Report aus Lviv - Ukrainische Theatermacher:innen berichten von der russischen Invasion
5 Uhr morgens
28. Februar 2022. Noch vor wenigen Tagen unterhielten sich auch die Theaterleute in der Ukraine über Festivals, Premieren, neue Stücke. Wenn sie jetzt miteinander telefonieren, klingen ihre Geschichten alle ähnlich – und haben nichts mit Kunst zu tun. Sondern mit Luftschutzkellern, Raketenwerfern, gesprengten Brücken und Tarnnetzen.
Von Oleksii Palianychka
28. Februar 2022. Am 2. November 2021 fand in Kyiv die Premiere von Dmytro Kostyumynskys Dokumentarfilm "Krim. 5 Uhr morgens" statt, nach dem Theaterstück von Natalka Vorozhbyt und Anastasia Kosodiy. Darin berichten Zeugen – meist Verwandte oder Freunde – von der Festnahme krimtatarischer Aktivisten: Um 5 Uhr morgens seien die russischen Sicherheitskräfte eingetroffen. Sie hätten nicht geklopft, sondern die Tür eingeschlagen und ausgesägt. Aktivisten wurden wegen Terrorismus festgenommen.
Am 24. Februar 2022 begann um 5 Uhr morgens die Bombardierung ukrainischer Städte. Putin bezeichnete die Aktion als "Befreiung der Ukraine von den Nazis". Ich bin Theaterkritiker. Mein Beruf ist es, über Theater zu schreiben. Aber jetzt gibt es in der Ukraine nichts zu schreiben, weil auf 603.548 Quadratkilometern im östlichen Teil Europas nur Apotheken und Lebensmittelgeschäfte offen sind. Es gibt noch einige Menschen, die ein Minimum an städtischer Infrastruktur aufrechterhalten. Es wäre absurd, über Kunst zu sprechen oder nachzudenken, wenn man nicht weiß, ob man am Leben bleibt und ob man etwas zu essen bekommt; wenn man nicht schlafen kann und ständig Freunde aus Odessa, Cherson, Kramatorsk, Kiew, Charkiw, Tschernihiw anruft, um sie zu fragen, ob sie in Sicherheit sind. Vor ein paar Tagen noch sprachen wir mit denselben Leuten über Produktionen, Festivals, Theaterstücke… Aber heute klingen ihre Geschichten sehr ähnlich – und es geht in ihnen überhaupt nicht um Theaterkunst.
Kostüme werden zu Tarnnetzen
Am 24. Februar wachten fast alle Ukrainer:innen von Sirenen oder Explosionen auf. Die ersten Stunden waren von einer totalen Orientierungslosigkeit in Zeit und Raum geprägt: Man hatte das Gefühl, noch zu träumen. Dieses Gefühl blieb in Lviv auch am zweiten Tag der Angriffe vorherrschend, denn hier waren bis dahin nur Sirenen zu hören. Am Tag des Einmarschs der russischen Besatzer haben alle Theater ihre Vorstellungen abgesagt. In den Städten am linken und rechten Ufer des Dnipro wird gekämpft, daher empfangen die Theater die Menschen nur in den Kellern, zum Schutz.
Die Bühnen in der Westukraine beteiligen sich aktiv an der Freiwilligenarbeit: Sie verwandeln Theater in Schutzräume, bereiten alles für die Aufnahme Geflüchteter vor, weben Tarnnetze. Einige haben sich den Kampftruppen angeschlossen. Es gab keine klaren Anweisungen von den Behörden oder den Theaterdirektionen, wie die Bühnen während des Kriegsrechts arbeiten sollen. Aber fast der gesamten Bevölkerung ist klar, dass es jetzt darum geht, etwas Nützliches für die Gesellschaft zu tun. Klassische Tätigkeiten im Kulturbereich, in Schönheitssalons oder Boutiquen erscheinen im Moment deutlich zu realitätsfern, um sich mit ihnen zu beschäftigen.
"Ich gehe jetzt zu unseren Jungs, nach Kiew"
In Kiew befinden sich alle Theaterleute in Schutzkellern. Ich habe mit einigen ukrainischen Theater-Künstler:innen gesprochen und gebe hier ein paar Berichte von deren nicht-theatralischem Leben während des Krieges mit dem von Putin so genannten "Brudervolk" wieder.
Oleksii Kravchuk, Regisseur, Schauspieler und Leiter des Theaters "People + Puppets" in Lviv:
"Es gab keine Koordination der Behörden für die Theater. Es war die gleiche Situation wie 2014. Damals habe ich mit dem Kulturministerium über die Möglichkeit gesprochen, das Lugansker Theater, in dem ich seinerzeit arbeitete, zu evakuieren, aber es passierte nichts. Unser Theater bereitet im Moment einen Raum für die Aufnahme Geflüchteter vor und webt Tarnnetze. Und ich gehe jetzt zu unseren Jungs, nach Kiew."
Olga Puschakowskaja, Theaterkuratorin und Direktorin des Lviver Drama-Theaters Lesja Ukrainka:
"Derzeit organisiert unser Theater aktiv Unterkünfte für den Fall eines Beschusses und baut ein Zentrum für Geflüchtete auf. Heute haben wir alle Kostüme und Stoffe daraufhin durchgesehen, ob sie sich zum Weben von Tarnnetzen eignen. Wir bereiten auch ein Gebäude für den Verteidigungskampf vor, falls Lviv okkupiert werden sollte.“
Proben, Premieren: Alles abgesagt
Lena Ljagushonkova, Dramaturgin eines Theaters in Odessa, die sich derzeit in Kyiv aufhält:
"25. Februar, 17 Uhr: Die Kolleg:innen und Freunde aus Odessa berichten, bei ihnen sei es still. Ich – die Dramaturgin ihres Theaters – befinde mich zu dieser Zeit in einem Luftschutzbunker in Kyiv. Ich war ein paar Tage nicht im Theater und werde auch in absehbarer Zeit nicht dorthin zurückkehren können. Mein Gehalt ist aber heute eingetroffen. Gestern Vormittag sollte eine Probe stattfinden, für eine Premiere am 5. März: Alles abgesagt! Ich kann mehr über die Theaterleute in Kyiv erzählen: Sie befinden sich alle in Schutzkellern. Die Explosionen sind hier sehr laut zu hören, vielleicht weniger als zehn Kilometer entfernt.
Rostislav Derzhypilsky, Regisseur, Direktor des Nationaltheaters Ivan Franko in Iwano-Frankiwsk:
"Im Land wurde der Kriegszustand ausgerufen. Daher arbeitet nur das Verwaltungspersonal. Aus sicherheitstechnischen Gründen werde ich keine Details preisgeben."
Die U-Bahn fährt nicht, die Brücke ist gesprengt
Oleg Stefan, Schauspieler des Theaters am Linken Ufer in Kyiv:
"Der Regisseur hat uns sofort gesagt, dass unser Theater geschlossen ist und jeder selbst entscheidet, wie er sein Leben weiter gestaltet. Das Gehalt ist noch nicht ausgezahlt, das Finanzbüro hat geschlossen. Ich weiß, dass die Dozent:innen der Theaterhochschule ihr Geld bekommen haben, aber wir hängen an unterschiedlichen Finanzierungsquellen. Die Theater werden von den Gemeinden, die Hochschulen vom Bildungsministerium bezahlt.
Ich sollte heute nach Lviv fahren, aber ich kam zu spät zum Zug. Im Moment kann ich nicht weg, weil die U-Bahn nicht funktioniert und die Brücke gesprengt wurde, um das Vorrücken der russischen Panzer zu verhindern. Aber so ist es eben. Hier in der Nähe wohnt der Dramatiker Pasha Arye. Wir werden uns gegenseitig besuchen, solange nicht geschossen wird."
Oksana Dmitrieva, Direktorin des Charkiwer Puppentheaters Afanasjew:
"Unser Theatergebäude ist alt, also gibt es dort einen Luftschutzbunker. Jetzt verstecken wir uns darin alle mit unseren Kindern. Am 24. Februar gab es Kämpfe am Stadtrand, heute wurde unser Wohngebiet mit Raketenwerfern beschossen… Wenn ich nur daran denke, empfinde ich eine Wut, die ich gar nicht ausdrücken kann. Jetzt bin ich in Poltawa. Ich bin mit meiner Nichte zu unseren Freunden gefahren. Sie kam aus Kramatorsk (ca. 200 Kilometer von Charkiw entfernt, Anm. d. Red.). Für den Weg zu uns hat sie fast einen ganzen Tag gebraucht."
Um fünf werden wieder die Sirenen heulen
Zu all diesen Berichten möchte ich noch ein paar Worte von mir selbst hinzufügen. Ich habe seit mehreren Tagen nicht geschlafen, wie alle hier in der Ukraine. Wir schlafen nicht, weil Putin unser Land – wie er durch die Welt posaunt – von "Nazis" säubern will. Ich warte, dass um 5 Uhr morgens wieder Sirenen heulen, um die Bedrohung der Stadt anzukündigen, in der ich wohne. Bis dahin bleibt nicht mehr viel Zeit.
Ich weiß, dass sich all diese Erfahrungen niederschlagen werden: in der zeitgenössischen Dramatik, in den Inszenierungen, in der Recherche von Kriegsthemen. Klassische Aufführungen von Autoren wie Tschechow, Tolstoi, Dostojewski werden aus dem Repertoire verschwinden. Traumatische Erfahrungen machen immer wieder deutlich, dass auch unpolitische Kunst ein Instrument von Ideologien ist. Sie müssen verschwinden, damit wir um 5 Uhr morgens ruhig schlafen können.
Oleksii Palianychka arbeitet als Theaterkritiker in Lviv. Darüber hinaus ist er Autor am Lviver Theater "People + Puppets". Vor der Invasion schrieb er eine wissenschaftliche Arbeit über Performancepraktiken der Revolution von 2014 und ihre Auswirkungen auf die ukrainische Gesellschaft. Foto: Oleksii Palianychka | Facebook
Aus der ukrainischen Stadt Lviv gibt es einen weiteren Report von Oleksii Palianychka.
Aus der ukrainischen Hauptstadt Kyiw berichtet Lena Mygashko.
Im Interview spricht die Autorin Sasha M. Salzmann über ihre Sicht auf das Geschehen.
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