Lernen aus dem Lockdown? - Eine Publikation des Impulse Theater Festivals beschreibt die Situation freier Theater und Künstler*innen in der Corona-Krise
Die Krise als Chance oder Tütensuppe
von Karin E. Yeşilada
18. November 2020. So hatten sich die Macher des Impulse Theater Festivals ihr 30. Jubiläum nicht vorgestellt. Auch ihnen machte die Covid-19 Pandemie einen Strich durch die Rechnung – Veranstaltungen mussten abgesagt werden, ein kleines Festival-Programm lief online. Parallel dazu verlegte man sich aufs Schreiben und erbat Stellungnahmen von Theatermacher*innen. Insgesamt 27 Beiträge und Positionierungen aus der Corona-Krise des Freien Theaters kamen zusammen.
Der soeben erschienene Band "Lernen aus dem Lockdown?" leuchtet die Situation ausbleibender Fördermittel, stornierter Spielpläne und leerstehender Theaterhäuser aus verschiedenen Perspektiven aus. Bei diesem "Nachdenken über Freies Theater", so der Untertitel, geht es um das Grundrecht der Kunstfreiheit, um Förderpolitik und Prekariat, um die Verwundbarkeit des Körpers im Theaterraum, Ausgrenzung der Minderheiten und um die Hoffnungsformel Digitalität. Zudem bietet der Band Impulse, die zur Identifikation, zum Gruseln, bisweilen zum Schmunzeln, vor allem aber zum Nachdenken einladen.
Dokumentation der Leerstelle
"Life is not fair. Get used to it", lautet eine der Sieben Regeln von Microsoft-Gründer Bill Gates. Das weiß der prinzipiell unterfinanzierte Theaterbetrieb schon länger, und doch hat sich die Situation, seit die Häuser im ersten Lockdown schließen mussten, dramatisch verschärft. Keine Spielzeit, kein Honorar, lautet die vereinfachte Formel. Heruntergebrochen ergibt sich das Bild eines prekären Existenzzustands. So fragen sich nun Tausende um ihr Spielzeithonorar gebrachte freie Schauspieler*innen, wie sie die nächsten Monatsmieten zahlen und gewöhnen sich an die neue Härte des Lebens. Auch im zweiten Lockdown fällt der Kulturbetrieb im Land der Dichter und Denker unfairerweise aus der "Systemrelevanz" heraus – get used to it.
Diese staatlich verordnete Gewöhnung an den Lockdown kulturellen Lebens nimmt das Herausgeberteam des zweisprachigen Bandes (Wilma Renfordt, Haiko Pfost und Falk Schreiber) zum Anlass der Reflexion. Vor allem aber verstehen sie den Band als Dokumentation des Verlusts, der Leerstelle, an die sich nicht allein die Theaterverantwortlichen zu gewöhnen haben. Es bleibt die dringliche Frage, "wie es denn eigentlich weitergehen soll: politisch, ästhetisch, strukturell".
So let's get used to it – aber wer? Nur die Theaterverantwortlichen? Wie geht eigentlich die Gesellschaft mit dem Verlust kulturellen Lebens um? Dazu passt eine Meldung aus der (westfälischen) Lokalpresse dieser Tage: Der Absatz von Mastgänsen habe sich leicht erhöht, was darauf zurückzuführen sei, dass die Menschen in diesen Zeiten eben besser essen wollten. Doch wie viel kann sich ein um sein Honorar gebrachter Künstler oder Journalist im täglichen Bedarf überhaupt noch leisten? Mastgans oder Tütensuppe, that's the question. Es gilt, im Sinne der Herausgeber*innen, die Leerstelle auszuhalten. "Zeige deine Wunde", rät Falk Schreiber denn auch völlig unironisch, "zeige deinen Antrag: Corona-Sofort-Hilfe für Soloselbstständige! (aber nicht für dich, nicht für dich!) Zeige das Ablehnungsschreiben."
Verletzlichkeit des Körpers in der Isolation
Die Verwundbarkeit der um den Begegnungs- und Berührungsraum beraubten Theater-, Performance- und Tanzszene auszuloten, darum geht es einigen der Beiträger*innen im Band. Mbene Mbunga Mwambene, zambisch-malawischer Schauspieler, Tänzer und Autor in Bern, reflektiert seine als "insulting" gelesene Präsenz als "schwarzer Körper" auf der Bühne. Wo aber findet diese kritische Interaktion nun statt?
Ähnliche Erfahrungen teilt auch die indische Tänzerin und Choreografin Diya Naidu, wenn sie die Topographie der Verwundung als eine globale, Grenzen von Rasse und Macht überwindende Erfahrung wahrnimmt, die via Zoom Meetings teilbar und in Teilen auch heilbar ist, etwa durch den "Circle of Resilience", in dem sich Zoom-Teilnehmer*innen unter therapeutischer Anleitung begegnen und über die Folgen des Lockdowns austauschen. Interessante Spiegelung: Die Krankenschwester in der Runde nimmt die ganze Sache als Gelegenheit wahr, im Sinne ihrer Bestimmung zu dienen.
Sibylle Peters berichtet von einem noch kurz vor dem Lockdown gelungenen Projekt körperlicher Berührung, "Queens. Der Heteraclub", wo heterasexuelles Begehren performativ quasi ertastet und Grenzen der Verletzlichkeit durch Berührung erkundet wurden. Habe es zuvor schon an einer echten "Ästhetik der Berührung" in der Kunst gefehlt, so wirke die Verknappung der Berührung durch den Lockdown umso stärker. Dass dies nun erstmals für eine Mehrheit erfahrbar werde, merkt Peters fast schon mit Genugtuung an. Der Auftrag an die Kunst sei klarer denn je: "Berührung als performative Praxis" müsse endlich ernstgenommen werden.
Womöglich gehört dazu auch das gezielte Dosieren der ans Publikum auszuteilenden "Schläge", gerade im Hinblick darauf, dass Theater in Zeiten des Lockdowns selbst eins "in die Fresse" kriegt. Wilma Renfordt jedenfalls plädiert für "die richtige Vorsicht" beim Austeilen, im Sinne einer reflektierten Konfrontation mit dem, was es auszuhalten gilt.
Blick auf weißbunte Flecken im Vorhang
Dieser allgemeinen Einschätzung halten jedoch jene entgegen, die Renfordts angedeutete "Schutzmaßnahmen" für sich nicht reklamieren können. Randgruppen, die schon immer zu den weißen Flecken des Theatersystems einer Mehrheitskultur gehört haben, Theaterschaffende mit und ohne Behinderung etwa, die im Shutdown besonders unter dem Wegfall gewohnter Strukturen zu leiden haben, wie das Hamburger Kollektiv Meine Damen und Herren herausstellt.
Corona verschärft hier noch einmal Ungleichheiten, und dies auch innerhalb des Kollektivs, können doch nicht alle gleich schnell und virtuos im digitalen Raum agieren. "Wir sind produktiv, ohne Frage, aber langsam", schreiben sie. Bedrückende Einschätzung, dass der Theaterbetrieb post-Shutdown vermutlich "weitgehend ohne die Beteiligung von Künstler*innen mit Behinderung hochgefahren" wird. Dennoch sei man fest entschlossen, die eigene Sichtbarkeit durch neue Formate aufrechtzuerhalten.
Kuratorin und Critical Whiteness-Forscherin Joy Kristin Kalu fordert im Sinne machtkritischer Impulse und mit Blick auf das Publikum wiederum die Aufhebung jener Barrieren, die verletzliche Personen, also die Älteren, vom Theater abhalten. Stark auch der Beitrag von Michael Annoff und Nuray Demir zur beziehungsweise gegen die monokulturelle Dominanzkultur des Theaters vor und im Lockdown. Mag es auch wie ein alter antirassistischer Schuh klingen, ihre Feststellung, dass das Theatersystem mitsamt seinen Strukturen institutioneller Diskriminierung schon immer in einer Art Lockdown war, trifft zielgenau.
Wurde die Veränderung hin zu einer Sichtbarmachung und Ermächtigung migrantischer Künstler*innen im Theaterbetrieb schon zuvor verpasst, so drohe nach-Corona-Zeiten eine Verschärfung dieser gesellschaftlichen Spaltung: "(D)iskriminierte Künstler*innen müssen (…) bangen, endgültig aus dem Spiel geworfen zu werden." Die Hoffnung auf die Entstehung eines postmigrantischen Theaters sei daher ebenso Illusion wie die Formel von Solidarität, so die Autor*innen. Originell ihr Verweis auf die jahrzehntelange Expertise eingewanderter Familien im Streamingbereich – gemeint sind hier die Abertausenden selbstproduzierter Homevideos für die Verwandten in der ausländischen Heimat – die das heimische Wohnzimmer lange vor der aktuellen Schauspieler-im-Wohnzimmer-Streamingpraxis schon zur interkulturellen Performance-Stätte gemacht haben "Wer solche Meisterwerke kennt", ätzen Annoff / Demir, "kann im Lockdown der Theater nur müde gähnen."
Hoffnung auf die Auferstehung
Wenn Falk Schreibers anfangs zitierte Ästhetik des Zusammenbruchs an die christliche Märtyrer-Ikonographie erinnert, so wäre zu fragen, ob es auch Hoffnung auf eine Auferstehung des Theaters nach dem Lockdown gibt. Tatsächlich sehen da einige Beiträger*innen Licht am Horizont, Stefanie Wenner etwa. Die Professorin für Theaterwissenschaft reflektiert über die Wirkungen dieser erzwungenen Atempause, über das, was sich bei diesem Stillstand erspüren und entfalten lässt. Das Potenzial der Unterbrechung verspricht demnach die Möglichkeit, eine "neue Theaterkultur" auf den abgebrochenen Fundamenten "versteinerter Institutionen" zu errichten, ein neues, lebendiges Theater zu kreieren, "new life theater", wie es Wenner imaginiert. Atmen nach der Atempause also.
Die Macher*innen des Hamburger Festivals Hauptsache Frei berichten von ihrem dem Shutdown geschuldeten Umzug in die digitalen Räume, was nach einigen Anstrengungen – Arne Vogelsang hält hierfür in seinem Beitrag witzige Anleitungen bereit – auch gelungen ist und in eine Professionalisierung im Umgang mit digitalen Anwendungen mündete.
Abwägungen des Für (neue Räume und Formate) und Wider (Verlust der unmittelbaren Begegnung) von Digitalität und Digitalisierung des Theaters bestimmen einen guten Teil des Sammelbands. Der Leiter des NRW Kultursekretariats, Christian Esch, gibt sich da optimistisch und verweist auf die unbestreitbare gegenseitige Befruchtung von Film und Computerspielen als mögliches Vorbild für die systemische Transformation des Theaters. Falk Schreiber sekundiert mit dem Beispiel des digitalen Wandels der Musikindustrie. Wo die einen Möglichkeiten neuer Solidarität und demokratisierter Arbeits- und Begegnungsprozesse hervorheben (Swoosh Lieu, Felizitas Stilleke), erscheint anderen die neue Zementierung gesellschaftlicher Verwerfungen unumgänglich (Anja Quickert, Daniela Dröscher).
Das "Lernen aus dem Lockdown", so zeigt der gelungene Sammelband, geschieht auf unterschiedlichen Ebenen und durchaus widersprüchlich, skeptisch und konfliktreich. Und nicht ohne Wut und Wunden, wie Arne Vogelsangs eingangs noch ironische Sentenzen zur Digitalisierung des Theaters zeigen: "Netzwerke produzieren kein Publikum." Hat das Theater da überhaupt eine Chance? Immerhin, "Hauptsache Frei" zählte Klicks, sammelte Feedbacks und sah sich in den Bemühungen bestätigt.
Leere Theaterhäuser, pandemische Kulissen
Wie aber geht es den Gebäuden im Lockdown, den heiligen Hallen und Brettern? Den Band durchziehen dutzende Fotografien aus den leeren Theaterhäusern, die ab und an für Lagebesprechungen im kleinsten Kreis, teils nur noch zum Blumengießen betreten werden. Ausgedünnte Stuhlreihen, herumliegende Kabel und Vorhänge, vergessene Leitern. Einige Häuser werden in der freien Zeit saniert. Diese Bilder entfalten ihre ganz eigene, verstörend anrührende Ästhetik, erzählen von der Leere, die der Lockdown ein weiteres Mal in die sterbende Theaterlandschaft reißt. Bedeutungsvoll schauen die auf etlichen Sitzen des Hebbel am Ufer (HAU) montierten überlebensgroßen Augen auf die Bühne: Es scheint, als beobachteten sie sehr kritisch, welcher Wandlungsprozess sich dabei auf der leeren Bühne vollzieht, welche Wirkungen die dort nun installierten Videoübertragungen und Streamings entfalten.
"Lernen aus dem Lockdown" liest sich mit Gewinn. Womöglich schaffen die ausgebluteten Theater den digitalen Sprung nach vorne. Im besten Falle gelingt die überfällige Reform problematischer oder diskriminierender Strukturen. Bleibt zu hoffen, dass sich die prekäre Situation der vielen freien Künstler*innen nicht noch weiter verschärft.
Lernen aus dem Lockdown?
Nachdenken über freies Theater
Eine Publikation des Impulse Theater Festival
Herausgegeben von Haiko Pfost, Wilma Renfordt, Falk Schreiber für das NRW Kultursekretariat.
Mit Beiträgen von Jörg Albrecht, Michael Annoff und Nuray Demir, Nora Auerbach und Sonja Laaser, Holger Bergmann, Jan Deck, Daniela Dröscher, Christian Esch, Joy Kristin Kalu, Julian Kamphausen und Susanne Schuster, Sebastian Linz, Meine Damen und Herren, Mbene Mbunga Mwambene, Diya Naidu, Boris Nikitin, Sara Ostertag, Christine Peters, Sibylle Peters, Anja Quickert, Sahar Rahimi, Yves Regenass, Wilma Renfordt, Falk Schreiber, Felizitas Stilleke, Swoosh Lieu, Arne Vogelgesang, Stefanie Wenner.
Alexander Verlag Berlin, 232 Seiten, 14 Euro.
- Lernen aus dem Lockdown: Kulturflatrate
- #1
- Rolf Mueller
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