Fast ein Heimspiel

von Anne Peter

Berlin, 16. Mai 2013. Neulich bin ich – trotz Sandra Hüller! – auf meiner zweiten Karte für den Münchner Jelinek-Abend sitzengeblieben. Vor mir hatten sich schon drei andere von der "Verkaufe Karte"-Fraktion vor dem Haus der Berliner Festspiele postiert. Umso erfreulicher, dass dort heute Abend bei den "Ratten" aus Köln wieder die Last-Minute-Fans stehen, die einem ihr "Suche Karte"-Schild entgegenhalten.

Die Hineindürfer schlängeln sich über Garten und Bühneneingang des Festspielhauses an den Garderoben vorbei auf die Hinterbühne, wo normalerweise nur Darstellervolk haust und jetzt alle Theatermittel offen hergezeigt werden. Die clownsgeschminkten Schauspieler klauben dicht vor unserer Nase die Kostüme von der Stange, führen Ruck-zuck-Verwandlung vor, suhlen sich in Doppelrollen, setzen sich selbst mit dem vorn baumelnden Scheinwerfer ins rechte Licht und korrigieren sich gegenseitig – nicht nur in den Theaterdirektor-Szenen ("Lass die Hände unten!", "Nicht spucken!"). Das TT-Publikum gluckst dankbar, auch über die lustigen Insider-Scherze zu Alltagsexpertentrend und Shakespeare-"Kunstkacke". Geschenkt, dass aus dem Meta-Regiekonzept von Karin Henkel nicht die letzten Konsequenzfunken geschlagen werden.

dieratten 560 klauslefebvre u© Klaus Lefebvre

Dieses Schauspielerfest, diese Theater-auf-dem-Theater-Nummer passt nicht nur zu den mutmaßlichen Vorlieben der Jury für selbstreflexive Inszenierungen, sondern auch bestens ins Jubiläumsprogramm dieses 50. Theatertreffens, das sich in schön ausgedachten Feiereien selbst bespiegelt und berückschaut. Das zirzensische Flair dieses Abends wehte auch schon durch Henkels Kirschgarten (Theatertreffen 2011). Und Die Ratten sind noch vom Theatertreffen 2008 in Erinnerung, als die diesjährige Eröffnungs-Medea Constanze Becker ihre kindssehnsüchtige Prekariats-Frau-John in den Menschenpressen-Spalt des Bühnenbildes krümmte. Diesmal wird Frau John von Alfred-Kerr-Preisträgerin Lina Beckmann in den Bühnenboden gestampft, angstversteift, verschwitzt, verhärtet von Anfang an. Ihre Kollegen Lena Schwarz (als zittergliedrige Verzweiflungsakrobatin Pauline Piperkarcka, die der John ihr Kindeken verkooft, sowie als balletösendes Puppenmädel Walburga) und Jan-Peter Kampwirth (als delirierender Ausversehen-Mörder Bruno sowie als mit glühender Ernsthaftigkeit lispelnder Spitta) könnten dem diesjährigen Kerr-Juror Thomas Thieme als Kandidaten aufgefallen sein.

Das Berlinerische klingt in Köln sicher fremder als hier. Wären am Ende nicht die vernehmlichen Buhs fürs Regieteam, die sich in die Bravos für die Schauspieler mischen – man könnte glatt von einem Heimspiel sprechen.

 

Zur Nachtkritik der Premiere von Die Ratten am Schauspiel Köln im Oktober 2012.

Kommentare  
Ratten, TT13: Verantwortung der Schauspieler
"Wären am Ende nicht die vernehmlichen Buhs fürs Regieteam, die sich in die Bravos für die Schauspieler mischen" - wie oft sollen wir das noch lesen? Es wird höchste Zeit, die Schauspieler für das verantwortlich zu machen, was "das Regieteam" ihnen allerorten meint zumuten zu dürfen. Anders lernt "das Regieteam" es nie, jedenfalls nicht, solange die Zumutungen noch hier und da nach Erfolg riechen.
Ratten, TT13: Man muss funktionieren
Wollen hoffen das der Juror bis zum Ende drin war! Und an Herrn Steckel!Die Machtverhältnisse haben sich nach der drastischen Reduzierung der Ensembles doch erheblich zu Ungunsten der Darsteller verschoben. Die alten Zeiten sind vorbei! Und somit trägt der Arbeitgeber,sprich Regie und Leitung doch sehr viel Verantwortung. Ein Aufmucken der Spieler? Ja, auf eigene Gefahr! Zu ihren Zeiten und unter ihrer Leitung verehrter Herr Steckel mag Widerspruch noch geduldet worden sein, aber mit Verlaub, heute müssen selbst die namhaften Kollegen funktionieren. Man gilt sonst als schwierig. Das ist schlecht!
Ratten, TT13: Was man darunter versteht
Sie haben Recht - allerdings empfand ich einige Ihrer Arbeiten auch als "Zumutungen", zumindest für mich als Zuschauer. Warum hat sich da kein Schauspieler, keine Schauspielerin gewehrt? Vielleicht wäre ja mein Widerstand gefragt gewesen ... Sie sehen, was man als "Zumutung, die nach Erfolg riecht" versteht, variiert ...
Ratten, TT13: Ganz starker Abend
Die existenzielle Wucht, mit der uns Beckmanns John anspringt, hat viel damit zu tun, dass wir hier eben keinem naturalistischen Theater beiwohnen. Hier wird das Theatrale selbst zum Thema und zum Versuchsraum. Ist das Theater ein Ort, der in der Lage ist, in die Wirklichkeit auszustrahlen, diese aufzunehmen, sich an ihr abzuarbeiten, einer, der jenseits dieses Raumes eine Bedeutung hat. Wie Karin Henkel aus dieser Versuchsanordnung, diesem extrem artifiziellen Rokoko- und Punk- und Prekariatskitsch diese Geschichte entstehen lässt, diese Figuren, Sehnsüchte, Verzweiflungen, Ängste herausschält, ist streckenweise atemberaubend. Ob Bernd Grawert als bodenständig- hilflos-wütender Paul John, Kate Strong als Sidonie Knobbe, die ihre Anklage als Show-Auftritt herausschleudert oder Lena Schwarz als schon längst in der eigenen Hölle angekommenes und doch an den letzten verbliebenen Ich-Resten störrisch festhaltendes Menschenbündel Piperkarcka: Dieser Abend ist auch einer der Schauspieler, die alle letztlich dem eigentlichen zweiten Helden des Abends recht geben: dem Theater-Realisten Spitta, dessen Wirklichkeitsanspruch hier mit den Mitteln des Theaterkünstlers Hassenreuter den Sieg davonträgt. Was auch an Jan-Peter Kampwirth liegt, der den Spitta ebenso wie den Mörder Bruno spielt. irgendwann sind beide kaum mehr unterscheidbar, Seiten der gleichen Medaille, Gestalten, am Rande eines Abgrunds, in den jeder jederzeit fallen kann. Natürlich hat der Abend seine Schwächen: Insbesondere nach der Pause kippt das Gleichgewicht deutlich in Richtung Naturalismus, verschwindet die Theaterebene mehr und mehr, gerät die Inszenierung in eine Schieflage, aus der sie nur das atemberaubende Ensemblespiel rettet. Leider gibt Karin Henkel ihren inszenatorischen Ansatz irgendwann auf, überlässt sie die Bühne ganz Lina Beckmann, die damit allerdings Erstaunliches anzufangen weiß. Über weite Strecken hinweg ist dies jedoch ein ganz starker Abend, der die Kraft des Theaters feiert ohne je den Blick für seine eingeschränkte Wirkungsmacht, vor allem in unserer Zeit zu verlieren. Und es ist einer, der, ganz konservativ, die Rolle des Schauspielers in den Mittelpunkt rückt, als Vermittler, Erlebbarmacher, Wahrheitserzeuger. In einem nicht ganz so starken Theatertreffenjahrgang sind Karin Henkels Ratten ein echter Lichtblick.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/05/18/geburtswehen/
Ratten, TT13: Nachfragen
Zu Nr.3: Ich muss es fragen - welche Arbeiten denn? Und zu Nr. 2: Im Ernst? Warten wir ein wenig, ob Ihnen widersprochen wird oder nicht...
Ratten, TT13: ostentative Handwerklichkeit
Lieber Sascha Krieger,

Sie benennen als eine Schwäche des Abends, dass "nach der Pause das Gleichgewicht deutlich in Richtung Naturalismus" kippe und "die Theaterebene mehr und mehr" verschwinde. Mir scheint doch aber gerade das halbwegs konsequent zu sein, denn man könnte dann sagen, dass vor der Pause gewissermaßen Theater nach Hassenreuter und nach der Pause Theater nach Spitta gespielt würde. Leider kann ich aus eigener Anschauung diese These nicht untermauern, da ich die Vorstellung zur Pause verließ. Ich war von der ostentativen Handwerklichkeit, mit der Karin Henkel ihre Bilder gebaut hat, an diesem Abend einfach genervt. Meines Erachtens blieb (vor der Pause) der Meta-Theater-Diskurs vor den wirklich interessanten und vielleicht auch schmerzhaften Punkten stehen, es blieb alles in einem so harmlos unterhaltsamen Rahmen, dass ich mich schlicht gelangweilt habe. Nun besteht natürlich die Möglichkeit, dass Henkel und ihre Schauspieler diese Betonung der Handwerklichkeit sehr bewusst gesetzt haben, um im zweiten Teil dann ein "naturalistisches" Gegenkonzept dagegen zu setzen. Ich kann mir zwar nicht richtig vorstellen, dass Karin Henkel an ein solchs Konzept glauben könnte, aber wäre das trotzdem pausibel?
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