Die heilige Johanna der Schlachthöfe - Der Shorty zum Gastspiel beim Theatertreffen 2013
Das Pferde(fleisch)mädchen
von Matthias Weigel
Berlin, 13. Mai 2013. Bei dieser "Heiligen Johanna" ist einfach für jeden was dabei. Zuvorderst für die, die endlich mal wieder Blackfacing nach allen Regeln der Kunst sehen wollen: Frau Luckerniddle, bei Brecht eine verarmte Arbeiter-Witwe, ist in Sebastian Baumgartens Zürcher Inszenierung flächendeckend schwarz angemalt. Rote Lippen, Afro-Perücke, ausgestopftes Hinterteil, Holzpantoffeln, Uga-Uga-Getue – da wird's Hallervorden gleich ganz warm ums Herz.
Auch wer schon immer davon überzeugt war oder werden wollte, dass dieser Johanna-Gutmensch die eindimensionalste und grenzdebilste Figur der Dramengeschichte ist, der kommt auf seine Kosten: Die zweieinhalb Stunden übersteht Johanna souverän unverändert als lullendes Pferde(fleisch)mädchen.
Und auch Politik-Verdrossene werden nicht vergrault, denn das Weltwirtschaftskrisen-Stück hält sich endlich mal raus aus der merkwürdigen Mode, etwas über unsere heutige Zeit und Welt erzählen zu wollen. Stattdessen erhalten Hobby-Metzger und Schlachter-Lehrlinge wertvolle Einblicke in die Tücken des Fleischkonservenhandels im vergangenen Jahrhundert sowie die wichtige Lektion, am besten einen guten Freund mit Marktverstand in New York zu haben.
Tatsächlich war im Theatertreffen-Publikum nun aber wohl keine dieser Interessengruppen anzutreffen. Selbst der Alleinjuror des Kerr-Preises hat in der Pause – seinen Sitzplatz gewechselt? Ihm könnte dadurch zwar ein Teil der schönen Klavierbegleitmusik von Jean-Paul Brodbeck entgangen sein, die Wesentliches zum rhythmischen, teils formalen, durch Kostüm und Maske auch stark entrückten Charakter des Abends beiträgt. Aber eine tiefergehende Haltung oder einen Ansatz zu diesem Brecht-Stück hat er nicht verpasst, denn davon war auch in der zweiten Hälfte nichts zu finden.
Das Applausometer-Fazit: Ruhiger Applaus mit vereinzelten Buhs ohne Widerspruch.
Hier geht es zur Nachtkritik der Premiere von Die heilige Johanna der Schlachthöfe am Schauspielhaus Zürich.
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Liebe Rezensenten, informiert euch und beschreibt nicht eure Empfindlichkeiten. Der Abend war großartig, die Jury hat es wenigstens verstanden, die Berliner Provinz von Weigel bis Schäfer schaffen das leider nicht.
Eine Anwesenheit zum Gespräch hat jedenfalls mehr Erleuchtung gebracht, als diese schlechten Kritiken.
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/05/16/nummernrevue-mit-v-effekt/
natürlich ist es schade, wenn die Berliner Provinz von Weigel bis Schäfer nichts versteht (Behrens hat nicht über "Johanna" geschrieben, könnte sich hier aber auch einreihen). Da Sie aber von Erleuchtung sprechen, fände ich es schön, wenn Sie uns an ihr teilhaben lassen könnten. Die Nennung des Wortes "großartig" allein jedenfalls macht mir Ihr Urteil noch nicht nachvollziehbar. Bitte leiten Sie es doch noch einmal für diejenigen mit weniger Verstand, also für Weigel, Schäfer und mich, her!
In Gesprächen kann man sehr viel erleuchten. Ich stehe mehr auf Erleuchtung auf der Bühne. Da war es allerdings oft recht finster, bis auf ein paar flimmernde Videofilmchen und jede Menge bunten Tant. Wir leben ja auch in finsteren Zeiten. Da ist ein bisschen Firlefanz auf der Bühne für manche schon das Hosianna. Bis jetzt der Tiefpunkt dieser aufgeblasenen Jubelschau.
http://www.dispositio.net/archives/1571
http://www.theatertreffen-blog.de/tt13/die-heilige-johanna-der-schlachthoefe/blackface-fail/
http://www.theatertreffen-blog.de/tt13/die-heilige-johanna-der-schlachthoefe/kunstmittel-oder-beleidigung-vier-stimmen-zum-blackfacing-in-der-heiligen-johanna-der-schlachthofe/
http://www.theatertreffen-blog.de/tt13/die-heilige-johanna-der-schlachthoefe/die-heilige-johanna-der-schlachthofe-28-zeilen-schlechte-laune/
1. Blackfacing ist nicht gleich Blackfacing. Theaterzeichen in mimetischen Aufführungen (Stichwort Schlossparktheater) funktionieren komplett anders als das in Baumgartens Inszenierung der Fall ist. Allein schon deswegen, weil hier nicht umgehend klar ist, auf was das Blackfacing eigentlich referiert. Wenn Baumgarten und sein Team im tt-Gespräch, wie ich gelesen habe (war nicht da), jetzt das Fass Kolonialismus aufmachen, tun sie sich m.E. keinen Gefallen, weil sie damit konkrete Referenz herstellen, die meiner Erinnerung nach so in der Inszenierung nicht angelegt ist bzw. die ich so nicht gesehen habe.
2. Blackfacing verletzt und zwar massiv. Deswegen muss sich jedeR TheatermacherIn überlegen, ob er/sie es einsetzt. Wenn das passiert, muss er/sie die Konsequenzen tragen. Ein pauschales Verbot, wie es zum Teil zumindest indirekt in den Kommentaren gefordert wird, ist aber problematisch, weil es die weitere künstlerische Auseinandersetzung verhindert.
3. Baumgartens Inszenierung steht m.E. in einer ästhetischen Tradition, die gerade nicht auf Vereindeutigung und klare Aussage setzt, sondern auf Pluralisierung der Bezüge, Überforderung der Zuschauer und Surrealisierung des Theaterraums. Die Diskussion hier und in den anderen Foren bestätigt sein künstlerisches Anliegen (ich habe mich seinerzeit gewundert, dass die Zürcher Premiere nicht heftiger diskutiert wurde). Er knüpft damit an eine Theaterästhetik z.B. der späten 70er Jahre an (Müller etwa), die zunächst in erster Linie auf Störung und Verwirrung zielt, ohne dass sich direkt sagen lässt, gegen was und für was die Inszenierung ist. Das ist m.E. eine künstlerische Haltung, mit der Baumgarten der Gegenwart sehr gerecht wird, weil die Welt seit Brecht doch noch etwas komplizierter geworden ist. Wenn ich die Welt erklärt bekommen möchte, gehe ich in den Gottesdienst oder lesen Helmut Schmidt in der "Zeit" - dafür muss ich nicht ins Theater gehen.
Warum der Nachtkritiker den nach der Pause leergebliebenen Sessel des Keer-Preis Jurors erwähnt, bleibt mir rätselhaft. Will er sich hinter dem breiten Meinungsrücken von Herrn Thieme verstecken oder ihn verpetzen? Das er als Juror nur bis zur Pause bleibt wäre ja nun nicht die feine Art.
Das Baumgarten ein internationales Proletariat darstellt, ist ja nicht schlecht gedacht. Nur er macht sich mit seiner Inszenierung über sie lustig. Ich nehme es zumindest so war. Die Figur der Frau Luckerniddle bei Baumgarten verweist meiner Meinung nach auf die Figur des Alboury in Bernard-Maria Koltés Stück "Kampf des Negers und der Hunde". Hier wirkt es aber albern aufgesetzt und unnötig. Da ist Blackfacing wirklich einfach nur Blackfacing. Mehr nicht.
An
Frau Intendantin Barbara Frey und Herrn Intendanten Thomas Oberender
Frau Yvonne Büdenhölzer, Leiterin des Theatertreffens
Herrn Vasco Boenisch, Juror
Frau Anke Dürr, Jurorin
Frau Ulrike Kahle-Steinweh, Jurorin
Herrn Christoph Leibold, Juror
Frau Daniele Muscionico, Jurorin
Frau Christine Wahl, Jurorin
Herrn Franz Wille, Jurorin
Herrn Sebastian Baumgarten, Regisseur
Frau Andrea Schwieter, Chefdramaturgin und stellv. Intendantin
"Die heilige Johanna der Schlachthöfe" von Berthold Brecht in der Inszenierung von Sebastian Baumgarten
Berlin, 16. Mai 2013
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir schreiben Ihnen, um die Inszenierung des Stückes „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ im Hinblick auf die (Re)produktion und Unterstützung von rassistischen Bildern zu kritisieren.
Die Absicht, Brechts Text neu zu lesen und mit den Mitteln des Theaters auf die historischen, politischen und sozialen Veränderungen der Welt zu reagieren, wird durch die Verwendung diffamierender, diskriminierender und stereotypisierender Zeichen konterkariert. An der Behauptung, Kapitalismus hätte früher keine globalen Ausmasse gehabt, wird unter anderem deutlich, dass sich Herr Baumgarten der historischen Bedeutung des Kolonialismus und dessen gegenwärtigen Auswirkungen nicht bewusst ist.
Sie als Verantwortliche für diese politische und letztlich auch künstlerische Fehlleistung hatten mehrere Möglichkeiten, Ihre konzeptionellen, inszenatorischen und kulturpolitischen Entscheidungen zu überdenken und zu revidieren. Diese Möglichkeiten haben Sie nicht wahrgenommen und Kritik als haltlos zurückgewiesen. In Bezug auf den Rassismus der Inszenierung haben sich bereits mehrere kritische Stimmen gemeldet, z.B. Henrike Terheyden, Summer Banks und Eva Biringer auf www.theatertreffen-blog.de oder Holger Syme auf www.dispositio.net. Wir würden eine Diskussion und Annahme dieser Kritik sehr begrüßen.
Die in der Inszenierung verwendeten Zeichen enthalten enormes Gewaltpotenzial. Es werden rassistische Stereotype und Stilmittel verwendet, ohne dass diese im Rahmen des Stücks kritisiert, besprochen oder kontextualisiert würden. Die Darstellung einer "Afrikaner_in" durch das in den letzten Monaten ausführlich diskutierte und von Schwarzen Menschen immer wieder kritisierte Stilmittel Blackface ist nicht das einzige rassitsitsche Stilmittel der Inszenierung. Auch andere Kolonialfantasien werden wieder zum Leben erweckt, etwa wenn das Kostüm der Frau Luckerniddle durch ein künstliches, besonders großes Hinterteil ergänzt wird. Diese Zeichen sind weltweit Synonyme für jahrhundertelange Unterdrückung von Schwarzen Menschen und Menschen of Color durch Weiße. Sie stehen für Versklavung, Deportation, Mord, Völkermord, Ausbeutung, Landnahme, soziale Ausgrenzung und die Betonung der Weißen Vorherrschaft. Zu behaupten, diese Zeichen wären rein ästhetische und darüber hinaus neutral, bedeutet die Leugnung dieser (gemeinsamen) Geschichte.
Die stereotypen Darstellungen beschränken sich allerdings nicht nur auf die rassistisch konnotierten Aspekte der Figur der Frau Luckerniddle. Auch die Darstellung des Hauswirts Mulberry fällt in diese Kategorie, ebenso der vorgeblich "jüdische Akzent" des Graham. Eine kapitalismuskritische Intention der Inszenierung rechtfertigt nicht die Verwendung solch drastischer Stereotypen, die auf Machtverhältnissen beruhen, die längst noch nicht überwunden sind. Vielmehr steht die Wiederholung verletzender Klischees dieser Absicht entgegen. Einer selbstkritischen oder ironischen Verwendung solch aufgeladener Mittel fehlt bisher die Grundlage einer breiten kritischen Debatte. Einer solchen Debatte wird auch nicht zugearbeitet, wenn diese Klischees einfach nur wiederholt und nicht dekonstruiert oder kontextualisiert werden.
Auf die Worte „Die Kunst ist frei“ darf kein „Aber“ folgen. Die Verantwortung, die Kulturschaffende tragen, lässt sich jedoch genauso wenig negieren. Theater findet nicht im luftleeren Raum statt - deshalb bleibt es notwendig, verantwortlich mit dessen Inhalten und Mitteln umzugehen und sich über mögliche gesellschaftliche Auswirkungen im Klaren zu sein. Die ungebrochene und unreflektierte Verwendung rassistischer Bilder wie in diesem Fall fördert innerhalb und außerhalb des Theaters nur eines – Rassismus.
Grada Kilomba sagt über die kontinuierliche Verwendung rassistischer Zeichen und Sprache: „Es ist ein gutes Beispiel wie Rassismus durch eine Machtdefinition bewilligt wird, das heißt die, die Rassismus praktizieren, haben nicht nur den Glauben an das Richtige ihrer Sache, sondern auch das Privileg und die Macht zu definieren, ob bestimmte Begriffe und Zeichen rassistisch oder diffamierend gegenüber denen sind, die diskriminiert werden. Eine absurde Situation, da die Perspektiven, die Definitionen und das Wissen von denen, die Rassismus erleben, absolut irrelevant werden.“ (HINTERLAND MAGAZINE, Ausgabe #15)
Es scheint uns, als habe Herr Baumgarten bei dieser Inszenierung weder Schwarze Menschen, noch Menschen of Color als potentielles Publikum mitgedacht.
Herrn Oberender und Frau Büdenhölzer fordern wir auf, vor Ablauf des Theatertreffens eine Möglichkeit zur öffentlichen Diskussion der Vorgänge zu schaffen. Sie als Vertreter des von öffentlicher Hand geförderten Kunstbetriebs haben die Macht und die Mittel dazu. Nutzen Sie sie!
Mit besten Grüßen,
BÜHNENWATCH
es ist schlicht unwahr zu sagen, dass die verwandten Mittel nicht kontextualisiert wurden. Der gesamte Abend funktioniert mit extremer Verfremdung bei ALLEN Figuren, so dass ein, wie schon oben angeführt surrealer Raum entsteht. Ein Alptraumraum, in dem derartig überdrehte Klischees m.E. keine Perpetuierung von rassistischen Stereotypen darstellt, sondern im Gegenteil diese in Ihrer "Zerrbildhaftigkeit" (schreckliches Wort, ich weiß) erfahrbar macht und dies ich wiederhole mich bei allen Figuren gleichermaßen und somit klar und erkennbar auch für sogenannte "black-" oder "yellow-" gefacete Figuren.
Ich finde es würde Ihnen als ernsthafte Kassandra gut zu Gesicht stehen, genau hinzublicken und nicht scheinbar wahllos den Sirenengesang mit Leid und Unterdrückung anschwellen zu lassen. Der ästhetische Raum ist nicht immer so eindeutig und trennscharf definierbar wie der politische - und kommen Sie mir bitte nicht damit dass Theater auch eine politische Veranstaltung ist, das ist schon klar. Trotzdem läuft die Wahrnehmung im Theaterraum doch zumeist nach anderen Regel als eine Bundestagsdebatte.
mit freundlichem gruß
Eine schwarz Angemalte, mit dickem Hintern, die etwas 'äffig' durch die gegen rennt, immer 'mal 'Uah-uah' rufen muß, ist demzufolge also die extreme Verfremdung, das überdrehte Klischee, das "Zerrbild" einer notleidenden, hungernden Proletarier-Frau, der gelb Angemalte, mit dünnem, langen Bärtchen, Nudeln schlürfend, der Lallende, dann das eines gierigen Vermieters? Lispeln und Stottern stehen dann für Morallosigkeit und (ebenfalls) Gier, 'Yiddeln' für den hintertriebenen Geldleiher, 'sexy' auf High-Heels herumstöckeln für erpresserischen Kapitalismus und und und? Verstehe ich Sie da richtig?
das stück, der regisseur, die TT jury, alle tun so als hätte es die aktuelle, wichtige debatte über blackfacing im theater nicht gegeben, sie setzen sich völlig unreflektiert darüber hinweg, ignorieren sie. wie eine zuschauerin auf dem TT-blog jedoch feststellte: blackfacing symbolisiert immer: blackfacing. eine rassistische bühnentradition. das ist ein bedeutender und von den machern ausgeblendeter historische verweis, und auch sie (#hermann) setzen sich über diese tatsache hinweg, wenn sie bühnenwatch hier "wahllosigkeit" in ihrer kritik unterstellen. denn rassismus findet durchaus auch da statt, wo sie und viele andere ihn (täglich) übersehen.