: mit Dirigenten Taktstock
@käthe - die Philharmoniker sitzen übrigens den ganzen Abend auf dem einen Stuhl - also auf "Marke", wie sie so schön sagen - und spielen sogar nach dem Taktstock des Dirigenten. Das können sie sich gar nicht vorstellen, dass aus soviel Determinismus Kunst entstehen kann. Ihr Begriff von künstlerischer Freiheit liegt ja vermutlich irgendwo zwischen individualistischer Selbstverwirklichung und körperlicher Sinnlichkeit, die auch schwitzen darf. Das ist halt die landläufige Annahme wie Theater in Deutschland zu sein hat, da ja auf der Bühne echte Menschen stehen und alles andere - böse böse - das Menschsein korrumpiert.
Reise durch die Nacht, TT 2013: Uhrwerk-Theater-Filme
@Lehmann- stellen Sie sich mal vor, ich gehe häufig in Konzerte, Klassik, Jazz, Rock. Ich weiß schon, wo Musiker sitzen. Was ich meinte, war die physische Anwesenheit, ohne eine Übertragung, das Live-Erlebnis. Und wenn ich jetzt eine deutsche Theater-Gouvernante bin und Sie sich besser dabei fühlen, bitte sehr! Ich finde Katie Mitchells Uhrwerk-Theater-Filme legitim, mir hat es einfach nicht gefallen und das ist mein gutes Recht.
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