Theaterbrief aus Ungarn - Eindrücke vom Dunapart-Festival der unabhängigen Theater und einem Kulturbetrieb in Aufruhr
Tage des Zorns
von Esther Slevogt
Budapest, im Dezember 2019. Der Mann, der da in grünem Trachtenswams auf der Bühne des Fészek Müvészklub in witzigster Giftzwergmanier sein Unwesen treibt, gegen alles und jeden (und besonders natürlich die Orbán-Regierung) wütet, dabei seine Schauspieler terrorisiert, sexuell nötigt und einen am Ende gar enthauptet, heißt Béla Pintér und gehört zu Ungarns berühmtesten freien Theatermachern. Als solcher aber ist er dieser Tage so etwas wie ein letzter Mohikaner. Viele der Theatercompagnien, die das ungarische Theater in den Jahren um die Jahrtausendwende europaweit berühmt machten, haben sich unter dem Druck der Verhältnisse aufgelöst oder arbeiten kaum noch in Ungarn, darunter die Truppen von Viktor Bodó und Arpád Schilling. Pintér jedoch hat mit seiner Compagnie den kulturpolitischen Erdrutsch, den die Jahre nach dem zweiten FIDESZ-Wahlsieg im Jahr 2010 mit sich brachten, überlebt und kann nun das 20. Jubiläum feiern.
Und das tut Pintér – in Budapest geliebt und gefürchtet für sein derbes wie luzides Volkstheater zwischen politischem Kabarett und trashigem Aggro-Dada – mit dem Stück Jubileumi beszélgetések / Jubiläumsgespräche nun auf seine berühmt-berüchtigte Weise. Er spielt einen Theaterdirektor namens Belá Pintér, der das 20. Jubiläum seiner Compagnie feiert. Zunächst wird am langen weißgedeckten Tisch auf der Bühne noch Talkshow simuliert. Das Jubiläumsstück wurde nämlich nicht fertig. Das zumindest ist der Vorwand für das kleine Frage-und-Antwortspiel zu Geschichte und Status Quo der Truppe, mit dem sich der Abend langsam warm läuft.
Den Moderator gibt Zoltán Szabó, ehemaliges Mitglied von Viktor Bodós "Szputnyik Shipping Company", der Béla Pintér zwischen seinen zunehmend ins Taktlose abdriftenden Fragen immer wieder wie aus Versehen mit "Viktor" anspricht – ihn aber nicht (wie er behauptet) mit Viktor Bodó, sondern mit Regierungschef Viktor Orbán verwechselt, was zu vergnügtem Glucksen im Publikum führt. Denn Pintér, der zunächst noch mit aasig-freundlicher Geburtstagsmine die immer provokanteren Fragen beantwortet, kehrt zunehmend den cholerischen Theater-Diktator hervor. Da dauert es natürlich nicht lange, bis das Jubiläumsgeplänkel auf der Bühne in blanken Theaterterror umgeschlagen und die weißgedeckte Tafel zur Schlachtbank geworden ist.
Groteske Winkelzüge
Pintérs Stück zieht Bilanz der letzten zwanzig Jahre. Lässt Höhen und Tiefen der Compagniehistorie aufleuchten, alte Erfolge und Schauspielerglanzstücke revuepassieren. Sogar zwei über die rohe Gegenwart staunende Gespenster längst verstorbener Compagnie-Mitglieder treten auf. Dabei deutet Pintér auch auf die politischen Verhältnisse, die das Theatermachen in Ungarn seit 2010 für viele zunehmend zum Spießrutenlauf machten. Gleichzeitig führt er mit großem Mut zur Selbstkarikatur vor, wie der ideologische Druck auf die Kunst und der Kampf dagegen am Ende auch die Kunst und ihre Verteidiger selbst beschädigt und deformiert.
Der Abend schenkt niemandem etwas: weder der Politik oder regierungstreuen Künstlern und Intellektuellen, über die Pintér ein Gewitter aus Verbalinjurien niedergehen lässt, noch Pintér selber. Hier, das ist die Kunst, die herauskommt, wenn man ihr ideologische Vorgaben zu machen oder anderweitig Daumenschrauben anzulegen versucht! schreit jede Minute dieses rabiaten Abends sein Publikum an. Im Zuschauerraum lacht und weint man gleichzeitig – über groteske Winkelzüge identitärer Geschichts- und Kulturpolitik, die Pintér anprangert ebenso wie über subventionspolitische Katastrophen der letzten Jahre für die freie Szene, ist amüsiert, irritiert und immer wieder auch seltsam berührt von diesem Selbstporträt des Künstlers. Von der Schonungslosigkeit, mit der Pintér die Kritik an den Verhältnissen vor allem an sich selbst durchexerziert. Gleichzeitig macht dieser Abend jedoch unmissverständlich deutlich: Es ist nichts vergessen oder gar vergeben, was geschah, seit die Regierung unter Viktór Orbán begann, die von ihren Vertreter*innen als "links-liberal" geschmähte Theaterszene Budapests durch personalpolitische Entscheidungen und vor allem den Umbau des Fördersystems in ihrem Sinne umzugestalten.
Die Szene ist angewiesen auf internationale Partner
Pintérs Stück, das im Frühjahr 2019 in Budapest Premiere hatte, gehörte Ende November zum Programm der 5. Ausgabe von "Dunapart", des im Zweijahresrhythmus in Budapest stattfindenden Showcase der unabhängigen Theater Ungarns. Seit 2009 wählt hier (initiiert vom bekannten Budapester Haus für zeitgenössische Künste Trafó) eine Kritiker*innenjury die besten und repräsentativsten Produktionen der Tanz-, Performance- und Sprechtheaterszene aus. Es ist ein Szenefestival, sein Programm aber wesentlich auch an internationale Kurator*innen und Kritiker*innen gerichtet. Denn angesichts des politischen Drucks und der angespannten Finanzlage der frei produzierenden Theater sind internationale Koproduzenten und Festivaleinladungen für viele ein längst unverzichtbarer Überlebensgarant. Theatermacher*innen in Budapest berichten, dass die Antragsfristen bei der Nationalen Kulturstiftung Ungarns stets sehr kurzfristig bekanntgegeben werden. Meist steht dann nur ein sehr kleines Zeitfenster offen, in dem überhaupt Förderanträge gestellt werden können. Und wenn sie positiv beschieden werden, weiß dann trotzdem niemand genau, wann das Geld tatsächlich zur Verfügung gestellt wird. Das macht zuverlässige Planung schwer und internationale Vernetzung überlebenswichtig.
Die aktuelle Dunapart-Ausgabe war vor allem durch Arbeiten geprägt, die von Theatermacher*innen stammen, die nach 1989 geboren und aufgewachsen sind. So stellte sich im Nachgang des Festivals auch die Frage, inwieweit die Kämpfe und Verwerfungen der letzten Jahre, wie sie im Stück des 1970 geborenen Béla Pintér noch einmal ebenso schrill wie schmerzhaft ihren Niederschlag gefunden hatten, nicht mit diesem Stück vielleicht auch schon begonnen hatten, historisch zu werden. Bei den Kommunalwahlen hatte Viktór Orbáns FIDESZ-Partei empfindliche Schlappen erlitten. Vor allem in Budapest, wo mit dem 44jährigen Politikwissenschaftler Gergely Karácsony erst Mitte Oktober ein Kandidat der Opposition Bürgermeister geworden war.
"Die Kultur gehört nicht der Politik"
Doch schon kurz nach dem Showcase zerschlugen Anfang Dezember Nachrichten aus Budapest solche Überlegungen. Als Reaktion auf die verlorenen Kommunalwahlen plane die Regierung Orbán eine handstreichartige Gesetzesänderung mit dem Ziel, die Kulturpolitik zentral an sich zu ziehen, hieß es. Die Kommunen sollten kulturpolitisch entmachtet, die Freiheit der Theater beschnitten werden. Die Nationale Kulturstiftung, Hauptgeldgeberin u.a. der unabhängigen Theater, solle zu Gunsten eines Nationalen Kulturrats aufgelöst werden, der künftig "die Basis für strategische Lenkung der kulturellen Sektoren durch die Regierung gewährleisten" werde. In Budapest würden Theaterleiter künftig nicht mehr von der Stadt, sondern direkt vom Ministerium für Humanressourcen ernannt, dem in Ungarn auch das Kulturressort zugeordnet ist.
Binnen kürzester Zeit mobilisierte Budapests unabhängige Theaterszene Widerstand gegen diese Pläne. "Die Kultur gehört nicht der Politik. Sie gehört uns, den Menschen!" formulierte es eine Petition an die Mitglieder des ungarischen Parlaments, die in wenigen Tagen über fünfzigtausend Unterzeichner*innen fand. Kurz darauf nahmen in Budapest am 9. Dezember Tausende auf dem nach dem ungarischen Nationaldichter Imre Madách benannten Platz in der Innenstadt an einer Demonstration gegen die Pläne der Regierung teil, die, wie kolportiert wurde, nur an die Öffentlichkeit gelangt waren, weil sie von einem Unbekannten im Ministerium geleakt worden waren. Und da stand dann auch Béla Pintér und sprach von der Regierung als "Mörder der ungarischen Kultur".
Zwei Tage später wurde das Gesetz trotzdem verabschiedet – allerdings in abgemilderter Form. So blieb die Nationale Kulturstiftung unangetastet. Während der Abstimmung im Parlament standen Oppositionspolitiker auf und hielten sich als Zeichen des Protests schwarze Masken vor die Gesichter. Das ungarische Kulturministerium bestritt auf Nachfrage von nachtkritik.de, die Proteste hätten Einfluss auf die Modifizierung der Vorlage gehabt. Vielmehr habe es sich bei der angeblich geleakten Fassung um eine Fälschung gehandelt. Die Demonstrationen seien längst organisiert gewesen, bevor sich schließlich herausgestellt habe, dass der Gesetzesentwurf nichts von dem enthalte, was im Vorfeld behauptet worden sei.
Sich um ein objektives Bild der Vorgänge bemühend, stolperte die Autorin dieses Textes bei dieser Erklärung allerdings über die darin enthaltene Formulierung, bei jenen, die über die Regierungsvorhaben falsche Behauptungen aufgestellt und letztlich grundlos Demonstrationen initiiert hätten, handele es sich um "armselige linksliberale Eiferer und Politiker" – ("poor left-liberal devotees and politicians" heisst es im englischen Original der Erklärung der Abteilung internationale Kommunikation des Ministeriums). Spricht hier jetzt vielleicht doch eine Figur aus einem Béla-Pintér-Stück, oder tatsächlich die ungarische Regierung? Während Verbalinjurien dieser Art als Mittel der Figurensprache auf der Bühne legitim sind, sind sie als Bezeichnung Andersdenkender in offiziellen Mitteilungen einer Volksvertretung nicht nur grundsätzlich indiskutabel, sondern darüber hinaus auch ziemlich unsouverän.
Vorwand #Metoo?
Als Grund, die Kulturpolitik zu zentralisieren, wird von der Regierung unter anderem ein #Metoo-Fall im Budapester Katona-József Theater genannt. Hier hatte kürzlich der Fall des Star-Regisseurs Péter Góthar Aufsehen erregt, der (wie er inzwischen auf der Facebookseite des Theaters selbst eingeräumt hat) vor einem Jahr gegenüber einer Schauspielerin sexuell übergriffig wurde. Der 1947 geborene Gothár ist nicht nur ein national und international ausgezeichneter Film- und Theaterregisseur, sondern auch Ehrendoktor der Universität für Theater und Film in Budapest, wo er seit 2002 unterrichtet. 1994 hatte Gothár bei den Parlamentswahlen für die inzwischen untergegangen Freien Demokraten Ungarns (SZDZS) kandidiert.
Das Katona-Jozséf-Theater hat inzwischen die Zusammenarbeit mit Gothár beendet. Auch sein Vertrag mit der Universität für Theater und Film wurde aufgelöst. Trotzdem wird Gábor Maté, seit 2011 Intendant des Theaters, vorgeworfen, viel zu spät und erst auf öffentlichen Druck auf die Missstände reagiert zu haben. Dabei fragt sich die außenstehende Beobachterin auch, was eigentlich den FIDESZ-treuen Vorgänger von Gergely Karácsony im Amt des Bürgermeisters, István Tarlós, bis Oktober 2019 davon abgehalten hat, die Ordnung einzufordern, nach der die Regierung Orbán nach der verlorenen Kommunalwahl nun ruft.
Ob die Regierung hier einen #Metoo-Fall politisch missbraucht oder sich tatsächlich als Ordnungsmacht gefordert sieht, wird sich auch daran zeigen, mit welchem Maß gemessen wird: Denn auch im Neuen Theater gibt es einen #Metoo-Fall. Das Theater machte 2011 Schlagzeilen, weil die Orbán-Regierung mit György Dörner einen Rechtsradikalen zum Intendanten berief. Der beschuldigte Schauspieler Győző Mihályi bestreitet die Vorwürfe zwar. Doch hat er ungarischen Presseveröffentlichungen zufolge das Neue Theater inzwischen gebeten, ihn aus seinen Rollen zu entlassen.
Phantome der Vergangenheit
Der Regisseur Péter Gothár, der hier ganz offensichtlich Ruhm und Macht missbrauchte, und auch schon vor 1989 ein bekannter und einflussreicher Künstler war, passt perfekt ins Feindbild der FIDESZ-Partei, die sich im Ungarn der Wendejahre aus der Bürgerrechtsbewegung entwickelt hat. In den als "linksliberal" diffamierten Kulturschaffenden sehen viele FIDESZ-Anhänger die Erben des kommunistischen Kulturestablishments vor 1989 und seiner Privilegien. Die Kulturschaffenden selbst erkennen sich in diesem pauschalisierenden Zerrbild nicht wieder und fühlen sich ihrerseits bei den Versuchen der Regierung, die Kulturpolitik in immer stärker zu kontrollieren, an kommunistische Methoden der Kunstlenkung erinnert. Alle Parteien wirken dabei in ihren Reflexen oft ebenso unversöhnlich wie tragisch verstrickt, ja, gebannt von Mustern, die ihnen die Phantome der Vergangenheit diktieren.
Dabei hat die Zukunft längst begonnen, wie beim diesjährigen Showcase "Dunapart" unübersehbar war. Denn hier stammten herausragende Arbeiten von Theatermacher*innen, die nach 1989 geboren und aufgewachsen sind, darunter eine Adaption des Romans Niemands Tochter / Árvácska von Zsigmond Moricz (1879-1942) der Gruppe "Dollár Papa Gyermekei". Der Name der 2009 gegründeten Gruppe um Tamás Ördög und Emoke Kiss-Végh spießt ironisch das Misstrauen auf, das Künstler*innen und Compagnien im gegenwärtigen politischen Klima leicht auf sich ziehen, wenn sie mit Geld aus dem "Westen" produzieren: "Dollardaddy’s Kinder" ist die wörtliche Übersetzung. Bekannt wurden "Dollardaddy's" (wie sie sich ausserhalb Ungarns nennen) mit Nacherzählungen klassischer Stoffe von Ibsen bis Tschechow. Die minimalistischen Inszenierungen, die Charaktere und Konflikte der Stücke als Folie stets beibehalten, aber zeitgenössisch überschreiben, verbinden auf sehr ungewöhnliche Weise Dogma-Ästhetik, episches Theater und Method-Acting.
Bild einer verrohten Gesellschaft
Jetzt war ihre Adaption eines Romans aus der Vorkriegszeit zu sehen, der die grausame Geschichte einer jungen Frau erzählt, die als Waise in den 1930er Jahren bei wechselnden Pflegeltern aufwachsen muss, darunter verrohte und verwahrloste Kleinbauern. Dort bekommt die siebenjährige Csöre keine Kleidung, kaum zu essen, muss schwer arbeiten. Schließlich vergewaltigt der Bauer und Vater der Familie das Kind. In der Adaption der "Dollardaddy’s" wird aus dem berühmten (1976 in Ungarn auch verfilmten) Stoff von Moricz, (der eine Art ungarischer Maxim Gorki ist), in der Regie von Tamás Ördög (*1981) nun eine packende Studie über sexuelle Gewalt und die psychische Abhängigkeit der Opfer von den Tätern. Dabei entsteht das Bild einer verrohten und empathielosen Gesellschaft, wo jede*r nur Mitleid mit sich selber kennt.
Das Publikum sitzt im Quadrat um eine völlig leere Spielfläche herum, wo allein durch die physische Kraft des Schauspielens schnell eine immer schwerer erträgliche körperliche Nähe zum Geschehen und vor allem den Figuren hergestellt wird: zum brutalen, versoffenen Pflegevater (Sándor Terhes) und der nicht minder brutalen Pflegemutter (Emina Messaoudi), die ihre Wut auf den Mann und das verkorkste, unterprivilegierte Leben an dem angenommenen Kind auslässt. Die von Katalin Simkó überragend gespielte Csöre ist fast die ganze Zeit nackt und damit auf eine für die Zuschauenden kaum aushaltbare Weise ungeschützt – ein heißkaltes wie abgründiges Körper- und Seelenspiel.
Geschichtspolitische Kämpfe
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht der jungen Frau, die aus dem missbrauchten Kind geworden ist. Eines Tages wird sie bei dem Versuch, sich das Leben zu nehmen, von einem älteren Mann gerettet und aufgenommen. Der Mann wird gespielt von dem großen Budapester Schauspieler Janos Kulka: als ambivalente Figur zwischen Retter, väterlichem Freund und die junge Frau erneut Missbrauchenden. Im Rückblick steht die Erzählung von Csöres Geschichte als rohes physisches Reenactment und psychologisch minutiös ausgelotetes Spiel auch als Gleichnis für unsere Gegenwart und ihre ungelösten sozialen Fragen. Die Wahl des Stoffs eines Autors, der 1918 die Gründung der ungarischen Räterepublik begrüßte und vor 1989 einen Schulbuch-Status als Vorkämpfer für ein sozialistisches Ungarn hatte, ist auch vor dem Hintergrund aktueller geschichtspolitischer Kämpfe in Ungarn interessant, wo die Bewertung gerade der Jahre 1919 bis 1956 neu verhandelt wird.
Einen Blick auf die ungarische Vergangenheit wirft auch der 1990 geborene Regisseur Kristóf Kelemen. Sein Stück Observers / Megfigyelők spielt in den 1960er Jahren, also der Hoch-Zeit des Kalten Krieges und der Überwachungshysterie. Es geht um die Geschichte eines jungen Filmstudenten in Budapest, der als Kind ungarischer Migranten in England aufwuchs (wohin sie vielleicht nach dem niedergeschlagenen Aufstand von 1956 flohen). Nach Budapest zurückgekehrt, gerät er in Verdacht, ein britischer Spion zu sein. Seine Freunde werden vom ungarischen Staatssicherheitsdienst rekrutiert, ihn zu bespitzeln. Zu diesem Zweck schleicht sich Stasiagent Horváth mit viel Geschick in die Leben und Seelen der jungen Leute ein. Kelemen konstruiert daraus ein dichtes Kammerspiel, das aus einem Netz von unterschiedlichsten Beobachtungsbezügen geknüpft ist: zwischen den Akteuren der Geschichte, aber auch dadurch, dass die Inszenierung die strukturelle Beobachtungssituation der Medien Film und Theater mitreflektiert.
Dschungel der Bilder
Die Bühne ist eine überwirklich-realistische 1960ies-Installation, zu der auch museale technische Geräte gehören (und an der aus dem Jenseits Medienkunstpionier Nam June Paik mitgewirkt haben könnte). Auf einem alten Fernsehapparat laufen ungarische Amateurfilme aus den 1960er Jahren, dann wieder ist authentisches Überwachungsmaterial (aus einstigen Geheimdienstbeständen) zu sehen. Auch dokumentarisches Material aus der neueren ungarischen Theatergeschichte flackert zwischendurch auf in diesem Dschungel aus Bildern. Auf verschiedene Materialien und Oberflächen (wie einen hölzernen Bürorollschrank oder die Rückwand der Bühne) werden immer wieder auch live gespielte Szenen projiziert. Stets passen sich die Bilder der jeweiligen Oberfläche an, die sie verändert, wie ein Druckmotiv Gestalt und Wirkung auch der jeweiligen Papierqualität verdankt. Wie wahrheitsgetreu kann eine Abbildung allein auf der Basis dieser technischen Bedingungen überhaupt sein? Wie stark ist unsere Wahrnehmung, unser Geschichtsbegriff durch die Medien formatiert? – Fragen, die Kelemens Abend mittransportiert.
Und so verfangen sich die vier Filmstudent*innen und der Stasi-Agent in einem Netz aus Projektionen, ganz technischen aber auch denen, die ihnen ihre innersten Wünsche und Sehnsüchte diktieren. Wie Kommentare gibt es live gesungene Lieder, darunter ein legendärer ungarischer Untergroundhit aus den 1980er Jahren (Mocskos idők) oder der auf dem FIDESZ-Parteitag von 1990 verwendete Roxette-Ohrwurm Listen to your heart. Aus den Fängen der Medien und der von ihnen bewirkten Formatierung unserer Gefühle und Erinnerungen gibt es kaum ein Entkommen.
Von der Manipulierbarkeit aller Bilder und unserer Wahrnehmung handelt auch der Abend Death Rode Out Of Persia der "DoN’t Eat Group" um die Regisseurin und Puppenspielerin Zita Szenteczki (*1991) und den Medienkünstler András Juhász. Grundlage des technisch aufwändigen Abends, der auf mehreren, auch via Videoprojektion hergestellten Ebenen erzählt wird, ist ein ungarischer Kultroman von 1979. Der 1984 im Alter von 38 Jahren an den Folgen seines Alkoholismus verstorbene Péter Hajnóczy erzählt darin die (autobiografisch grundierte) Geschichte eines Schriftstellers, der dem (von osteuropäischen Autoren wie Dostojewski oder Gogol geprägten) selbstzerstörerisch-romantischen Bild vom genialischen Trinker-Künstler nacheifert. Die neue sozialistische (und auch kleinbürgerlich strukturierte) Gesellschaft sieht allerdings für derlei zerstörerische Morbidität und Genialität gar keinen Platz mehr vor. Er verliebt sich in eine zielstrebige Jurastudentin, die auf seine Sehnsüchte nach sexueller und sonstigen Ausschweifung mit Zurückweisung reagiert. Sie ist die Tochter einer Holocaustüberlebenden, womit dann auch noch das verklemmte Verhältnis in Ungarn zu diesem Teil seiner Geschichte aufgespießt wird.
Realität der Bühne
Zita Szenteczki und András Juhász rekonstruieren in ihrer Adaption des Stoffs (die während des Dunapart-Showcase aus technischen Gründen nur als Filmaufzeichnung gezeigt werden konnte) den Stream of Consciousness des Erzählers auf diversen Ebenen. Das mit Live-Kamera verfolgte Spiel wird über der Szene projiziert und verdoppelt. Gleichzeitig löst sich diese Verdopplung vom Livegeschehen immer stärker ab. In Dauerloops werden traumatische Momente (wie das Ansetzen einer leeren Parfümflasche, von der sich der Alkoholiker Errettung aus seinem akuten Entzug erhofft) wiederholt, die Zeit wird dadurch immer wieder schmerzhaft angehalten.
Dann wieder ist das Bild nur in der Videoaufzeichnung intakt. Beispielsweise, wenn gezeigt wird, wie der namenlose Held mit seiner Freundin am Tisch in einem Restaurant sitzt. Die physische Bühnenrealität aber legt offen, welche aberwitzigen Verrenkungen nötig sind, um den Eindruck der Normalität in dieser Szene überhaupt zu erzeugen: Er hängt fast kopfüber über ein Gerüst, sie liegt darunter fast begraben. Nur durch die Stellung der Kamera wird die Vortäuschung der normalen Begegnung dieses Paares an einem Restauranttisch erreicht. Und so entfernt sich in dieser stupenden Arbeit das Videobild immer weiter von der Realität der Bühne, die in der Unbestechlichkeit ihrer physischen Kopräsenz auch zu einem Wahrheitsgaranten wird. Schließlich sehen wir dabei zu, wie die Bilder live gemorpht werden und aus lauter disparaten Einzelaktionen auf der Bühne im Video ein scheinbar stimmiges Gesamtbild wird.
Auch in der Arbeit 99,6 % der Gruppe "Reactor" aus der Stadt Cluj täuscht das Bild, das sich dem Publikum zunächst bietet: eine Gruppe junger Leute, die wie Hipster aussehen, Adidas-Jacken oder sonstig einschlägiges Outfit tragen, scheinen auf dem Boden hockend, sitzend oder liegend bei Techno-Musik in irgendeinem Club auf dieser Welt abzuhängen. Doch dann kriechen nach und nach aus den Körpern dieser jungen Hipster Fragen zu Identität und Nationalität. Die Stadt Cluj, aus der diese jungen rumänisch und ungarisch sprechenden Performer*innen kommen, kam nach dem Ersten Weltkrieg an das, aus der Konkursmasse des Kaiser- und Königreichs Österreich-Ungarn gegründete Rumänien, das also kürzlich sein 100. Jubiläum feiern konnte.
Tief vergrabene identitäre Codes
Aus der Tatsache, dass bis heute auch manche*r in Ungarn diese Stadt als Teil ungarischen Staatsgebiets betrachtet, und besonders Rechtsnationalisten immer wieder an das vermeintliche Trauma der Verträge von Trianon 1923 rühren, wo die Aufteilung des österreichisch-ungarischen K.u.K.-Reichs in diverse souveräne Staaten besiegelt und der Traum der Nationalisten von einem Großungarn begraben wurde, bezieht der Abend sein Material. Seinen Titel verdankt er einer DNA-Untersuchung, der sich die Performer*innen im Kontext der Recherche für ihr Stück unterzogen. Heraus kam: 99,6 Prozent der DNA stimmte bei allen überein. Nur 0,4 % wiesen jeweils auf andere ethnische Ursprünge hin. In diesen 0,4 % aber steckt der Sprengstoff.
In einer suggestiven Performance, die im wesentlichen auf den Einsatz von Musik setzt, macht "Reactor" deutlich, wie tief in den Körpern identitätspolitische Themen vergraben sind und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Langsam spricht und singt sich die Gruppe in Trance, gelangen persönliche Geschichten ebenso an die Oberfläche wie traumatische Familienerzählungen. Alte Volkslieder von Minderheiten brechen aus diesen Körpern ebenso heraus wie die verschiedenen Sprachen. Am Ende entsteht das verstörend poetische und darin sehr aufklärerische Bild der Tatsache, dass es die Vernunft sehr schwer hat, gegen die nationalistischen und identitären Programmierungen von Körpern und Seelen anzukommen.
So lieferte Dunapart Momentaufnahmen ungarischer Gegenwart, darunter auch gegen die aktuellen Verhältnisse wütende Produktionen wie Sacra Hungarica von András Urbán und dem Studio K Theater, in dem sich eine Gruppe von sieben Performer*innen in einer Art chorischer Hate-Speech immer aggressiver in virulente Parolen und Posen fundamentalistischer Angreifer der offenen Gesellschaft hineinschraubt, dabei aber selbst reichlich fundamentalistisch daher kommt. Es gab Stücke, die die Situation der Roma in Ungarn verhandelten, darunter Gipsy Hungarian: hier zerpflücken fünf Schauspieler*innen und Angehörige der Roma-Community höchst vergnüglich diverse Klischees, die ihnen die Mainstream-Gesellschaft so gerne anklebt. Und es gab die ebenso hochmusikalische wie von hintergründigem Humor durchzogene Performance Queendom der jungen Performerin und Regisseurin Veronika Szabó, die – (im Verbund mit sechs wagemutigen Performerinnen) – stereotype Frauenbider zerlegt, ohne dafür ein einziges Wort zu benötigen.
Exil in Norwegen
Dann gab es Norwegisch für Anfänger / Norvég kezdőknek, ein Abend, der auf den ersten Blick kaum als Theater zu erkennen war. In einer alten Wohnung, die (zumindest der Behauptung des Festivals zufolge) normalerweise eine reale Sprachschule beherbergt, aber mit ihrer abgewrackten Morbidezza und dem 1970er Mobiliar auch das Filmset eines alten Spionagethrillers sein könnte, treffen wir auf Soma Boronkay. Boronkay ist Schauspieler und Dramaturg und hat mit Kornél Mundruczó ebenso wie mit Vegard Vinge zusammengearbeitet. Aber Boronkay ist auch Lehrer für Norwegisch und spielt hier nun sich selbst. Die Zusatzqualifikation als Lehrer für Norwegisch hat er erworben, als er vor Jahren Ungarn verließ, weil er dort mit dem freien Theatermachen seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten konnte.
Am langen Tisch in der Sprachschule erfährt man nun, dass es sehr viele Ungarn gibt, die in den letzten Jahren als Arbeitsmigrant*innen nach Norwegen gegangen sind. Denn nach nur sieben Jahren Arbeit kann man dort einen Rentenanspruch erwerben. Mit diesem Geld ist es möglich, im Rentenalter in Ungarn ein auskömmliches Dasein zu fristen. Und während man immer tiefer in Boronkays sanftmütige Erzählung ungarischer Lebensverhältnisse hereingezogen wird, dabei ganz nebenbei lernt, mit dem Sitznachbarn erste Sätze auf Norwegisch zu wechseln, wenn sich Übungsdialoge aus einem Sprachbuch also unmerklich in Theaterdialoge verwandeln, entsteht ein sehr intensives Gefühl für die fragilen Zeiten, in denen wir leben, für ihre unübersichtlichen Übergänge und Fallen: Und man erhält eine hautnahe Vorstellung davon, wie schnell man alles verlieren und irgendwo auf der Welt zum Fremden werden kann.
Dunapart 5
Budapest 27. bis 30. November 2019
www.dunapart.net
Offenlegung: Das Festival Dunapart und das Goetheinstitut Budapest haben Reise- und Übernachtungskosten der Autorin übernommen.
Mehr über Theater in Ungarn siehe Lexikon.
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