Wie in einer Petrischale

von Verena Harzer

New York, 13. März 2020. Bis zum Schluss haben alle gehofft, dass dies nicht passieren würde. Aber es war dann wohl unvermeidlich. Am Donnerstag hat der Gouverneur von New York State, Andrew Cuomo, entschieden, alle Versammlungen von mehr als 500 Menschen zu untersagen, um die Verbreitung des Corona-Virus zu bekämpfen. Das betrifft auch und vor allem den Broadway, die bedeutendste Theatermeile der Welt. Und zielt ins ökonomische Herz der US-amerikanischen Theaterlandschaft.

Betroffen sind 31 Stücke und Musicals von Publikumslieblingen wie "Hamilton" über "The Lion King" bis zu neuen Musicals wie "Six", das am Donnerstagabend Premiere haben sollte. Die Broadway League, die Produzenten und Theaterbesitzer vertritt, erklärte, die Schließung werde bis zum 12. April dauern.

Türsteher, Ticketverkäufer, Platzanweiser

Die Betroffenen reagieren geschockt. "Das ist verheerend", schriebt Regisseur Jeremy O. Harris auf Twitter, der mit seinem Skandal-Stück "Slave Play" einen großen Erfolg am Broadway gefeiert hat. Seine Gedanken seien bei seinen Freunden, den Autoren und Schauspielern. Aber auch bei alle denen, deren Existenzen vom Theaterbetrieb abhängig sind, den Türstehern, Ticketverkäufern und Platzanweisern. Die Theaterkritikerin Diep Tran schreibt in einem Tweet, dass ihr "das Herz bricht", wenn sie an all die Kunstschaffenden denkt, "die es sich nicht leisten können, keine Arbeit zu haben."

broadwaystreetsign 560 gemeinfreiEinbahnstraße? Auch am Broadway gehen die Lichter aus.

Der Broadway ist ein wichtiger New Yorker Industriezweig. In der vergangenen Saison hat er 14,8 Millionen Besucher angezogen und 1,8 Milliarden Dollar Umsatz gemacht hat. Im Gegensatz zu den subventionierten Theatern in Deutschland, sind die kommerziellen Broadway-Theater von ihren Ticketverkäufen abhängig. Besucherausfälle oder Schließungen können sie deshalb schnell in Schwierigkeiten bringen. Jan Newcomb, die Geschäftsführerin der "National Coalition for Arts' Preparedness and Emergency Response" erklärt der New York Times, dass für kommerzielle Theatermacher "ausgefallene Vorführungen, katastrophal sein können".

Einige Stücke werden Schließung nicht überleben

Nach ersten Schätzungen dürfte die Schließung für einen Verlust von 100 Millionen Dollar sorgen. Unklar ist, ob und wie die tausenden von Mitarbeitern finanziell unterstützt werden, die vom Broadway leben. Und welche Auswirkungen die Schließung auf die unzähligen Restaurants und Geschäfte im Umfeld des Broadways haben.

Die Stillegung trifft den Broadway zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Für die kommenden Wochen standen viele Premieren an. Es geht auf die Vergabe der Tony-Awards Anfang Juni zu, der wichtigsten Auszeichnung für Theater- und Musical-Produktionen am Broadway. Die Preise sind enorm wichtig für die Vermarktung von Produktionen. Einige Stücke werden die Schließung kaum überleben. Nach Medienberichten könnte die Entscheidung schon jetzt das Aus für "The Minutes" von Pulitzer-Preis-Gewinner Tracy Letts bedeuten, das am Wochenende Premiere feiern sollte.

Die Zahl der Corona-Infizierten in New York City ist bislang noch überschaubar (zum Zeitpunkt, als dieser Artikel verfasst wurde, waren es 95). Bisher hat es keinen bestätigten Corona-Todesfall gegeben. Das aber wird sich nach den Erfahrungen aus Europa sehr bald und sehr dramatisch ändern. Gouverneur Cuomo dürfte das mitbedacht haben.

Die Broadway-Verantwortlichen haben bis zum Schluss alles darangesetzt, den Spielbetrieb aufrecht zu erhalten. Die "Broadway League" hat noch in dieser Woche einen Leitfaden herausgegeben, wonach die Theater ihre Säle öfter reinigen, ihre Mitarbeiter und Besucher zum Händewaschen anregen und in den Theaterfoyers Desinfektionsmittel für die Gäste bereithalten sollen. Außerdem sollten die Zuschauer auf eine beliebte Tradition zu verzichten: Das Warten auf den Lieblingsdarsteller am Bühneneingang nach der Vorstellung; in der Hoffnung auf ein Selfie, eine Unterschrift oder sogar einen kleinen Plausch.

Von der Realität überholt

Scott Rudin, einer der erfolgreichsten Broadway-Produzenten, hat gar angekündigt, für seine Shows bis Ende März alle Eintrittskarten für nur 50 Dollar anzubieten. Das hätte für Erfolgs-Schlager wie "West-Side-Story", "The Book of Mormon" oder "To Kill a Mocking Bird" gegolten. Da kostet ein Sitzplatz oft über 200 Dollar. Theater sei vielleicht nicht "das Allheilmittel ist, auf das viele gerade warten", sagte er. Es sei aber eine gute Möglichkeit, sich mal ein wenig "von den Nachrichten abzulenken".

Photo Credit: Julieta CervantesErfolgsproduktion "To Kill a Mockingbird" © Julieta Cervantes

Das klingt schön. Und zynisch. Die zum Teil über 100 Jahre alten und schlecht belüfteten Broadway-Häuser mit ihren über 500 Sitzplätzen, den schmalen und engen Reihen werden häufig mit dem Binnenklima einer Petrischale verglichen, in der Biologen die seltsamsten Viren und Bakterien züchten können. Anders gesagt: Es sind genau die Orte, die in diesen Corona-Zeiten nach Ansicht von Fachleuten besser gemieden werden sollten. Tendenziell erkranken zudem eher ältere Menschen am Corona-Virus. Also genau die Altersgruppe, die besonders häufig Broadway-Produktionen besucht. Die Kern-Klientel sozusagen.

Noch am Donnerstagmorgen hat der Bürgermeister von New York City, Bill de Blasio, erklärt, er wolle nicht erleben müssen, dass am Broadway die Lichter ausgehen. Kurz danach überschlugen sich die Meldungen: Die Carnegie-Hall hat bis auf Weiteres alle weiteren Veranstaltungen abgesagt. Dann haben das Metropolitan Museum , die Metropolitan Opera und die New York Philharmonic angekündigt, ihre Pforten zu schließen. Vier der wichtigsten Kulturinstitutionen der Stadt. Die Realität hat De Blasios Wunschdenken schnell überholt.

Wie zuvor nur nach 9/11

Für zwei der größten Touristen-Magneten am Broadway waren die Kartenverkäufe bereits eingebrochen: Disneys Musical-Hits "Frozen" und "König der Löwen". Im Minskoff-Theatre, das "The Lion King" beherbergt, waren von den 1600 Plätzen in der vergangenen Woche nur 60 Prozent besetzt. Das kam bis jetzt erst einmal vor. Und zwar nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Danach wurden alle Broadway-Theater geschlossen. Aber nur für zwei Tage. Jetzt steht eine wochenlange Schließung bevor.

Noch nicht betroffen sind die kleineren Theater des New Yorker Off- und Off-Off-Broadway. Das Second Stage Theater hat am Donnerstag angekündigt, dass die Vorstellung für den Abend planmäßig stattfinden wird. Titel des Stücks ist: "We're gonna die".

 

VerenaHarzer 140Verena Harzer studierte in Berlin und Paris Theater-, Literatur- und Kunstwissenschaften. Als Dramaturgin war sie unter anderem für die Oper Dortmund, German Theater Abroad, posttheater, spreeagenten Berlin, die Internationalen Gluck Opern-Festspiele und writtenotwritten tätig. 2014 leitete sie den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens. Seit 2017 lebt sie in New York und arbeitet dort als Kulturjournalistin.


 

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