Black Feminist Video Game - Das New Yorker Kollektiv The Civillians veranstaltet eine feministische Heldenreise als Mix aus Game, Theaterfilm und Netztheater-Performance
Empowerment aus der Spielkonsole
von Sarah Fartuun Heinze
New York, 7. Mai 2021. "EVERYONE should be a feminist, not just women and girls!" So sagt es Audre Lorde einmal in dieser Inszenierung. Ja, DIE Audre Lorde: black, lesbian, feminist, mother, warrior. Dichterin, Theoretikerin und Aktivistin. Wir begegnen im "Black Feminist Video Game" der New Yorker Theatermacher*innen "The Civilians" einer 8-Bit-Version von ihr.
New Yorker Game Theater
Für Freund*Innen des interaktiven Theaters lohnt sich immer mal wieder ein Blick nach Übersee. Veteran*Innen wie Punchdrunk haben auf der Produktionsachse London-New York das immersive Theater in Großinstallationen für frei bewegliche Publikumsgruppen beispielhaft (und auch kommerziell erfolgreich) positioniert, das man im deutschen Sprachraum mit Gruppen wie Signa verbindet. Wenn sich jetzt eine New Yorker Produktion als "Black Feminist Video Game" ankündigt, dann steckt darin aber noch mehr: das Versprechen, die derzeit so fruchtbaren transatlantischen Diskurse um Feminismus, race und (intersektionale) Teilhabe auf eigenwillige Weise verhandelt zu sehen. Eben interaktiv, über die Spielmechanik eines Games. Und dabei führt der (Um-)Weg dann sogar direkt nach Berlin. Aber dazu später mehr.
Die Inszenierung "Black Feminist Videogame" aus der Feder von Darrel Alejandro Holnes und inszeniert von Victoria Collado bewegt sich irgendwo zwischen Online-Live-Performance, Game(-Theater) und interaktivem Theaterfilm. Das Kollektiv hinter der Produktion "The Civilians" lädt im Format R&D Groups seit 10 Jahren regelmäßig Autor*Innen, Komponist*Innen und Regisseur*Innen ein, um gemeinsam eine Spielzeit lang im Rahmen künstlerischer Forschung Stücke zu einem selbstgewählten Thema zu entwickeln.
Jonas mit Liebeskummer
In "Black Feminist Video Game", das auch in einer dieser RD Groups seinen Anfang nahm, begegnen wir online dem Protagonisten Jonas (Christon Andell). Online bedeutet hier: Auf YouTube, wo uns Jonas im Laufe des Abends durchgehend als "Social Fam", als seine Community, adressiert. Auch die Narration führt uns an unterschiedlichste Online-Orte. Mal zu den während Corona allgegenwärtigen Zoom-Meetings, mal zu einem Online-Date und, natürlich, zu einem im Co-Op gespielten Online-Game: zum namensgebenden "Black Feminist Video Game".
Als "Social Fam" begleiten wir Jonas, biracial Teenager mit Autismus. Jonas teilt alle Aspekte seines Lebens online: auch das katastrophale erste Date mit seinem crush Nicole (Starr Kirkland). Auf der verzweifelten Suche nach Wegen, die doch noch zu einem zweiten Date führen könnten, entdeckt Jonas ein lange unbeachtet gebliebenes Geschenk seiner Mutter (Constance Fields): ein Videospiel. Retro, klassisch, 2D: Das "Black Feminist Video Game".
Die Held*Innenreise als feministischer Trip
In der Hoffnung am Ende des Spiels den Schlüssel zu Nicoles Herz zu finden, macht sich Jonas mit Online-Gaming-Buddy Sabine (Kyla Jeanne Butts) auf die Reise: Durch den "Forest of Feminist Angst" (dt. Wald der feministischen Angst), in die "Cove of the Many-Faced Mirrors" (dt. Höhle der vielen Spiegel) zum "Realm of Colorism" (dt. Reich der Farbigkeit, wobei 'Colorism' hier auf Diskurse über Privilegien und internalisierte Rassismen innerhalb Schwarzer Communities referiert). Schließlich erreicht er "Peak Patriarchy" (dt. Gipfel des Patriarchats), wo natürlich, der End-Boss wartet (und – fast wie in "Metal Gear Solid" – Jonas‘ Gedanken zu lesen scheint). Auf dieser Reise muss sich Jonas nicht nur der Entwicklerin bzw. The Game Master, sondern auch seinen Vorstellungen von den Frauen in seinem Leben stellen – und diese überprüfen.
Als "Social Fam" können wir diese Reise sowohl unterstützen als auch sabotieren, indem wir in Echtzeit via Chat, auf die Entscheidungen, die es für Sabine und Jonas zu treffen gilt, reagieren. Beispielsweise durch "a", "b" oder "c"-Abfragen. Oder wenn Jonas bisweilen unseren Rat zu Nicole einholt. Dabei bleibt offen, wie bedeutsam die Entscheidungen, die wir als Online-Publikum treffen, tatsächlich sind. Gibt es einen Bot, der die Antworten zählt und nach dem Mehrheitsprinzip auswertet? Entscheiden die Performer*Innen situativ eigenmächtig, unberührt vom Status Quo der Online-Versammlung? Oder sind die minimalen interaktiven Anlässe lediglich Kulisse?
Die Frage betrifft die Reichweite der Gamemechaniken und der von ihnen regulierten Interaktion. Und ist es dabei nicht viel zentraler, dass Entscheidungen sich bedeutsam anfühlen, als dass sie es tatsächlich sind, um uns als Spieler*Innen ein Gefühl von Agency zu vermitteln? Man kennt den Fall aus dem Adventure-Spiel "The Walking Dead Episode 1" von Telltale Games, bei dem sich jede Entscheidung im ersten Moment des Spiels schwerstwiegend anfühlt, aber im Endeffekt keinen nachhaltigen Einfluss auf den Verlauf der Narration hat.
Bei "Black Feminist Videogame" haben die Entscheidungen, die wir als "Social Fam" treffen, tatsächlich die Macht, den Fortlauf der Geschichte zu verändern: Aber es fühlt sich nicht so an. Vielmehr vermittelt sich der Eindruck eines Twitch-Let's Plays: Die Entscheidung liegt bei den Streamenden, den Spieler*innen. Und wir bleiben letztlich Zuschauer*innen: Wir können interagieren, aber nicht partizipieren. Abusive Gamedesign meets Theatermagie im Digitalen Raum.
Inspirationsquelle Berlin
Und nun der Sprung nach Berlin: Inspiriert wurde Darrel Alejandro Holnes zu "Black Feminist Video Game" durch eine biographische Erzählung, welche ihm im Rahmen einer Recherche in den Schwarzen Deutschen Communities von Berlin begegnete: Es war die Geschichte einer afrodeutschen, neurodiversen, männlichen Person, die sich in einer cis-heteronormativen, abled, weißen Mehrheitsgesellschaft verorten musste, die Holnes in der Figur des Jonas verarbeitet hat.
Das Produktionsteam der Civillians hat während des Inszenierungsprozesses sowohl mit Personen der Autistischen Community als auch neurodivergenten Ensemblemitgliedern und einem Neurodiversity Berater (Cortland Nesley) zusammengearbeitet. Ebenso wie mit Game Designer*innen (Ché Rose and Jocelyn Short von Cookout Games erstellten eigens für die Inszenierung ein Spiel).
Die transatlantischen Diskurse sind sich dabei übrigens näher, als man meinen mag: Die vom Stück als Instanz zitierte Audre Lorde hat bei der Bildung der Schwarzen Deutschen Communities eine wichtige Rolle gespielt. 1984 prägten Schwarze deutsche Frauen gemeinsam mit Lorde den Begriff "Afrodeutsch": Die Poetin, Pädagogin, Wissenschaftlerin und Aktivistin May Ayim, eine zentrale Akteurin der Entstehung Schwarzer Deutscher Communities, war eine von ihnen.
Für Holnes als Autor war noch ein zweiter Aspekt relevant, wie er beim Nachgespräch zu einem der Spieltermine erklärte: "Meine Mutter hat mein Leben gerettet, und dass so vieler Anderer. Und für mich liegt es auf der Hand, dass Schwarze Frauen, trans, cis, Schwarze Femmes die Welt retten. Und das sollten sie nicht allein tun müssen."
In diesem Sinne ist "Black Feminist Videogame" auch eine Arbeit über "How to be an ally" – wie können wir uns verbünden? Kampfgefährt*Innen werden? Eine Arbeit über die Herausforderungen intersektionaler Solidarität. Und darüber, warum uns Schwarzer Feminismus alle befreien kann. Wird!
Freiheit als Prozess
"Freedom isn't the end game: It's a process!" Das sagt Jonas' alleinerziehende Mutter, die als Krankenschwester arbeitet. Es ist ein Prozess des Lernens und Verlernens, den es sowohl in Allianzen als auch in Auseinandersetzung mit sich selbst zu bestreiten gilt. Und das ist oft auch schmerzvoll, so auch für Jonas. Es ist verschränkt und verwoben. Und: bisweilen unübersichtlich. Ein bisschen wie "Black Feminist Video Game" selbst. Denn die Inszenierung hat viele Anliegen und viele potentielle Untertitel:
"Lessons on Black Feminism: The Game" – "How to date on the spectrum while being biracial" – "Ableismus meets racism meets doing gender".
Und dann wieder ist "Black Feminism Videogame" einfach eine Coming of Age-Geschichte, erzählt aus der Perspektive, mit den Mitteln und den Lebensweltbezügen eines Digital Natives, der eben zufällig auch noch biracial, autistisch, männlich ist und gerne streamt und Videospiele spielt.
Zwischen all diesen Achsen bewegt sich "Black Feminist Video Game": Mal als twitchstream-ähnliche Live-Performance, mal als Theaterfilm, anmutend wie ein interaktiver Netflixfilm, mal als Videospiel. Es zeichnet die Utopie und die Begrenztheit von digitalen Spielen als eskapistische Ermöglichungsräume. Einmal sagt Jonas, als er über seine Gefährtin Sabine spricht: "Leute wie wir finden die meisten unserer Freund*Innen online. Ich glaube, weil das für uns ein safe space ist, vor allem anderen Gamer*innen zu sein. Ein Schutzraum in einer Welt, die darauf besteht, mich zuerst als autistisch zu lesen, und sie als noch weniger: Weil sie eine Frau ist. Und wegen der Farbe ihrer Haut."
Sarah Fartuun Heinze arbeitet als freiberufliche Künstlerin an der Schnittstelle zu Theater, Games, Musik und Empowerment. Sie wurde 1989 in Marka (Somalia) geboren, ist Schwäbin, lebt in Cottbus und spielt gern. Eines ihrer Lieblingsspiele ist "Zelda: Ocarina of Time", vermutlich weil da, wie so oft, der Schlüssel zu den meisten Rätseln die Musik ist. (Foto: Dr. Bernd Seydl)
Zuletzt gab Sarah Fartuun Heinze auf nachtkritik.de eine kleine Auswahl künstlerischer Games für Theatermenschen.
Die Episoden von "Black Feminist Video Game" sind noch bis 9. Mai 2021 in der Mediathek von The Civillians abrufbar, Mitte Mai läuft das Stück live beim Oregon Shakespeare Festival.
Black Feminist Video Game
von Darrell Alejandro Holnes
Director: Victoria Collado, Video Game Designer: Ché Rose and Jocelyn Short of Cookout Games, Producer: Ilana Becker, Associate Producer: Sarah Boess, Production Coordinator: Hanako Rodriguez, Media Streaming Designer & Programmer: Julia Frey, Video Co-Programmer/Engineer: Jeremy Allen, Video Designer & Editor: Erin Sullivan, Sound Designer: Twi McCallum, Dramaturg: Phoebe Corde, Associate Dramaturg: James LaBella, Production Design Consultant: Anna Driftmier, Neurodiversity Consultant: Cortland Nesley, Consulting Film Producer: Kiran Chitanvis, Costuming Consultant: Kamesha Brinson, Production Assistant (Workshop Rehearsals): Emily Betts.
Mit: Christon Andell, Kyla Jeanne Butts, Starr Kirkland, Darrel Alejandro Holnes, Constance Fields, Phillip Patrick Wright, Michael Diamond, Mia Anderson, Brandiss LaShai Seward.
www.thecivillians.org
"(W)hen it comes to the play’s message, with Jonas slowly understanding when he's mansplaining and failing to truly listen to and respect Black women, 'Black Feminist Video Game' gets unbearably preachy — and the performances don't do much to help", schreibt Maya Phillips in der New York Times (30.4.2021). Die Kritikerin würdigt das für die Inszenierung eigens hergestellte Computerspiel und auch den Grundansatz der Unternehmung ("games built into theatrical experiences, especially those related to race"). Aber verglichen mit anderen Produktionen aus diesem Kontext, die sie aufzählt, gilt für "Black Feminism Video Game": Es "aspires to this same degree of poignancy and ingenuity, but despite its cute gameplay, it can’t get past Level 1".
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