Das Flimmern im Publikum

Rudolstadt, 9. Juni 2011. Rudolstadt gilt seit Jahr und Tag als Vorzeigebeispiel für gutes Theater in der Provinz. Jetzt ist Christoph Dieckmann für Die Zeit (9.6.2011) ins kleine thüringische Städtchen gefahren, und berichtet in einem ganzseitigen (!) Artikel: Der Ruf ist begründet! Das 1792 erbaute, mit 260 Plätzen kleinste Stadttheater Thüringens sei "geistiges Zentrum und Anker der Identität, Geschichtsschatulle und Spiegel der Gegenwart."

Mit dem "Berliner Dichter" Steffen Mensching habe der Aufsichtsrat des Theaters 2008 einen "einen großstädtischen Flammkopf, der nie eine Bühne geleitet hatte", berufen. Einen solchen Flammkopf braucht es heuer auch. Denn wie allerorten drohen auch in hier Sparmaßnahmen. Die Finanzierungsverträge laufen 2012 aus; Thüringen "evaluiert derzeit die Bühnenlandschaft". Nach dem Verlust von Oper und Ballett drohe jetzt der Wegfall des 1635 als Hofkapelle gegründeten Orchesters. "Thüringens Duodez-Vergangenheit etablierte von Meiningen bis Altenburg Regierungssitze, mit Schlössern und Theatern zum residenzlichen Plaisir. Die DDR pflegte diesen Schatz. Der marktwirtschaftliche Staat ächzt unter den Kosten und baut ab", so Dieckmann.

Mensching zeige in Rudolstadt (das auch Nordhausen mitbespielt), "was Theater soziokulturell" zu leisten vermag. "Die Auslastung ist prima, es wird nicht unnütz Geld ausgegeben, und die 'Schicksalssinfonie' war die Krönung." Diese Schicksalssinfonie, verfasst von Mensching und seinem Dramaturgen Michael Kliefert, liefert gewissermaßen das Stück zur Stunde, das "Drama des Theaters selbst". Sie sei "virtuose Hochkunst, Politsatire und Klamauk, vor allem eine Theaterkultur-Revolution", insofern sie Schauspiel und Orchester vermählt. Thüringens Parlamentarier seien bereits zu Gast gewesen und "fanden sich trefflich amüsiert."

Mensching, sagt sein Kollege Matthias Biskupek, zeichne die "vornehmste Tugend des Kabarettisten aus: sich mit dem Volk gemein zu machen." Entsprechend volksnah gibt sich Mensching denn auch im Interview. Was in Rudolstadt nicht funktioniere, sei "Provokation um der Provokation willen" und "Selbstbefriedigungseitelkeit. Das lehne ich auch ab. Ich komme aus einer aufgeklärten, sozial gestimmten Ästhetik."

Anschließend macht Mensching klar, wogegen er sich mit diesem Ansatz wendet: "'Was erlebt man denn in Berliner Theatern?’, ruft Mensching. 'Toleranz und Bildung? Nein, Autismus und Selbstdarstellung, Anpassungsdrang, Trendhechelei. Ein Mixtum aus Volksbühnentrash und Schaubühnenegozentrik, aber keine Berührung, kein Flimmern im Publikum. Das beklatscht alles und feiert sich selbst. Die Provinz will konsistente Erzählungen der Welt.'"

(chr)

Kommentare  
Presseschau Rudolstadt: man braucht ja ein Gegenbild
Wobei man zu der Polemik schon auch anmerken könnte, dass - zumindest ich - in den gelungenen Volksbühnenarbeiten immer noch genau das finde: "Erzählungen der Welt" - und Konsistenz interessiert mich da weniger, die finde ich auch in der "Welt" selten ... Immer nur mit "Selbstbefriedigungseitelkeit" zu kommen ist da zwar verständlich - man braucht ja ein Gegenbild, an dem man sich abarbeitet - aber gerade im Volksbühnentrash habe ich über die irre Welt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in vielen Ländern des Ostens erfahren - und über die Depression im Kapitalismus, über die "Ja, Panik!" so wunderbar singt. Und ist das nicht "Erzählungen der Welt", ist das weniger Wert als eine direkte Kommunikation in einer Kleinstadt, nur weil es eine andere Weltsicht und -verarbeitung ist?
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