Das Festival "Under The Radar" sucht nach den Möglichkeiten des Theaters ohne Live-Publikum - Theaterbrief aus New York
Antwort mit Furchtlosigkeit und Herz
von Verena Harzer
New York, 29. Januar 2021. Der junge Mann mit dem grünen Hoodie weiß nicht, wie ihm geschieht: Plötzlich sieht auch er offenbar nur noch sich selbst auf dem Bildschirm. Gerade war er noch einer von etwa 70 Zuschauern, die sich, zeitweise sichtbar, als kleine Zoom-Quadrate in der oberen Leiste des Split-Screens das virtuelle Theaterstück "Disclaimer" des Brooklyner Theaterkollektivs Piehole angesehen haben. Ein Stück, in dem die US-iranische Autorin Tara Ahmadinejad US-amerikanische Vorurteile gegenüber muslimischen Kulturen hinterfragt.
"Ah, da ist ja Amir, mein Cousin", tönt eine Stimme aus dem Off. Es ist Nagir, die von Ahmadinejad verkörperte Hauptfigur in dem Stück. Und sie meint ganz offensichtlich ihn, den Mann mit dem grünen Hoodie.
Interaktion als Herausforderung: "Disclaimer"
Wie ihm ergeht es danach noch sechs oder sieben weiteren Zuschauern, die sich alle unversehens als irgendwelche Tanten, Onkel, Brüder oder Schwestern in dem Stück wiederfinden. Eine große iranische Familie. Aber etwas stimmt nicht. Nagir ist in ihrer gut ausgeleuchteten Küche ständig in Bewegung, kruschtelt Töpfe hervor, fuchtelt mit Petersilie herum, nimmt Telefonanrufe entgegen. Und dann sind da ihre angeblichen Familienmitglieder. Die allesamt im Dämmerlicht auf irgendwelchen Sofas oder Stühlen herumlungern und mehr erschrocken als inspiriert in die Kamera schauen. So sehr es sich die Macher vielleicht auch wünschen mögen, ein Mitglied von Nagirs Familie wird aus keinem von ihnen. Sie bleiben die Zoom-Zuschauer, die sie vorher schon waren.
Wäre dies eine normale Theateraufführung gewesen, gar kein Problem. Die Personen wären auf die Bühne gebeten worden, ihnen wäre ein Platz im Bühnenbild zugewiesen worden, sie wären automatisch zu einem Teil der Inszenierung geworden. Seit fast einem Jahr aber sind die Theater in New York geschlossen. Und werden wohl vor Herbst nicht wieder öffnen. Die Theatermacher kämpfen um ihr künstlerisches Überleben. Alle erprobten Mittel sind außer Kraft gesetzt sind. Jedes Stück wird zur Herausforderung, für Künstler und Zuschauer zugleich.
Festival der Experimente
"Disclaimer" erlebt seine Zoom-Weltpremiere im Rahmen des "Under The Radar" Festivals (UTR) in New York. Ein Festival, das sich mit Herausforderungen auskennt. Seit 17 Jahren werden hier experimentelle und grenzüberschreitende Theaterproduktionen aus den USA und aller Welt gezeigt. Ein Höhepunkt für alle New Yorker, die unter Theater nicht nur Well-made-Broadway-Produktionen verstehen. Einfach nur abgefilmte Theaterstücke erwartet von der ersten rein virtuellen Ausgabe des Festivals also keiner. Aber was dann?
Die Worte des Gründers und Festivalleiters Mark Russell in der Presseankündigung geben auf diese Frage keine wirkliche Antwort. Die Künstler des diesjährigen Festivals würden auf die Herausforderungen der Pandemie mit "Furchtlosigkeit und Herz" antworten, schreibt er. Sie hätten ein Festival entworfen, "das Präsenz einfordert", und das trotz allem die "schwer fassbare gemeinschaftliche Magie des Theaters" herbeizaubert. Ein gewagtes und vages Versprechen zugleich.
Die besonderen Rahmenbedingungen der diesjährigen Spezial-Ausgabe des UTR sind schnell erklärt: Zum ersten Mal sind alle Aufführungen umsonst, aber es müssen Tickets vorab reserviert werden. Von den acht präsentierten Arbeiten gibt es eine Auftragsarbeit des UTR ("Capsule") und vier weitere Weltpremieren. Keines der Stücke dauert länger als 60 Minuten. Für vier Aufführungen müssen die Zuschauer pünktlich vor ihrem Computerbildschirm oder am Telefon erscheinen. Zwei davon sind mit begrenzter Teilnehmerzahl und es gibt schon vor Festivalbeginn keine Karten mehr dafür. Die restlichen vier können on-demand zwei Wochen lang angesehen werden. Es gibt Feedbacktalks, ein Symposium und ein Panel. Alles via Zoom, dem Videokonferenzprogramm dieser Zeit.
Simulation der medialen Reizüberflutung: "Rich Kids"
Eine der Produktionen, für die die Zuschauer pünktlich erscheinen müssen, ist das des britisch-iranischen Autors und Künstlers Javaad Alipoor und der britischen Regisseurin, Autorin und Dramaturgin Kirsty Housley inszenierte Stück "Rich Kids: A History of Shopping Malls in Teheran". Alipoor und Housley experimentieren darin mit mehreren technischen Formaten: Per Video erzählen Alipoor und die Darstellerin Peyvand Sadeghian die reale Geschichte des iranischen rich kid Hossein, Urenkel eines Ayatollah, und die von Parivash, einem Mädchen aus der iranischen Mittelklasse. Beide sind 2015 in einem selbst verschuldeten Autounfall ums Leben gekommen. Auf einem Instagram-Feed können die Zuschauer sich gleichzeitig durch die passenden Bilder scrollen. Dazwischen werden sie immer wieder aufgefordert, auf Instagram-Live umzuschalten. Dort sprechen Alipoor und Sadeghian, durch Instagram-Filter verfremdet und mit verzerrter Stimme, Texte über das Anthropozän, das menschgemachte Zeitalter.
Das sechzigminütige Stück wechselt in rasantem Tempo zwischen diesen Ebenen und den unterschiedlichen Erzählsträngen hin und her. Die Zuschauer werden nonstop mit Input gefüttert. Gerade noch ging es um den Konflikt zwischen den iranischen Superreichen und der verarmten iranischen Mittelschicht, da gibt es schon den nächsten Exkurs zur Vaporwave-Bewegung, einem Retrotrend, der die Shopping Mall-Ästhetik der 90er Jahre feiert. Um den prähistorischen Fundort Göbekli Tepe geht es, dann gibt es einen kurzen Rückblick über die historischen Ereignisse im Iran, die zur islamischen Revolution führten.
Das kann als ein bewusst gesetztes ästhetisches Mittel wahrgenommen werden. Eine Simulation der medialen Reizüberflutung unserer immer stärker nur von Informationshäppchen und inszenierten Bildern geprägten Realitätswahrnehmung. Schade ist, dass dem so viele interessante Themen, Ansätze und Geschichten untergeordnet werden, die es alle verdient hätten, ausführlicher erzählt zu werden. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hier vielleicht doch weniger um ein ästhetisches Prinzip als einfach nur um nicht getroffene inhaltliche Entscheidungen handelt. Oder, dass 60 Minuten zwar das richtige Format für die Aufmerksamkeitsspanne eines Bildschirm-Publikums ist, aber für diese Inhaltswucht zu wenig Entfaltungsraum bietet.
Geschrumpfte Erlebniswelt in der Isolation: "Capsule"
Während die Macher von "Rich Kids: A History of Shopping Malls in Teheran" sich im Makrokosmos verrennen, schlagen die US-amerikanische Regisseurin Whitney White und ihr Landsmann, der Schauspieler Peter Mark Kendall, mit "Capsule" die entgegengesetzte Richtung ein. Inhaltlich und formal. Ihnen geht es um den Mikrokosmos, um ihre von der Pandemie klein geschrumpfte Erlebniswelt in der Isolation. Eine Collage aus von beiden Künstlern komponierten und musizierten Songs, Gesprächen, ausgetauschten Nachrichten und Gedankenfetzen. Zu sehen als fertig gedrehter 50-minütiger Film on-demand, ganz ohne Zuschauerbeteiligung oder technische Live-Experimenten.
Wie in einem Fiebertraum schleppen sich White und Kendall durch die Ereignisse, die die USA neben der Pandemie im vergangenen Jahr geprägt haben: die George-Floyd-Proteste, die verheerenden Waldbrände in Kalifornien, der Tod von Ruth Bader Ginsburg. Die Kamera fängt meist nur Ausschnitte der beiden ein, experimentiert mit Filtern und abrupten Schnitten. Alle Gedanken, Gespräche und Begegnungen werden nur angerissen und angedeutet, alles bleibt vage, fragil und offen. Als wollten die Künstler die Zuschauer auffordern, ihre Gedanken zu Ende zu denken und ihre Gespräche weiterzuführen. Trotzdem bleiben die beiden immer auf Distanz. Gerade weil alles nur in der Andeutung verbleibt, sind sie als Personen seltsam abwesend, ungreifbar. Das Format des hochprofessionell vorproduzierten Films trägt zu diesem Eindruck sicherlich bei. Zu häufig hat "Capsule" das Look-and-Feel eines vor allen Dingen auf ästhetische Effekte setzenden Musikvideos, um den Zuschauer wirklich in die Pandemie- Gefühlswelt von White und Kendall hineinzuziehen.
Bereitschaft, sich einzulassen: "A Thousand Ways (Part One)"
Die einzige Produktion im Rahmen des Festivals, die sich auf ein Format ohne Bildschirmnutzung eingelassen hat, ist "A Thousand Ways (Part One): A Phone Call" des New Yorker Theaterduos 600 Highwaymen. Wer diese Aufführung erleben will, muss zu einem abgemachten Zeitpunkt eine Telefonnummer anrufen. In der Leitung sind außer ihm noch eine elektronische Stimme und eine weitere Person. Beide werden von der elektronischen Stimme durch einen sehr persönlichen Fragenkatalog geführt, müssen von ihrer Kindheit, ihren Sehnsüchten und unangenehmen Erlebnissen erzählen, sich und ihre Umgebung beschreiben und meditative Übungen durchführen. Und am Ende der Person am anderen Ende der Leitung erzählen, was von ihr in Erinnerung bleiben wird. Ein Stück, das ganz auf die Bereitschaft der Zuschauer baut, sich einzulassen. Das Versprechen der Präsenz geht hier voll auf. Und tatsächlich ist es auch das Stück, das am meisten nachhallt.
Mark Russell, der Direktor des UTR, stellte in einem Video-Chat die Frage, was Theater ausmache: "Kann eine Ausstellung ein Theaterstück sein? Muss eine Geschichte ein Teil davon sein?" Eines haben die diesjährig präsentierten Produktionen des UTR auf jeden Fall alle gemeinsam: Sie haben sich auf den mühsamen Prozess eingelassen, nach den Möglichkeiten des Theaters ohne Live-Publikum zu suchen. Vielleicht macht allein das sie zu richtig gutem Theater.
Verena Harzer studierte in Berlin und Paris Theater-, Literatur- und Kunstwissenschaften. Als Dramaturgin war sie unter anderem für die Oper Dortmund, German Theater Abroad, posttheater, spreeagenten Berlin, die Internationalen Gluck Opern-Festspiele und writtenotwritten tätig. 2014 leitete sie den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens. Seit 2017 lebt sie in New York und arbeitet dort als Kulturjournalistin.
In ihrem letzten Theaterbrief aus New York berichtete Verena Harzer über die Theaterszene zwischen Coronastillstand und der Wucht der #BlackLivesMatter-Proteste.
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