Spielweisen – Auf einer DVD-Edition befragt die Berliner Akademie der Künste neun Schauspieler, was sie auf der Bühne tun
Was in uns lügt, mordet, stiehlt
von Nikolaus Merck
Berlin, Oktober 2014. Was heißt das: Schauspielen? Was treibt einen auf die Bühne? Welcher Preis ist dafür zu bezahlen? Welche Wirklichkeit teilt man mit Zuschauern und Kollegen? So lauten einige der Fragen, die der Schauspieler und Sektionschef der Darstellenden Kunst in der Akademie der Künste Ulrich Matthes sich selbst und neun Kolleginnen* (vier Männer und fünf Frauen) hat vorlegen lassen. Zehn halbstündige Interviews vor leeren Zuschauerräumen versammelt die Doppel-DVD "Spielweisen", die die Akademie im Rahmen ihres Großprojektes Schwindel der Wirklichkeit herausgegeben hat.
An die Grenzen gehen
In Anlehnung an Büchners "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt" fragen hier zehn Gesprächspartner (von den Schauspielerinnen selbst gewünscht oder bei Indifferenz von der Akademie ausgesucht) nach dem inneren movens, nach dem, was die Künstler antreibt, ihre Scham und das Gefühl des Ungenügens zu überwinden und ins Licht der Bühne zu treten.
Es ist erstaunlich, wie verbreitet unter hoch gerühmten Schauspielerinnen die Unsicherheit ist, die Furcht, im nächsten Moment vor versammelter Zuschauerschaft als Hochstapler, als einer, der seinen Beruf nicht beherrscht, entlarvt zu werden. "Starke Selbstzweifel, die mich nie verlassen", gibt Edith Clever zu Protokoll, "ich denke immer, alles bricht zusammen, wenn ich meinen Mund halte" der eine Generation jüngere Joachim Meyerhoff, "dies Überkompensieren durch zu viel Gestaltung hat irrsinnig viel mit Angst zu tun", sagt seine Altersgenossin Wiebke Puls.
Die Echtheit, die verlangt wird
Und die Gefahren beim Theaterspielen sind vielfältig. Das beginnt schon auf der Probe, wo Regisseure – wenigstens solche mit der Autorität eines Jürgen Gosch – sich nicht scheuen, Menschen "aufeinander loszulassen", bis sie weinend und schreiend davon laufen, berichtet Wiebke Puls. An die Grenzen gehen heißt das Spiel, sie erkunden und wenn möglich überschreiten, und ein Vergnügen ist es nicht. Denn das Eigene, das eingeht in jede spielend entworfene Figur, ist von der Angst umgrenzt, hilflos, wehrlos, nackt zu sein. "Die Echtheit, die verlangt wird", fragt Sandra Hüller, "wie schützt man sich davor?" Weshalb ein herkömmlicher Theaterabend in einem Stadt- und Staatstheater geradezu strotzt vor Sicherheitsmaßnahmen, die Verabredungen genannt werden.
Warum also tun Menschen sich dies an, sich derartig selbst in Gefahr zu begeben jeden Abend aufs Neue? Natürlich fällt die Antwort bei zehn Individuen, mit Ausnahme von Signa Köstler klassisch ausgebildet allesamt, nicht einheitlich aus. Gemeinsame Motive lassen indes unterscheiden. Die Einen spielen, um zu erzählen, davon "wie ich das Menschsein sehe" (Maren Eggert), eine größere "Fähigkeit zur Empathie" will Ulrich Mathes bewirken, indem er seine Zuschauer dazu bringt, sich mit "unterschiedlichen Menschenwahrheiten" auseinanderzusetzen; das Unausgesprochene zeigen möchte Jens Harzer, der spielend herausfinden will, ob es nicht auch noch "ganz andere Wünsche als den Ehestreit zwischen Tessmann und Hedda Gabler" gibt, ob die beiden nicht eigentlich auch fragen: "Warum sind wir denn hier nicht Liebende?"
Guckkasten-geschütze Einfühlungskunst
Diesem Motiv der "Menschendarstellung" gesellt sich ein zweites, gewichtigeres wohl, das von der Selbsterfahrung der Spielenden handelt. "Die Lust zu spielen, den Spieltrieb, dann wenn's läuft", betont Sepp Bierbichler als den stärksten Antrieb sich "herzuzeigen" auf einer Bühne, derweil Wiebke Puls es schätzt, andere Erfahrungen zu machen, "in Situationen zu kommen, in die ich selbst niemals kommen würde, ohne mich in Lebensgefahr zu begeben". Wenn "alles gut gegangen ist" für Fabian Hinrichs, der darauf besteht auf Augenhöhe mit den Regisseuren einen Abend zu entwickeln, "dann vergess' ich mich selber, es ist wie in einer Art Wolke, in der ich ganz klar bin und angstfrei". Auch für Sandra Hüller ist klar, "ich bin gescheitert, wenn ich keinen Genuss mehr empfinde". Unzweideutig auch Ulrich Matthes' Bekenntnis zu den "Intensitäten" seines Berufes, vergleichbar nur dem Ausnahmezustand "frischester Verliebtheit".
Doch zugleich gehört zu dieser bunten Jacke der Selbstlust ein anders gemustertes Innenfutter, eine Art Verpflichtung, die offenbar die Mehrzahl derer, die hier Auskunft geben, miteinander teilt. Obschon die Guckkasten-geschützte Einfühlungskunst etwa eines Ulrich Matthes wenig gemein hat mit der sich selbst körperlich aussetzenden Realwelt-Performance von Signa Köstler sehen sich beide offenbar einer eigentümlichen Wahrheit verpflichtet: Von der "künstlichen Wirklichkeit" der von ihr eingerichteten Spielwelten spricht die Performerin und Bildende Künstlerin Signa Köstler, "in der aber die Begegnungen echt sind". Zum "Wahrhaftigkeitskern" einer Figur vorstoßen will Ulrich Matthes, und auch Jens Harzer träumt von einem geheimnisvollen Surplus des Spielens: "Wir müssen eine Welt gegen diese Welt halten, dafür sind wir da. Die richtig tollen Schauspieler spielen den Ehestreit, aber sie spielen noch viel mehr. Es sind immer unfertige, nicht fertige Lebensmodelle, eine Infragestellung der Wirklichkeit. Groß gesagt, ein Nicht-Einverstandensein mit der Welt."
Licht aus der Tiefe des Glaubwürdigkeitsspalts
Dies lohnt genauere Betrachtung. Die Wirklichkeit des Theaters gleicht nicht der Wirklichkeit vor seinen Türen. Das "Nicht-Einverstandensein mit der Welt" kann nur gespielt werden, wenn die Welt mit all ihren Zufällen im Theater in einem dichten Sicherheitsnetz ruhiggestellt wird. Auf der Bühne, auf der möglichst alle Welt-und-Wirklichkeits-Zufälle durch Verabredungen ausgeschaltet werden, steht der klassische Schauspieler und erhebt den Anspruch, an eine Art höhere Wirklichkeit zu rühren. Obwohl dem Schauspieler niemand glaubt, dass er "wirklich" ein anderer sei, entwirft er mittels seiner Körperlichkeit, seiner schauspielerischen Mitteln eine Figur, die, wenn sie glückt, Zuschauer (oder zumindest Kritiker) gerne als "glaubwürdig" apostrophieren (wobei "glaubwürdig" naturgemäß eine Verkleinerung des Erreichten bezeichnet, weil ein "glaubwürdig" gespielter Busfahrer ja nur einer sein kann, der allen in der Vergangenheit vom Kritiker erlebten und erträumten Busfahrern, aber niemals einem wahrhaftig fantastischen Busfahrer einer zukünftigen Glaubhaftigkeit entspricht).
Auf dieses Paradox zielt Petra Kohse in ihrem luziden Einleitungsaufsatz der Edition, wo sie es als die "dritte Sache" apostrophiert, von diesem Paradoxon geht auch zwischen Peter Kümmel und Joachim Meyerhoff die Rede, wenn sie die "bestialische Sehnsucht nach Wahrheit" aufs Korn nehmen, "dass das, was oben auf der Bühne stattfindet, wahr sei, gleichzeitig aber das Wissen: Es ist natürlich nicht wahr, und dass dies zusammen eine große Traurigkeit über das Theater wölbt". Gleichwohl leuchtet gerade aus der Tiefe dieses "Glaubwürdigkeitsspalts" – "dass dort Leute sitzen, die glauben wollen, andererseits tief ironisch wissen, dass das, was auf der Bühne geschieht, natürlich nicht wahrhaftig ist" – ein fernes Licht der Hoffnung her. Joachim Meyerhoff: "Wir können heute, das hat sich geändert in den letzten 30 Jahren, das Spiel um drei mehr Ecken drehen, wir können spielen, dass wir eh alles wissen, dann unsere Naivität wiederfinden und in der Naivität wieder die Freude daran haben, dass es doch gespielt ist. Oft empfinde ich das als gemeinsames Spiel von Schauspielern und Zuschauern, dass man darum ringt".
Und wenn während dieser stummen Zwiesprache zwischen Schauspielern und Zuschauern (von der übrigens auch Ulrich Matthes spricht, wenn er sagt von Anfang an hätte er immer die vierte Wand durchbrechen und Kontakt aufnehmen wollen mit dem Publikum), diese Wippe von Naivität und Skepsis einen Moment in die Balance kommt, dann kann es sein, dass, so Meyerhoff weiter, im Theaterraum die "Zeit sich öffnet", "Dinge unkalkulierbar" werden und "Wahrheit" anschaubar. Vielleicht muss man sich diesen merkwürdigen Augenblick vorstellen als das Glitzern der Tränen auf Ulrich Matthes' Wangen im "Onkel Wanja".
Taumel der Veränderung
"Schwindel der Wirklichkeit" heißt das herbstliche Schwerpunktprojekt und zugleich eine Ausstellung der Akademie der Künste, in der die zehn Videogespräche noch bis zum Dezember in Berlin zu sehen sein werden. Gewidmet ist das ganze Unternehmen dem im Juli dieses Jahres gestorbenen Schauspieler Gert Voss. Von ihm erzählt Jens Harzer, dass er, ein "Al Pacino im deutschen Stadttheater", mit fertig ausgetüftelter Figur zur ersten Wallenstein-Probe bei Andrea Breth im Burgtheater erschienen sei. Wahrscheinlich dachte Ulrich Matthes an Künstler vom Schlage eines Voss, als er in seinem Geleitwort schrieb, es sei der Schauspieler, der allabendlich die hoch arbeitsteilige Kunstform Theater vollende. Ein ebenso schöner wie unzutreffender Satz, weil genauso gut ein Performer mit seinem "Schau-Sein" oder ein backstage videografierter Schauspieler auf einem Screen über der Bühne das Theater vollenden kann.
Vielleicht zeigt uns die fast unüberbrückbar erscheinende Distanz des perfekt und irgendwie auch luftdicht vorbereiteten Großdarstellers Gert Voss zu Joachim Meyerhoffs, seine ironische "Wahrheit" aus dem Widerspiel mit dem Publikum schöpfenden Schauspieler mehr als alles andere, in welchen Wirbel, in welchen Schwindel der Veränderung auch die Schauspielkunst in den zurückliegenden Jahren geraten ist.
* Zur Schreibweise: den Plural von Schauspieler, Künstler etc habe ich alternierend weiblich, männlich gesetzt, um unschöne Formalismen zu vermeiden. Gemeint sind in der Regel Frauen und Männer.
{denvideo=http://www.youtube.com/watch?v=pgUgoQONTAQ}
Spielweisen. Gespräche mit Schauspielern
Kurator: Ulrich Matthes, Projektleitung: Petra Kohse, Mitarbeit: Tanja Krüger, Regie und Schnitt: Ingo J. Biermann.
Videopräsentation im Rahmen der Ausstellung "Schwindel der Wirklichkeit", bis zum 14. Dezember 2014, Berlin.
Mit: Sepp Bierbichler, Edith Clever, Maren Eggert, Jens Harzer, Fabian Hinrichs, Sandra Hüller, Signa Köstler, Ulrich Matthes, Joachim Meyerhoff und Wiebke Puls.
Als Gesprächspartnerinnen: Andres Veiel, Nele Hertling, Anika Steinhoff, Sebastian Heindrichs, Matthias Dell, Yvonne Büdenhölzer, Matthias Weigel, Hans-Dieter Schütt, Peter Kümmel und Matthias Lilienthal.
DVD-Edition, 2 DVDs, Booklet 62 Seiten, deutsch / englisch, englische Untertitel, herausgegeben von der Akademie der Künste, 22 Euro.
www.adk.de
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Edit: Ach nee, nich Daniel, Inga war's ja schon wieder, hi, Inga - hätt ich mir ja gleich denken können - wie konnt ich Sie nur so verwechseln!