Ein Ort, an dem die Sehnsucht ruht

15. August 2023. Geschichte(n) zum Leben zu erwecken ist das Anliegen der Freien Gruppe Das Letzte Kleinod. In Bremerhaven bespielt sie erneut den Columbuskai, von dem aus bis in die 60er Jahre die Linienschiffe nach New York starteten. Und beschwört den Geist der mit Hoffnungen aufgeladenen Vergangenheit herauf.

Von Andreas Schnell

"No Finer Way" von Das Letzte Kleinod © Jens Erwin Siemssen

15. August 2023. Kurz vor Ende von "No Finer Way" fährt die SS "United States" in New York ein, vorbei an der Freiheitsstatue – in Form einer immerhin prächtig illuminierten Klappleiter, die unten am Kai über die Spielfläche gezogen wird. Ein schöner kleiner Witz, der das Pathos der Szene bricht. Und die Grandezza der Szenerie: auf der anderen Seite der nachtschwarzen Wesermündung glitzern die Lichter von Nordenham, das zumindest im Dunkeln aus der Ferne recht romantisch aussieht. Jens Erwin Siemssen, der "No Finer Way" im Bremerhavener Columbusbahnhof in Szene gesetzt hat, scheint den großen Bilder ein wenig zu misstrauen, die er in dem Gewirr aus Gängen, Sälen und Treppenhäusern des ausgedienten Schifffahrtsterminals eingerichtet hat.

Das ist durchaus Teil der Genetik seines Theaters, des Letzten Kleinods, das, mit minimalistischen Mitteln und aus Interviews mit Zeitzeugen montiert, Geschichte zum Leben erweckt, oft an verlassenen Orten, in alten Eisenbahnwaggons oder verlassenen Flüchtlingsheime. Früher gab es nur eine einzige Requisite, eine Handvoll Schauspieler – diesmal ist alles größer.

Abgesang auf einen Sehnsuchtsort

Ein Abgesang sollte "No Finer Way" werden: auf einen Ort, an dem sich jahrzehntelang Sehnsüchte bündelten. Den Wunsch nach einem besseren Leben in der Ferne, nach einem Hauch der weiten Welt, nach Glanz und Glamour, aber auch ganz schlicht nach einem Einkommen. Der Columbusbahnhof in Bremerhaven, 1928 in Betrieb genommen, 1944 durch Bomben zerstört, nach dem Krieg wieder aufgebaut und bis in die 60er Jahre hinein Dreh- und Angelpunkt des Linienschiffverkehrs nach New York, ist heute verlassen. Mit "No Finer Way" kommt die Trilogie zu Bremerhavens Amerikaschifffahrt am Columbuskai nun zum Abschluss.

NoFinerWay 1 JensSiemssen uRuft zur großen Reise: Richald Gonlag © Jens Erwin Siemssen

Ging es in "Passenger Processing" 2021 um die Arbeit hinter den Kulissen und in "Amerikalinie" 2022 um die Schicksale der Auswandernden, erzählt "No Finer Way" von den Menschen, die an Bord der SS "United States" zwischen 1953 und 1969 die Passage über den Atlantik machten – in Rekordzeit übrigens: Die "United States" ist bis heute Trägerin des Blauen Bandes als schnellster Dampfer auf der Route über den Atlantik. Fliegen konnte man damals zwar auch schon, aber erschwinglich wurde das erst in den 70er Jahren. Und es gab "no finer way", keinen schöneren Weg über den Atlantik, wie ein Song immer wieder versichert.

Klassengesellschaft auf hoher See

Die Räume des Columbusbahnhofs sind auch ganz ohne die Geschichten, die Siemssen und sein von einer Laienschar assistiertes sechsköpfiges Ensemble auf Deutsch und Englisch erzählen, eine Schau mit ihrem vergilbten Charme, den alten Schildern und Möbeln. Eine stringente Handlung braucht es da gar nicht. Es sind eher Facetten, Episoden, die den Geist der Vergangenheit und des Orts heraufbeschwören. Das Aufsehen, das die "United States" erregte, wenn sie anlegte. Das Dröhnen des Schiffshorns ("da stand ganz Bremerhaven stramm"). Der Gang der Passagiere an Bord, das Unterhaltungsprogramm in den Ballsälen und Kinos des Schiffs, Seekrankheit und Ankunft.

NoFinerWay 3 JensSiemssen uUnter Deck: Wren Mack und Margarita Wiesner © Jens Erwin Siemssen

Aber auch die Klassengesellschaft, die sich an Bord abbildete, die billigen Kabinen ganz unten im Schiff, die Luxuskabinen weiter oben. Der Anblick des Meeres und der Schiffe ("In Böblingen gab es kaum Wasser"), die Begegnungen mit Promis wie Salvador Dali, Rita Hayworth, Cary Grant und Judy Garland an Bord – all das sind Mosaiksteinchen des Abends. Das Publikum, aufgeteilt in zwei Gruppen, wird dabei immer tiefer hineingeführt in das Gebäude, darf sich über raffinierte Ausleuchtung und Projektionen freuen, über eine kleine Bigband und Gesang, über Eishäppchen und eine Cola.

Kein Konflikt in Sicht

Was allerdings fast völlig fehlt, ist das, was eigentlich dramatische Szenen ausmacht: Konflikte. Immerhin wird eine der Figuren des Schwimmbads verwiesen, das das Ensemble mit einem einzigen langen Tau vor unseren Augen in beeindruckender Präzision erstehen lässt: Der Pool ist nämlich der ersten Klasse vorbehalten. "Da wurde ich ermahnt." Eine von wenigen Andeutungen dessen, was die Klassengesellschaft im echten Leben an Konflikten parat hält.

Der eigentliche Star des Abends ist aber ohnehin der Columbusbahnhof, dessen Zukunft ungewiss ist. In der lokalen Presse wurde berichtet, er werde nach dem theatralen Tribut abgerissen. Bei der Premierenfeier gerüchtete es allerdings, das letzte Wort sei noch nicht gesprochen. Ein Konflikt, der vielleicht irgendwann einmal Thema beim Letzten Kleinod sein könnte.

 

No Finer Way
von Das Letzte Kleinod
Buch und Regie: Jens Erwin Siemssen, Musikalische Leitung: Jan-Hendrik Ehlers, Kostüme: Miriam Ebbing, Projektionen: Florian Eybe.
Mit: Gonny Gakeer, Daria Gabriel, Richald Gonlag, Wren Mack, Diederik Rep, Margarita Wiesner, lokale Mitwirkende.
Uraufführung am 15. August 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.das-letzte-kleinod.de


Kritikenrundschau

"Umgebung, Kostüme und Ausstattung lassen die mehr als 130 Besucher der ausverkauften Premiere tief in die Ära der Überfahrten der 'United States' eintauchen, die Zuschauer werden zu Reisenden in eine andere Zeit", schreibt Dieter Sell angetan vom Aufwand und Effektreichtum der Inszenierung in der Kreiszeitung Syke (17.8.2023).

Begeistert berichtet Anne Stürzer in der Nordseezeitung (17.8.2023) vom Erlebnis auf dem Passagierdampfer: "Die Zeitreisenden sind tief beeindruckt, kehren am Ende doch ein bisschen rührselig ein in die Kneipe vor Ort. Und sind sich einig: Das ist großes Theater. Also hingehen, ehe es zu spät ist."

Über die Dauer der Vorstellung "verliert die Stationenfolge des Stücks ein wenig an Kohärenz", schreibt Jens Fischer ist der taz (22.8.2023). "Endlos dauert es, bis alle 135 posierenden Zuschauer:innen vom Bordfotografen abgelichtet sind. Für einige ein netter Mitmachmoment, inhaltlich aber ebenfalls eher mau der Versuch, das Publikum mit kostenlosem Cola-Ausschank im Ballsaal zum jazzigen Schwofen zu animieren. Ein reiner Spaßmoment, seekrankes Kotzen auszustellen.“ Reizvoll sei dagegen die Vorführung von Archiv-Filmen. "Beeindruckend. Aber die Texte ermöglichen leider keinen groß erweiternden Blick auf die Vergangenheit, sind eher impressionistisch denn zu einem Diskurs verdichtet. Im Mittelpunkt steht die bildmächtige Feier des einstigen Dampfer-Charme – zu erleben als ironisch melancholisches Erinnerungstheater."

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